Mischa Meier: Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003 (Hypomnemata Bd. 147). 739 S. Euro 112,--. ISBN 3-525-25246-3
Am Ende seiner umfangreichen
Habilitationsschrift, die von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie
der Universität Bielefeld im Sommersemester 2002 angenommen wurde, druckt Mischa M(eier)
eine tabellarische Liste mit 113 Katastrophen im oströmischen Reich zwischen
500 und 565 n.Chr. ab. Unter dem Jahr 536/37 findet sich folgender Eintrag: Sonne
und Mond verfinstern sich monatelang nach einem (unbekannten) Vulkanausbruch oder einem
Asteroiden- bzw. Kometeneinschlag, der auch Auswirkungen auf Klima und Ernte hat
. Für die Jahre 541/42 werden eine Flutwelle an der thrakisch-pontischen
Küste, eine in Ägypten entstehende und sich nach Konstantinopel ausbreitende Pestwelle,
ein schweres Erdbeben in Konstantinopel und in der Folge eine Hungersnot notiert (S.
663f).
Diese Ereignisse bilden
den zentralen Ausgangspunkt für M.s Thema, nämlich die Wechselwirkung zwischen
Naturereignissen und der Reaktion und Verarbeitung durch die Menschen Mitte des 6. Jh.
n.Chr. zu untersuchen. M. nennt diese Abhängigkeit von Naturereignissen nach der Vorgabe
von R. Bubner / K. Cramer / R. Wiehl (Göttingen 1985, darin bes. A. Heuss 14-34)
Kontingenz.
Der zeitliche Ansatz
von 536/42 lässt sich offenbar naturwissenschaftlich untermauern. Am 15. Mai 2003
strahlte das ZDF in der Reihe Discovery - Die Welt entdecken eine Folge mit
dem Titel Krakatau - Protokoll einer Katastrophe aus. Darin wurden die
Forschungsergebnisse eines gewissen Herrn Baillie vorgestellt, der eine weltweite
Klimaveränderung Mitte des 6. Jh. festgestellt hat. Laut dendrochronologischem Befund lag
der Schwerpunkt im Jahr 542, das anscheinend für alle Bäume auf der ganzen Welt von
Amerika und Europa bis China eine harte Zeit war. Ausgelöst wurde die Erkaltung des
Klimas durch den zwischen Sumatra und Java gelegenen Krakatau. Der als
unbekannt bezeichnete Vulkanausbruch in der o.g. Liste wäre demnach der in
das Jahr 535 zu setzende Ausbruch des Krakatau mit seinen späteren Auswirkungen nicht nur
auf Hinterindien und Europa, sondern auch z.B. auf die Azteken.
M., der seine
Ergebnisse am 4.5. 2003 ebenfalls im Fernsehen (SAT-1) vorgestellt hat, scheint die
Forschungen Baillies nicht zu kennen; sie stellen aber eine hervorragende
naturwissenschaftliche Ergänzung des Umfeldes Mitte des 6. Jh. dar.
M. geht sein Thema sehr
breit an. Die von ihm beobachteten Krisensymptome ordnet er in die christliche und
heidnische Tradition von Zeitalterberechnungen ein. Damit wird Religiosität
eine fundamentale Voraussetzung seiner Erklärungsansätze. Christlicherseits spielen
chiliastische Vorstellungen, also der 1000-Jahre-Rhythmus in Kombination mit der
Schöpfungswoche von sechs Tagen eine Rolle (vgl. Ps 90 [89],4), wonach die Welt 6000
Jahre bestehen würde. Ferner wurde Rom in die Prophezeiung des Daniel eingebunden
(Hippolyt), und das Weltende etwa um 500 n.Chr. vorhergesagt, was eine Stütze im Namen
des damals regierenden Kaisers Anastasius (der Auferstandene) zu
finden schien. Die Welt ging bekanntlich nicht unter, aber, so fragt M., wie und mit
welchen Mitteln bewältigte man dies angesichts der Schwere der Unglücke, die seit ca.
540 das römische Reich heimsuchten und die sich seiner Meinung nach qualitativ von den
vorigen unterschieden? So hat die Arbeit einen umweltpolitischen Ansatz, der durchaus
im Trend der heutigen Zeit liegt, hat aber darüber hinaus durch die Frage
nach den Techniken der Bewältigung einen mentalitätsgeschichtlichen Aspekt (vgl. dazu
35f. Anm. 35 und 38-40) und geht insofern einen originellen Weg.
