Michael Weissenberger: Literaturtheorie bei Lukian. Untersuchungen zum Dialog Lexiphanes, Stuttgart und Leipzig 1996 (B. G. Teubner) [= Beiträge zur Altertumskunde, hg. v. E. Heitsch, L. Koenen, R. Merkelbach, C. Zintzen, Band 64], 297 S.

Die Arbeit enthält neben der eigentlichen Kommentierung (nur) der ersten 20 Paragraphen des Dialoges eine ausführliche und fundierte Darlegung Lukianischer Attizismuskritik, gegliedert nach ‘Lexis’, ‘Taxis’, ‘Heuresis’ und ‘Pragmatik’. Es fehlt ein Index der zitierten Stellen (ein Index Lucianeus ist vorhanden), ebenso eine kritische Würdigung der Figurenkonstellation und der dramatischen Anlage. Trotz einiger Monenda ist der Kommentarteil durchweg gelungen.

In der Kommentierung eines wichtigen Autors wie Lukian – monographisch regelmäßig gewürdigt1 – klaffen noch große Lücken2. Michael Weissenbergers (W.) Kommentar zu dem schwierigen Dialog Lexiphanes ist daher willkommen.

W. setzt sich zum Ziel, die sprach– und literaturkritischen Positionen Lukians insgesamt zu erarbeiten und den Lexiphanes vor diesem Hintergrund zu analysieren. Hieraus ergibt sich die Disposition seiner Untersuchung in zwei Hauptteile. Der erste Teil (Kapitel 1–3 (9–150)) enthält nach einer das Thema abgrenzenden Einleitung (1) Analysen von sechs als ‘literaturkritisch’ bezeichneten Texten Lukians (2)3 und eine Untersuchung der "Stellungnahmen des Literaturkritikers Lukian" (3), die nach den drei officia oratoris Lexis, Taxis, Heuresis (3.1–3.3) gegliedert ist und mit einem Überblick über pragmatisch orientierte Positionen (3.4) endet. Der zweite Teil (4) beinhaltet die Kommentierung der §§ 1-20 des Lexiphanes (151–283). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung (5), einer Bibliographie und einem Index der aus dem Lukianischen Œuvre herangezogenen Stellen.

Daß es im Werk Lukians überhaupt eigenständige literaturtheoretische Positionen geben könne, ist keine selbstverständliche Prämisse. Erst nach ausführlicher Darstellung der Kontroverse, wie originell Lukian gewesen sei, entschließt sich W., ihm eigene th[6]eoretische Ansichten und nicht nur eine spöttisch–destruktive Grundhaltung zu unterstellen; innovatorische Kraft gesteht er ihm gleichwohl nicht zu (21). Dieser (nicht neue) Vorwurf ist anachronistisch, findet doch die moderne Forderung nach Originalität in der Antike keine rechte Entsprechung: gerade in der literaturkritischen Diskussion sind Termini wie ‘kainótes’, ‘kainotomía’ oder ‘eleuthería’ zumindest ambivalent und werden eher negativ als positiv verwendet. Es ist auch nicht stimmig, von Autoren einer Epoche, die die Nachahmung der Tradition als literarisches Ideal propagiert, Originalität zu fordern. Insofern ist es bedauerlich, daß W. bei der Durchsicht jener von ihm als literaturtheoretisch relevant erachteten Schriften bedeutsame Texte – etwa Zeuxis, Electrum, Prometheus es in verbis, De domo, Imagines, Pro imaginibus 4, Hercules, das Proöm der Verae historiae – nicht oder nur am Rande in die Interpretation miteinbezieht: Originalität besteht für Lukian nicht in der Neuerfindung, sondern in der Neuheit der harmonischen Kontamination verschiedener Traditionen. Dies gilt mutatis mutandis auch für Lukians theoretische Positionen: nicht ob sie an sich neu sind, wäre zu fragen, sondern aus welchen Quellen Lukian sie auf welche Weise zusammengefügt hat. Der Grund für W.’s Beschränkung auf die genannten Texte ist darin zu sehen, daß er unter "Literaturtheorie" eine – weit gefaßte – Attizismuskritik versteht. Natürlich ist W. zuzustimmen, daß im 2. Jh. n. Chr. Attizismus– und Literaturkritik kaum voneinander zu trennen sind (12f. 22). Aber im Lexiphanes wird – und W. selbst arbeitet dies in aller Klarheit heraus – im letzten nichts anderes verhandelt als einige fundamentale rhetorische Prinzipien, die der Archaist strenger Observanz zu vernachlässigen bereit ist: die Priorität des Darzustellenden vor der Darstellung, der Heuresis und Disposition des Materials vor der verbalen Ausgestaltung, der Imitation eines klassischen Kanons vor der Nachahmung von Absurdem nur seiner Ausgefallenheit wegen. Als Quelle hingegen für die Beantwortung genuin literaturtheoretischer Fragen – etwa nach dem Verhältnis von ‘chrésimon’ und ‘térpsis’, von Realitätsbezug, Vorbildcharakter und Fiktionalität, von Originalität und Intertextualität (Mimesis), oder nach den Bedingungen der literarischen Kommunikation, der Beziehung zwischen Autor, Figur und Rezipient: all dies Fragen, zu denen bei Lukian gewichtige Stellungnahmen zu finden sind – wird dem Lexiphanes zuviel aufgebürdet.

