Millennium 1/2004. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. Herausgegeben von W. Brandes, A. Demandt, H. Leppin, H. Krasser und P. von Möllendorff. Berlin - New York. Walter de Gruyter 2004. 441 S. 37 Abb. ? 49, 50

Epochenübergreifend, transdisziplinär und international ausgerichtet sollen die neuen Bände angelegt sein, die sich in Millennium-Jahrbücher und Millennium-Studien aufgliedern, zugleich ist „eine Verbindung von primär theorieorientierter und primär empirischer Forschung“ angestrebt (wohl zunächst nur ein Postulat). Wenn es im Vorwort weiter heißt, dass das gemeinsame Merkmal lediglich im Willen zur Grenzüberschreitung in thematischer und chronologischer Hinsicht bestehe (also bis zum Ende des oströmischen Reiches), so ist freilich die Gefahr nicht ausgeschlossen, dass die zugestandene Methodenvielfalt auch zur beliebigen Themenvielfalt wird, was bereits bei diesem ersten Band auffällt. Man hat dies wohl selbst bemerkt und versucht dadurch gegenzusteuern, dass man bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Aufsätzen „thematische Cluster“ zu erkennen glaubt, die freilich noch keine übergreifende Thematik ersetzen. Zu begrüßen ist allerdings, dass die Herausgeber im Vorwort (Editorial), das in englischer Sprache wiederholt wird, für eilige Leser jeweils einen kurzen Einblick in die einzelnen Aufsätze bieten, wohin man gerne zurückblättert, wenn sich mancher Autor in allzu speziellen Ausführungen ergeht.

Den Anfang macht die antike Literaturwissenschaft mit zwei Beiträgen aus der Zweiten Sophistik, zuerst P. von Möllendorff: „Zur ästhetischen Konstruktion von Paideia in Lukians "Bilder"-Dialogen“ (gemeint sind Imagines und Pro imaginibus). Es handelt sich speziell um den Panegyricus von Lykinos und seinem Freund Polystratos auf Panthea, die Geliebte des Kaisers Verus, eine Frau von unvergleichlicher Schönheit, die der Verf. durch die Angleichung an die schönsten Teile der Aphrodite-Skulpturen von Phidias, Alkamenes, Praxiteles und Kalamis sowie an die Farben der klassischen Maler Euphranor, Polygnot und Apelles in ihrer Einmaligkeit hervorzuheben sucht. Da diese Schilderung durch eine ganze Reihe von Rückgriffen auf literarische Vorlagen und Anspielungen, beginnend mit Homer über Xenophons Kyrupädie und weiter mit der Pandora-, Niobe- und Medusasage u. ä. verbunden wird – die Rede ist von „puzzling beauty“ und „intertextueller Stratifizierung“ –, lässt sich die gesamte Passage sehr wohl als adäquates Enkomion auf die literarische Bildung der Zuhörer bzw. der Leser in dieser Zeit verstehen, so dass vom Verf. eine solche Darstellung in den genannten Lukianschriften geradezu als „ein Bild von der kaiserzeitlichen Paideia als eines Diskurses im Foucaultschen Sinn des Wortes“ verstanden wird, das Lukian hier habe zeichnen wollen. Natürlich wird damit ein Gegenbild entworfen zu einer angeblich nur noch im übersteigerten Virtuosentum der damaligen Konzertredner zutagetretenden literarischen Bildung. Eine wesentlich bescheidenere Diktion wählt die Archäologin B. E. Borg mit ihrer Studie „Bilder zum Hören – Bilder zum Sehen: Lukians Ekphraseis und die Rekonstruktion antiker Kunstwerke“. Sie macht bei der Auswahl der zwar an detaillierten Angaben sehr reichen, aber doch literarisch stark ausgeschmückten Vorstellung eines Gemäldes des Malers Apelles über die Diabole (entstanden angeblich am Ptolemäerhof in Alexandria um 220, was zeitlich gar nicht stimmen kann) ebenfalls unter Hinzuziehung zahlreicher Parallelen aus der Vasenmalerei und weiteren literarischen Beschreibungen (z. B. des Kuros von Lysipp oder des Herakles-Ogmios, beschrieben gleichfalls von Lukian nach einem angeblich südgallischen Gemälde) zu Recht darauf aufmerksam, dass bei der Rekonstruktion von Bildern aufgrund derartiger Ekphraseis größte Vorsicht geboten sei. Man habe zwar gelegentlich echte Kunstwerke als Ausgangspunkt genommen, jedoch in einem raffinierten Spiel mit Sehen und Gesehenwerden und der Macht rhetorischer enargeia die Zuhörer zu Zuschauern gemacht. Eine gewisse Genugtuung von archäologischer Seite verrät der letzte Satz, dass trotzdem die beeindruckendsten Wortkunstwerke ein impliziter Hinweis auf die Macht des Visuellen seien.