Ein erster Hauptteil
(45-100) behandelt die Grundvoraussetzungen der Fragestellung, die zerbrochenen
Weltbilder des 6. Jh., aus heidnischer (Zosimos, Damaskios) und christlicher Sicht
(Orakel von Baalbeck, Josua Stylites, Romanos Melodos, Johannes Lydos, Kosmas
Indikopleustes, Prokop und Agasthias). Es folgt ein ausführlicher Abriss der Politik
Justinians (101-341). Diese wird in zwei Phasen mit einer Zwischenphase gegliedert: die
erste von 527 bis 540, die laeta saecula, in
denen sich die Vorstellung eines neuen und glücklichen Zeitalters entwickelt. Inhaltlich lässt sich das an der Niederwerfung der
Samaritaner 529/30, am Nika-Aufstand (dazu auch M., ZPE 142, 2003, 273-300, der ihn für
inszeniert hält), der Niederwerfung der Vandalen und der Veröffentlichung des später
sog. Corpus Iuris Civilis festmachen. Nach einer Übergangsphase 540-542, von
M. erst am Schluss des Kapitels behandelt (307-341), geprägt schlagwortartig durch eine
Katastrophe 540 im Gotenkrieg (Einnahme von Ravenna) und Entfremdung von Belisar, durch
einen Bulgaren- und Persereinfall im gleichen Jahr, bei dem das wenige Jahre zuvor in
Theoupolis umbenannte Antiochia erobert wird, durch den Ausbruch der Pest 541/42, an der
auch der Kaiser erkrankte, aber wieder gesundete (mit den unterschiedlichen Deutungen
seitens der Zeitgenossen), sowie durch ein Erdbeben 542. Das bewirkt einen Rückzug
in die Theologie bei Justinian bis zum Ende seines Lebens. In dieser Phase zeigen
sich deutliche Unterschiede zur früheren: Friede mit Persien, auch gegen Zahlungen,
gemäßigte Religionspolitik gegen Heiden und Samaritaner, konsequente Religionspolitik
bei Christen, Rücknahme bestimmter Verwaltungsneuordnungen, Verschwinden von
Geschichte aus den Gesetzen u.ä. Das Zeitalter Justinians
verlöscht zusehens.
Diesem mehr aus der
politischen Sicht geschriebenen Teil folgt ein Kapitel über den Umgang mit den
Katastrophen seitens der Bevölkerung (342-426), vom Kometen des Jahres 520
bis zur Massenhysterie in Amida 560. Historiker wie Prokop und Malalas sehen
mit Justinian ein Zeitalter der Angst anbrechen, für das es freilich keinen
Einschnitt gibt, wie ihn M. für die Politik Justinians sieht. Insgesamt lässt sich ein
Versagen der kaiserlichen Schutzfunktion in den Augen der Bevölkerung feststellen, die
sich deshalb mehr religiösen Leitbildern zuwendet.
Das folgende Kapitel,
Synthese betitelt (427-641), widmet sich nun konkret den neuen Formen der
Krisenbewältigung, sowohl seitens des Volkes als auch seitens des Kaisers. Zunächst
werden Fragen einer neuen Chronologie und die Neukonzeption eschatologischer Modelle
behandelt (Malalas, Hesychios von Milet, Eustathios von Epiphaneia, Bardaisan, Aphraat,
Ephraem, Jakob von Sarug). Insbesondere bei Dionysius Exiguus stellt sich die Frage, warum
er eine neue Zeitrechnung schuf. Ausgangspunkt war sicher die über 300 Jahre alte
Diskussion über die Berechnung des Ostertermins, aber es ging wohl auch um die Verbindung
des Ostertermins mit der gesamten Weltzeit, so wie es der Beamte Iron bzw. Irion errechnet
hatte, dessen Tafeln von Justinian angeblich gesetzlich sanktioniert worden sein sollen
(466f.). M. formuliert hier sehr zu Recht zurückhaltend, aber seine Überlegungen haben
durchaus eine gewisse Plausibilität. Mit der Novelle 47 vom Jahre 537 schafft Justinian
selbst die gesetzliche Grundlage für sein neues Zeitalter, bei dem die römische
Geschichte ohne christliche Kaiser eingeteilt wird. Der exakten Datierung innerhalb einer
Indiktion steht das Problem gegenüber, nicht zu wissen, in welcher Indiktion man sich
eigentlich befindet. M. vermutet, dass solcherart freischwebende Zeit ein Zeichen für die
Abwendung von Fixdaten sein könnte. Es sei aber bezweifelt, ob Novelle 47 diese
weitgehende Bedeutung hatte, die ihr von M. zugeschrieben wird. Den eschatologischen
Aspekten tragen die jetzt vermehrt auftauchenden Kommentare zur Johannes-Apokalypse
Rechnung. Die religiösen Ausdrucksformen wandeln sich zur Volksfrömmigkeit,
d.h. eine das gesamte Volk umfassende Frömmigkeit, einem
System der Deutung und Bewältigung alltäglicher Beschwerden (484).