Kapitel 2 bietet für jene sechs Schriften einen guten Forschungsüberblick sowie eigenständige und bedächtige Analysen dessen, was für W.’s Fragestellung aus ihnen zu entnehmen ist, mithilfe genauer Differenzierungen der jeweiligen Darstellungsziele und –methoden. Nicht alles, was einzelne Figuren vertreten, läßt sich als genuin Lukianische Position sichern. W.’s hermeneutisches Fingerspitzengefühl und seine – das ganze Buch auszeichnende – flexible Eleganz in der sprachlichen Gestaltung lassen kaum Fragen offen. Insbesondere die Diskussion um die Bedeutung des Soloecista (59–67) dürfte mit W.’s Ausführungen beendet sein: der Nachweis, daß Lukian die Rolle des Solözisten nur spielt, um seinem Gegenüber eine Lektion in Fragen des Taktgefühls in wissenschaftlichen Diskussionen zu erteilen (vgl. auch 145), darf als gelungen angesehen werden. Insgesamt überzeugt auch W.’s Argumentation, daß das Verhältnis zwischen Lykinos und Lexiphanes als freundschaftlich anzusehen ist, so daß die vorgetragenen Positionen nicht als Polemik, sondern als auktoriale Ansichten Lukian verstanden und ausgewertet werden dürfen (80–82): siehe hierzu allerdings meine Bemerkungen zur dramatischen Anlage des Dialoges.

In Kapitel 3 werden diese Schriften auf das ihnen inhärente Erkenntnispotential hinsichtlich von Lexis, Taxis und Heuresis untersucht. In Kap. 3.1 (Lexis) zeigt W., daß Lukian als Quellen für das auszuwählende Wortmaterial keinen sehr restriktiven Kanon von Autoren vorschreibt (anders hingegen, wenn es ihm um das Minimum einer literarischen Paideia geht: hier gibt Lex. 22 klare Auskunft 5). Mischung der Stile ist ihm verpönt; Homogenität und Klarheit erscheinen als (gewiß nicht außergewöhnliche) Prinzipien der ‘lógÔn eklogé’ 6 Für die Darstellung der Anforderungen an die Taxis (Kap. 3.2) verweist W. vor allem auf Lukians Ausführungen in Hist. conscr. 27. 55. 56: die Teile einer ‘diégesis’ sollen zueinander in angemessener Proportion stehen, die Erzählung soll das passende Tempo einhalten und glatt, gleichmäßig und widerspruchsfrei voranschreiten, die Einzelheiten sollen wie Glieder einer Kette verbunden sein. Dies dürfte weitgehend der rhetorischen Forderung nach ‘saphéneia, syntomía’ und ‘pithanótes’ der narratio entsprechen, deren Charakterisierung als "im voraus festgezurrtes Korsett", dem Lukian sich zugunsten einer Sachangemessenheit entzogen hätte (112; vgl. aber 110 A. 273), mir nicht einleuchtet. Hier müßte W. die Quellen, mit denen Lukian sich kritisch auseinandergesetzt hätte, näherhin analysieren.