Auf großes Interesse dürften die folgenden Beiträge über die Religion stoßen, wo zunächst H. Leppin unter dem Stichwort „Wandel des spätantiken Heidentums“, ausgehend von heute so nachdrücklich vertretenen anthropologischen Modellen und somit einen konstruktivistischen Ansatz verfolgend über Vielfalt, Wandelbarkeit und Neuformierung, in mehreren Etappen eine auffällige Ausrichtung des Heidentums nach dem Fremdbild, also dem Christentum, nachzuzeichnen versucht. Freilich sollte man die von den Christen von Anfang an notwendigerweise klar gezogene Trennung von der gewiß großen Vielfalt aller anderen Religionen und Kultformen stets im Auge behalten, ferner wäre nach einer echten Religiosität, d. h. emotionaler Bindung an eine höhere Macht, zu fragen, etwa bei den Vertretern einer hellenischen Bildungsreligion wie etwa Themistius, Jamblich oder Proklos (letztere mit starker Neigung zu theurgischen Praktiken), vornehmlich natürlich bei den in erster Linie um den Erhalt ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Privilegien besorgten Vertretern der stadtrömischen Oberschicht, z. B. bei Symmachus, Praetextatus und Nicomachus Flavianus, welche auf ihre traditionell mit den Priesterämtern verbundenen Vorteile nicht verzichten wollten. Bei den sog. semichristiani bzw. semipagani, welche in einer gewissen Grauzone lebten, wird man hierzu, von persönlichen Vorteilen abgesehen, noch viel weniger eine befriedigende Antwort erhalten. Forscht man tiefer und stellt die Frage nach den Gründen für den relativ raschen Sieg der christlichen Religion, so bieten sich über den ohne Zweifel feststellbaren äußeren Wandel heidnischer Kultformen und die Unterstützung durch die Gesetzgebung christlicher Kaiser (die sich jahrzehntelang wiederholte!) etwa folgende Punkte an: Ein durch eine konkrete Erlösergestalt (mit der man sich identifizieren konnte) beglaubigtes Heilsversprechen, ein bis dahin nicht gekanntes, mit der Religion unmittelbar verbundenes karitatives Wirken, beeindruckende Führergestalten wie etwa die Kappadokier Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, welche die Übernahme des griechischen Bildungserbes wesentlich glaubhafter verkörperten als etwa Julian mit seinen für die meisten Leser unverständlichen philosophisch-theologischen Traktaten über den König Helios oder die Göttermutter, und schließlich eine für vertretbar gehaltene Adaptierung bzw. Hinnahme gewisser heidnischer Gewohnheiten etwa beim Gräber- oder Heiligenkult (früher Märtyrerkult) durch verständnisvolle Bischöfe. Nach einem ebenfalls umfangreichen Beitrag von G. Marasco „La magia e la guerra“, wo gerade diese Aktivitäten der Bischöfe und Mönche mit einer Instrumentalisierung von übernatürlichen Phänomenen und Wundertaten heiliger Männer zur Beruhigung der erregten Menschen bei drohender Kriegsgefahr nachgezeichnet werden (bis weit in die byzantinische Zeit hinein), schildert M. Meier in seiner Untersuchung „Zum Konzept des "Heiligen" (sacrum) in spätjustinianischer Zeit“ (im Anschluß an sein kürzlich erschienenes Werk über Justinian, Göttingen 2003; Rez. Karl Leo Noethlichs, Plekos 5, 2003), ebenfalls in mehreren zeitlich aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen vom 6. bis ins 11. Jh., die unter dem Eindruck zahlreicher Katastrophen sich vollziehende zunehmende Liturgisierung des gesamten staatlichen und geistig-geistlichen Lebens. Diese werde sichtbar etwa im zunehmenden Heiligen- und Marienkult, bei Prozessionen und aufwendigen Gottesdiensten, in der Zurückdrängung der Profangeschichte durch die Kirchengeschichte, der Dominanz des kirchlichen Rechts und schließlich in der Enttabuisierung der Heiligen Männer (als Individuen) zugunsten einer Ausweitung des Heiligen schlechthin, so dass im Ganzen aus einem christlichen Römerreich ein römisches Christenreich entstanden sei mit allen bekannten Erscheinungsformen, wie man sie aus Byzanz seitdem kennt. Wichtig allerdings noch einmal der abschließende Satz, dass letztlich äußere Gründe dafür ausschlaggebend waren: Man sei mit diesem allumfassenden Sakralisierungs- und Transzendierungsprozeß bestrebt gewesen, in einer Phase äußerer Krisen innere Stabilität, Schutz nach außen sowie Struktur und Ordnung wiederzugewinnen. Gab es nicht ähnliche Ansätze auch in Deutschland nach dem Katastrophenjahr 1945?

