Eckhard Stephan: Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des kaiserzeitlichen Kleinasien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 (Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben 143). 368 S. Euro 56. ISBN 3-525-25242-0.

 

Nach einer kurzen Einleitung (9-12) werden in den beiden folgenden Hauptkapiteln die theoretischen und historischen Grundlagen für die Thematik erläutert. Zuerst legt Stephan (S.) das Konzept der kollektiven Identität dar (13-41). Kollektive Identität wird als Bewußtsein verstanden, einer bestimmten menschlichen Gruppe anzugehören. Grundsätzlich handelt sich dabei aber um ein individuelles Phänomen, da jeder Mensch im Laufe seines Lebens unterschiedliche Schwerpunkte setzt. Bei der historischen Untersuchung kollektiver Identitäten wird naturgemäß den epigraphischen und literarischen Zeugnissen eine zentrale Bedeutung zugemessen.
    Im Mittelpunkt des dritten Hauptkapitels (42-71) stehen ein Abriß über die römische Provinzialverwaltung in Kleinasien (42-59) sowie eine Skizzierung der städtischen Institutionen und der politischen Praxis (59-71). Die überwiegende Zurückhaltung staatlicher Stellen gegenüber Eingriffen in städtische Angelegenheiten ließ genügend Freiraum für die Honoratioren. Die Größe des römischen Reiches sowie die schlechte personelle Ausstattung in der Administration bewirkten von Seiten des Staates eine eher reaktive Politik, die auf die Bitten, Wünsche und Klagen ihrer Bewohner eingehen mußte. Die für griechische Poleis typischen Institutionen wie die Volksversammlung und der Rat existierten daher fast überall in Kleinasien. Das städtische Leben wurde vom dauernden Wettstreit der Honoratioren um Macht und Einfluß bestimmt, die sich gerne als Wohltäter in ihrer Stadt feiern ließen. Zu den Betätigungsfeldern gehörten die Errichtung oder Erneuerung von Bauwerken ebenso wie die Finanzierung von Festen oder Getreidespenden.
    Dieser städtische Euergetismus wird im vierten Hauptkapitel (72-113) zunächst eingehender beleuchtet, um die „realpolitische Seite der demonstrativen Großzügigkeit und des aristokratischen Lebensstils“ zu ermitteln (72-85). Nach der Behandlung dieses soziopolitischen Rahmens, innerhalb dessen sich die Honoratioren bewegten, konzentriert sich S. auf das Standesbewußtsein der Eliten (85-113). Hierzu analysiert der Autor die innerstädtische Kommunikation,  charakteristische Formen der Selbstdarstellung und des gesellschaftlichen Umgangs. Die Auswertung des epigraphischen Materials ergibt geradezu einen Katalog von typischen Aspekten, welche die Zuggehörigkeit zur Gruppe der angesehenen Bürger, der Honoratioren ausmachen: bekleidete Ämter, erbrachte Leistungen und Aufwendungen, aristokratische Abstammung oder gewisse Charakterzüge.
    Im fünften Hauptkapitel (114-260) wird die Untersuchung auf größere Identitätsgebiete ausgedehnt: die Heimatstadt (115-178), die Regionen (178-199), die griechische Kultur (199-222) und das Imperium Romanum (222-260).  Der wichtigste Bezugsrahmen für die Honoratioren war sicherlich die Polis. Diese Bedeutung wird auf Münzen, bei Festen und besonders in den für Kleinasien typischen Rangstreitigkeiten der Städte untereinander deutlich. Die Stadt bildete „den entscheidenden Kristallisationspunkt kollektiver Identität“. Demgegenüber verloren die regionalen Ebenen gemeinschaftlicher Identitätsausbildung eher an Wichtigkeit. Die vor allem inschriftlichen Belege für einen Bezug auf kleinasiatische  Landschaften wie Ionien oder Bithynien sind gering. Das Engagement vieler Eliten auf dem Gebiet des Kaiserkultes, der Agone und Regionalversammlungen  läßt aufgrund des begrenzten Quellenfundus kaum Aussagen über die Ausbildung einer regionalen Identität zu. Bedeutsamer war hingegen die Bezugnahme auf eine weitere Identitätsstufe, nämlich die des Griechentums. Eine große Rolle spielten die überreichlich vorhandenen Gründungssagen. Wichtig war hierbei nicht ein historischer Kern der Sage, sondern ausschließlich die Verbindung zu einem altehrwürdigen Vorfahren, mit dem man die griechische Abkunft dokumentieren konnte. Mit den Vertretern der sogenannten Zweiten Sophistik kam es zu einem Wiederaufblühen griechischer Kultur und griechischer Traditionen. Viele waren angesehene Männer, die auch in der Politik mitwirkten und somit einen festen Platz in der römischen Reichsaristokratie innehatten. Von einer kaiserfeindlichen Grundhaltung kann nicht ausgegangen werden. Die Identifikation mit dem Imperium Romanum ging schließlich selten über das Gebiet der Politik hinaus. Das römische Bürgerrecht  zu besitzen und einen Posten in der Reichsverwaltung zu bekleiden, bedeutete für die Honoratioren eine weitere Steigerung ihres sozialen Status. Daraus folgten weder eine Anpassung an die römische Lebensweise noch eine Übernahme der lateinischen Sprache. Den von Veyne[1] beobachteten Konflikt zwischen griechischer und römischer Identität lehnt S. ab.