Literaturtheoretische Fragestellungen kommen noch am ehesten in W.’s stärksten Kapiteln 3.3 (Heuresis) und 3.4 (Person des Schreibenden) zur Sprache. Es geht Lukian primär um den geistigen Wert des Dargestellten, das einer angemessenen sprachlichen Umsetzung bedarf: beides ist bei den ‘palaioí’ gegeben, deshalb sind sie nachahmenswert. Lukian pointiert diesen Sachverhalt in Adv. ind. 17 (vgl. W. 114) folgendermaßen: ‘Es sind zwei Fähigkeiten, die man aus dem Umgang mit den Schriften der Alten erwerben kann: reden zu können und das Nötige tun zu können, indem man den Besten nacheifert und die Schlechtesten meidet ...’. Ähnliche Äußerungen finden sich verstreut immer wieder, ohne je systematisiert zu werden (W. 115). Die Schulung an den Klassikern stellt aber nicht nur eine intellektuelle Bildung dar, sondern auch eine Charakterformung der Person des Schreibenden und Vortragenden. Lukian legt dabei Wert auf bestimmte Grundeinstellungen: kritischer Verstand in Verbindung mit Taktgefühl, gesundes Einschätzungsvermögen, nicht übertriebenes, aber doch solides Selbstvertrauen, Beharren auf bestimmten Qualitätsmaßstäben. So betrachtet, stellt Lukian in seinem Werk nicht nur Richtlinien einer generellen Paideia auf, sondern versucht, wie es scheint, auch selbst in diesem Sinne erzieherisch zu wirken. Charakter und Bildung des ‘pepaideuménos’, geschult an den Klassikern, befähigen ihn gerade erst zu gelungener Nachahmung derselben: W. formuliert, "daß imitatio eines vorbildlichen Autors immer Nachahmung und dem eigenen Gegenstand angemessene Übertragung von dessen ureigenen und besonderen Qualitäten sein muß; allein deren Erkennen setzt allerdings gründliches Studium voraus. Das oberflächliche Kopieren der dem Laien zuerst ins Auge springenden Eigenheiten ... hat dagegen mit Lukians Verständnis von ‘mímesis’ nichts zu tun" (137). Wohl auch solcher Zusammenhänge wegen hat W. seine Kapitel über Heuresis und Persönlichkeit des Gebildeten nebeneinandergestellt. Daß sich dabei selbst dieses Paideia–Ideal noch kontaminierender Imitation verdankt, wäre zu zeigen 7. Inhaltlich greift Lukian zweifellos auf Isokrates zurück; mir scheint, auch ein Einfluß Ciceros läßt sich nicht a priori ausschließen, und schließlich lehnt sich etwa die Formulierung des zitierten Passus aus Adv. ind. 17 offensichtlich an Homer (Il. 9,443) an.

Die Bildungsthematik leitet über zum zweiten Teil der Arbeit, dem Kommentar der §§ 1–20 des Lexiphanes, sind es doch gerade das "oberflächliche Kopieren" und die Vernachlässigung von Heuresis und Taxis zugunsten der Lexis, die man dem Titelhelden zum Vorwurf machen wird. Insgesamt ist der aus W.’s Erklärungen zu schöpfende Erkenntnisgewinn groß. Aufgrund seiner gelungenen Quellenanalysen vermag der Leser schon bei der ersten Lektüre die Genialität der Parodie mitzuvollziehen, ja zu genießen. Leider hat W. darauf verzichtet, auch die Äußerungen des Lykinos und des Arztes Sopolis über einzelne Bemerkungen in Kap. 2.6 (80–84) und passim hinaus auf ihr mimetisches Potential hin zu analysieren. Denn es ist doch zu fragen, ob Lukian der Logomanie des Lexiphanes nur einen theoretischen Widerpart in Lykinos’ Ausführungen entgegengestellt hat, oder ob er nicht auch durch die Gestaltung der fiktiven Situation selbst und durch Imitation näher zu bestimmender Quellen gezeigt hat, worum es ihm geht.