Beeindruckend ist das gewaltige, auf vier umfassende Bände angelegte Forschungsprojekt zur Augustinus-Rezeption „After Augustine“, das die Philologen K. Pollmann und D. Lambert vorstellen. Es soll vom Tode des Heiligen 430 bis in das Jahr 2000 reichen (s. Clavis Augustiniana I–IV; noch im Aufbau), eine größere Zahl von Disziplinen umfassen und nicht nur auf die westliche Welt beschränkt sein (Publikationsform in zwei Versionen: A = Druckfassung, B = strukturierte Webseite.). Nach einer Übersicht über Hintergrund, Ziele, Bedeutung und Methode werden in einem kurzen Überblick über die Rezeption der Augustinus-Schriften in Gallien von 427 bis 529 zahlreiche pro- und antiaugustinische Stimmen (speziell über die pelagianische Frage) gewissermaßen als Muster für weitere Bearbeitungen vorgestellt. Im Anschluß daran beschäftigt sich B. Bleckmann mit „Konstantin in der Kirchengeschichte Philostorgs“ und gelangt aufgrund einer eingehenden Analyse mehrerer Themenkomplexe (Vita Constantini Eusebs als Gerüst, Flucht des jungen Konstantin zu seinem Vater, profangeschichtliche Details zum Labarum, Verantwortung in den Bürgerkriegen von 316 u. 324, Gründung von Konstantinopel und Helenopolis, K. und der Arianerstreit, dynastische Morde nach dem Tod des Kaisers) zu dem Ergebnis, dass sich aus den verschiedenen Teilen, aus denen sich dieses Werk zusammensetzt, eine durchgehend positive, d. h. konstantinfreundliche Schilderung eruieren lasse, die einmal zeige, dass sich der Autor damit gegen die Angriffe aus dem intellektuellen heidnischen Milieu Konstantinopels (bes. Zosimus) zur Wehr setzen wollte, aber auch das Ziel verfolgte, den Idealkaiser für die eigene Glaubensrichtung des Heteroousion zu instrumentalisieren.