   Das sechste und letzte Hauptkapitel (261-328) soll die „Grenzen der Integration aufzeigen. Dies veranschaulicht S. einmal anhand der dörflichen Strukturen im  ländlichen Kleinasien (261-294), zum anderen anhand des schwierigen Verhältnisses zwischen Christen und paganem Umfeld (294-328). Er kommt zu dem Ergebnis, daß es „gravierende Unterschiede“ zwischen der Welt der Stadtbewohner und derjenigen der Landbevölkerung gab. Eine große Rolle bei der Ausbildung von Identität im ländlichen Bereich spielt die Religion, wie sich bes. an der auffallend intensiven Verehrung der Ernte- und Wettergottheiten zeigt.  Auf der anderen Seite machte die monotheistische Ausrichtung der christlichen Religion deren Anhänger innerhalb des städtischen Lebens mit seinem vielförmigen Kultbetrieb zu Fremden. Die Ausgrenzung der Christen mündete oft in massiver Gewalttätigkeit.
    Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (329-336), eine Bibliographie (341-364) sowie ein Index (365-368) zu Namen, Sachen und geographischen Angaben bilden den Abschluß der Arbeit.
    S. hat sich mit seinem Buch auf die bisweilen schwierige Suche nach den Identitätshorizonten provinzialer Oberschichten begeben.  Hierzu zog der Autor alle relevanten literarischen, epigraphischen,  numismatischen und archäologischen Zeugnisse heran. Oftmals ist aber in der Untersuchung zu lesen, daß der Quellenbestand Antworten auf die Frage nach der Ausbildung kollektiver Identitäten nicht zuläßt. Und hier beginnen die methodischen Schwächen der Arbeit. S. versucht oftmals, die unterschiedlichen Quellen in gleicher Weise unter das Diktat der Fragestellung zu stellen. Doch können z.B. Stiftungsinschriften bei der Klärung politischer Verhaltensweisen der Eliten nur wenig beitragen.
    Schwerwiegend ist die oftmals lückenhafte und oberflächliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur. Das hat oft zur Folge, daß S. Ergebnisse präsentiert, die weder neu noch spektakulär sind. Die Feststellung, daß beispielsweise für die überwiegende Mehrheit der Einwohner einer kleinasiatischen Stadt die eigene Polis das Hauptbezugsfeld bildete, ist weder neu noch rechtfertigt sie eine derart breit angelegte Untersuchung. Herauszugreifen ist auch das Kapitel über die Christen in Kleinasien. Bei dem für die Fremdenthematik wichtigen ersten Petrusbrief wird die grundlegende Untersuchung von Feldmeier[2] nur mit einer marginalen Vergleichsangabe abgetan. Der in diesem Zusammenhang zu nennende Aufsatz von Kampling[3] wurde nicht berücksichtigt. Bei der Diskussion ausgewählter Märtyrerakten bewegt sich S. über weite Strecken gar ohne Anbindung an die gängige Forschung.[4] Überhaupt ist in diesem Kapitel eine gewisse Oberflächlichkeit nicht zu übersehen.
    Negativ zu verbuchen ist die  unnötig ausführliche Darbietung der Quellen, was die Lesbarkeit des Buches z. T. einschränkt.  Wenn S. die Reproduktion der Zeugnisse als so wichtig erachtete, dann wäre ein Appendix mit den jeweiligen Zeugnissen sinnvoller gewesen. Durchaus vermeidbare Druckfehler und unterschiedliche Zitierweisen trüben das formale Erscheinungsbild der Arbeit. Demgegenüber steht aber eine verständliche Ausdrucksweise, die trotz des sozialwissenschaftlichen Ansatzes der Untersuchung erfreulicherweise nicht durch eine Fülle von Fachtermini überdeckt wird.
    Trotz der genannten Kritikpunkte ist die Arbeit von S. für alle, die sich mit Kleinasien und dem Leben seiner Bewohner beschäftigen, lohnenswert. Die Forschung auf diesem Gebiet – das wird hier erneut deutlich – darf allerdings noch lange nicht als beendet gesehen werden.

Joachim Lehnen, Duisburg-Essen
lehnen@uni-duisburg.de


[1] P. Veyne: L’ Identité grecque devant Rome et l’empereur. REG 112, 1999, 510-567.

[2] R. Feldmeier: Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief. Tübingen 1992.

[3] R. Kampling: Fremde und Fremdsein in Aussagen des neuen Testaments, in: O. Fuchs (Hrsg.): Die Fremden. Düsseldorf 1988, 215-239.

[4] Es fehlen grundsätzliche Arbeiten wie z. B. G.W. Bowersock: Martyrdom and Rome. Cambridge 2002 oder E. Ferguson: Early christian martyrdom and civil disobedience. JECS 1, 1993, 73-83.


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