Die Figurenkonstellation und die dramatische Anlage des Dialoges sind nämlich durchaus auffällig. Lykinos trifft an einem nicht genannten Ort zu einer nicht genannten Zeit Lexiphanes. Nach dessen Vortrag tritt aus dem Nichts und ohne Einführung der Arzt Sopolis auf, der durch die Gabe eines Emeticums ein somatisches Heilverfahren anlaufen läßt; nach seinem Abtreten liest Lykinos Lexiphanes die Leviten, womit der Dialog endet, ohne daß wir etwas von einer Reaktion des Titelhelden erführen. Man wird hier zunächst die mangelnde Ausarbeitung der situativen Elemente konstatieren, deren Defizienz bei einem Vergleich mit Lukians Hermotimos deutlich wird: auch dieser Titelheld tritt mit einem Buch unterm Arm auf, und wir erfahren, daß er sich zu seinem Philosophielehrer begibt, ein Unterfangen, von dem er erst abläßt, nachdem er von Lykinos erfahren hat, daß der Unterricht an diesem Tage nicht stattfindet; schon hier und auch später erhält der Leser weitere Rahmeninformationen. Nachdem Hermotimos unter der Wucht des Lykinischen Logos zusammengebrochen ist, hören wir aus seinem Munde die Schlußworte und erfahren, wie er sich die Gestaltung seines weiteren Lebens vorstellt. All das ist durchaus vergleichbar mit dem Lexiphanes, aber wesentlich ausgearbeiteter. Die Defizienz der dramatischen Gestaltung des Lexiphanes koinzidiert nun mit der von W. 151–155 zusammenfassend und passim im Kommentarteil konstatierten dispositorischen Schwäche des Lexiphanischen Symposions, wenngleich W.’s Kritik hier in manchen Fällen widerlegt werden könnte. Warum macht sich Lukian als Autor zumindest in geringerem Maße derselben Vergehen schuldig wie sein ‘Held’ Lexiphanes? Ebensowenig bemüht sich W. darum, die für das Verständnis des Disposition des Werkes durchaus ergiebigen Bezugnahmen auf das Platonische Symposion auszuloten. Lukians Konstellation ‘Aberwitziger Vortrag’ – ‘Heilung durch einen Arzt’ – ‘rationaler Vortrag’ findet sich nämlich dort präfiguriert, wenn auf den penetranten ‘Schluckauf des Aristophanes’ seine ‘Heilung durch den Arzt Eryximachos’ und die ‘Rede des Komödiendichters über den Eros’ folgt. Es ist frappant, daß Lexiphanes’ Ausführungen zumindest spielerisch als ein somatisches Leiden empfunden und angegangen werden. Spielt Lukian also mithilfe der Einführung des Motives der ärztlichen Therapie auf Aristophanes’ Schluckauf an? Welche Rolle spielt dann Lykinos? Welche Lexiphanes?

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der eigentlichen Intention des Werks noch einmal zu überdenken. Insgesamt aber stellt W.’s Buch für die Beschäftigung mit dem Attizismus allgemein und insbesondere mit dem Lexiphanes ein solides Fundament dar.

Eine ausführliche Fassung dieser Rezension – mit einer Würdigung des Kommentars – erscheint in der Zeitschrift Gnomon.

Peter v. Möllendorff


1 Vgl. etwa die Studien von J. Bompaire, Lucien écrivain, Paris 1958; B. Baldwin, Studies in Lucian, Toronto 1973; J. Hall, Lucian’s satire; C.P. Jones, Culture and society in Lucian, Cambridge/Mass. 1986; R.B. Branham, Unruly eloquence, Cambridge/Mass. 1989.

2 Dem umfangreichen Œuvre des Samosatensers stehen – neben Ausgaben mit kurzen Erläuterungen – als moderne Kommentare nur gegenüber H. Homeyer, Wie man Geschichte schreiben soll, München 1965; J. Coenen, Zeus tragodos, Meisenheim 1977; H.–G. Nesselrath, Lukians Parasitendialog, Berlin/New York 1985; E. Braun, Lukian. Unter doppelter Anklage. Ein Kommentar, Frankfurt a.M. 1994; U. Victor, Lukian von Samosata, Alexander oder der Lügenprophet, Leiden 1997; A. Georgiadou, D. Larmour, A Science Fiction Novel: Lucian’s True Histories, Leiden 1998; P. Größlein, Untersuchungen zum Juppiter confutans Lukians, Frankfurt a.M. 1998.

3 Hist. conscr., Adv. ind., Rhet. praec., Pseudolog., Sol., Lex.

4 Hierzu zuletzt G. Bretzigheimer, Lukians Dialoge ‘Eikónes – Hyper eikónÔn. Ein Beitrag zur Literaturtheorie und Homerkritik, RhM 135, 1992, 161–187.

5 Vgl. auch J. Romm, Wax, Stone, and Promethean Clay: Lucian as Plastic Artist, CA 9, 1990,74–98.

6 Ein Pastiche oder auch ein volkssprachlicher Text sind vor dem Hintergrund dieser Forderungen zulässige Textsorten: W. plädiert (102 A. 248) daher mit Recht für die Echtheit von De dea Syria und Asinus.

7 Als gelungenes Beispiel der Analyse kontaminatorischer Imitation selbst im Falle abstrakter Konzeptionen vgl. etwa M.M.J. Laplace, L’ecphrasis de la parole dans l’Electrum et le De domo de Lucien, et la représentation des deux styles d’une esthétique inspirée de Pindare et de Platon, JHS 116, 1996, 158–165.


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