Mit den folgenden Beiträgen gelangt man in das byzantinische Mittelalter, wodurch die von den Herausgebern bewusst anvisierte Überwindung der starren Epochengrenzen dokumentiert wird. A. Berger findet in „Georgios Kedrenos, Konstantinos von Rhodos und die Sieben Weltwunder“ heraus, dass das in der Chronik des ersteren enthaltene kurze Gedicht (verfasst um 1100), in dem auch der Tempel von Kyzikos, das Theater von Myra in Lykien und der Hain des Rufinus in Pergamon aufgrund einer darauf bezüglichen Inschrift auf der Chalkis, dem monumentalen Haupttor zum Kaiserpalast in Konstantinopel, einbezogen werden, nach der Vorlage eines Dossiers des Konstantinos von Rhodos (um 900), aber auch aus Angaben älterer Quellen verfasst wurde. Th. Pratsch liefert biographische Präzisierungen über „Alexandros, Metropolites von Nikaia und Professor für Rhetorik (10. Jh.)“, welcher trotz des Verlustes seines Bischofssitzes (wegen einer unkanonischen Verteilung von Kirchenbesitz) es noch zu einer angesehenen Stellung in der Hauptstadt brachte. Nicht recht verständlich ist es, warum A. Coskuns ausführliche Arbeit über „Die Praefecti praesent(al)es und die Regionalisierung der Praetorianerpraefecturen im vierten Jahrhundert“ (mit einer tabellarischen Übersicht über die Zeit von 336 bis 363) an diese Stelle gesetzt wurde, da das Thema wieder in die Spätantike zurückführt. Es geht dabei um den Nachweis bes. anhand der einst schon von J.-R. Palanque u. a. festgestellten Regionalisierung dieses Amtes, das stets in der Umgebung der Kaiser angesiedelt war, daß in der Zeit Konstantins und auch noch später mit flexiblen und dynamischen Verhältnissen zu rechnen ist, die erst unter Theodosius und seinen Nachfolgern eine Verfestigung erfuhren. Energischen Einspruch gegen die noch immer vorherrschende Forschungsmeinung, dass Sardinien bis zur Ankunft der Genuesen und Pisaner im 11. Jh. eine arme, abgeschottete und rückständige Insel gewesen sei, erhebt S. Consentino in „Byzantine Sardinia between West and East. Features of a Regional Culture“, da eine sorgfältige Auswertung der literarischen, epigraphischen und numismatischen Zeugnisse klar ergebe, dass auch in dieser Zeit enge Verbindungen zu anderen Regionen des Mittelmeerraums, in erster Linie natürlich zu Konstantinopel, bestanden hätten und auch die islamische Expansion vorübergehend die Insel erreicht habe. Am Ende wird ein aufschlußreicher Vergleich mit einer ähnlichen Situation Kretas in dieser Zeit gezogen. Mit großem Interesse liest man die beiden letzten Beiträge von archäologischer Seite, vor allem die Ausführungen von N. Asutay-Effenberger u. A. Effenberger über „Die "columna virginea" und ihre Wiederverwendung in der Süleymaniye Camii“, wo das Schicksal dieser in der genannten Moschee als Spolie wiederverwendeten Säule zurückverfolgt wird bis zu ihrer Errichtung in der Nähe der Apostelkirche (nach einer Angabe in der Stadtbeschreibung des Franzosen Petrus Gyllius, um 1550) wahrscheinlich unter Kaiser Justin II. (um 570), als sie zusammen mit einem Standbild dieses Kaisers auch eines von dessen Gemahlin Sophia trug, und ihrer Wiederverwendung durch Michael VIII. Palaeologos (um 1280), als sie neben diesem Kaiser noch mit einer Statue des Erzengels Michael geschmückt wurde. Ebenso informativ sind die Auskünfte von F. A. Bauer und H. A. Klein über „Forschungsgeschichte, Restaurierungen und neue Ergebnisse“ zur Hagia Sophia in Vize, dem antiken Bezye, das auf halbem Wege zwischen Istanbul und Edirne liegt. Dabei erfährt man, dass die lange Zeit völlig vernachlässigte dreischiffige Kirche, eine Mischform aus basilikalem Längsbau und Kreuzkuppelkirche mit einem vorgelagerten Narthex, Grablege und Resten von Fresken (wohl schon aus dem 8./9. Jh.) in den vergangenen Jahrzehnten durch unsachgemäße einheimische Restaurierungsversuche noch mehr Schäden erlitten hat, als sie ohnehin schon aufwies. Man kann nur hoffen, dass dem neuen Kooperationsprojekt zwischen dem Deutschen Archäologischen Institut in Istanbul und der Columbia University in New York neben der weiteren Erforschung vor allem die endgültige Sicherung dieses kostbaren Bauwerkes gelingen wird. Die beigefügten Bilder vermitteln jedenfalls einen bedrückenden Eindruck.

Insgesamt wünscht man sich eine zügige Fortsetzung dieses in jeder Weise begrüßenswerten Millennium-Unternehmens, wenn auch die Ausrichtung der einzelnen Beiträge unter eine einheitliche Thematik ein großer Vorteil wäre. Deren Qualität haben aber auch ohne eine solche bereits in diesem Band ein durchweg hohes Niveau erreicht.

Richard Klein, Wendelstein
RiKle@gmx.net


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