Ausdruck dessen sind z.B. vermehrt Prozessionen, die die Polis wieder zu einer
Kultgemeinschaft vorchristlicher Zeit machen, sie dabei aber auch dem Reich
entfremden. Ferner nimmt die Marienverehrung zu, damit zusammenhängend der Bau von
Marienkirchen. Justinian verlegte das Fest Mariae Lichtmess (Hypapante) auf
den 2. Februar, d.h. 40 Tage nach dem 25. 12., das zudem von einem Christus- zu einem
Marienfest wurde. Parallel wurde dann am 25. März Mariae Verkündigung
(Euangelismos) gefeiert.
Auffallend ist der
parallel zur Marienverehrung einsetzende Bilderkult, besonders die Instrumentarisierung
von Christusbildern. Auch die Rolle der Heiligen Männer ändert sich: Waren
sie einst Fürsprecher bei Gott, so werden sie jetzt Fürsprecher beim Kaiser, der selbst
immer sakraler wird.
Natürlich gibt es bei
einem solchen Werk von insgesamt 739 Seiten, das hier nur in gröbsten Zügen vorgestellt
werden konnte, immer etwas zu kritisieren. So ist der Rez. anderer Meinung bei Fragen der
Restaurationspläne Justinians und bei der Einschätzung der justinianischen
Religionspolitik. So heißt es z.B. S. 293: (Neuere Untersuchungen haben gezeigt),
dass jeder religionspolitische Akt Justinians - mit Ausnahme des
aphthartodoketischen Edikts - eine Erklärung findet in dem Versuch, die chalkedonische
Glaubensformel im Sinne des von ihm bevorzugten Theologen Kyrillos von Alexandreia neu zu
definieren. M. macht daraus einen Beweis für die konsequente Religionspolitik. Man
kann es aber auch so interpretieren, dass der Aphthartodoketismus symptomatisch für das
ständige Suchen Justinians nach der rechten Formel war. Dem würde auch das neu (!)
zu definieren im obigen Zitat entsprechen. In dem Zusammenhang fällt auch auf, dass
Theodora eigentlich nicht vorkommt. Es lässt sich ihr Einfluss in den Gesetzen nicht
dokumentieren, aber gab es ihn deshalb, etwa entgegen Prokop, nicht? Fraglich ist auch die
Behauptung, man habe sich völlig neu orientieren müssen, weil die alten
Erklärungsmodelle versagt hätten. Soweit ich sehe, ist doch durchgängig das (uralte und
vorchristliche) Erklärungsmodell der Zorn und die Strafe Gottes, und dass sich die Mittel
der Besänftigung ändern, wenn die alten nicht mehr zu funktionieren
scheinen, ist dabei mehr akzidentiell. Unklar bleibt auch, wieso der Kaiser einerseits an
Schutzfunktion verliert, aber gleichzeitig immer sakraler wird. Ist dies als
eine Art Verselbständigung der kaiserlichen Sphäre zu verstehen? Ich breche
hier ab, um nicht allzu kleinlich zu erscheinen.
Das Buch M.s ist
insgesamt ganz großartig, vielleicht etwas zu dick, obwohl M. schon Teile als
selbständige Aufsätze publiziert hat, (etwa über Erdbeben, Heiligenfeste, Bilderkult
und Nika-Aufstand), um das Hauptwerk zu entlasten. Es handelt sich um zwei originelle
Ansätze, um große, hervorragende Kenntnis der Quellenlage ebenso wie der
Sekundärliteratur, um minutiöse Forschung im Detail, um in den meisten Fällen
nachvollziehbare und z.T. vorsichtige Schlussfolgerungen und um ein gut betreutes Buch, in
dem es kaum Druckfehler gibt.
Karl Leo Noethlichs, Aachen
noethlichs@rwth-aachen.de