Christian Schulze: Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter. Tübingen: Mohr Siebeck 2005 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 27). 253 S., Euro 49. ISBN 3-16-148596-3.

Tertullian weiß zu berichten, daß Asklepios aufgrund seiner Taten vom Blitz getroffen worden sei (Apol. 14,5). So die uns so geläufige interpretatio christiana, die die antike Medizin aufgrund ihrer Nähe zu den paganen Heilkulten mit dem Vorwurf der idololatria verbindet. Schulze (S.) zeigt in seiner medizinhistorischen Habilitationsschrift, daß dieses Bild, das eine grundsätzliche Ablehnung antiker Medizin durch die Christen suggeriert, dringend korrekturbedürftig ist.

Als Isidor von Sevilla im Jahre 636 n. Chr. stirbt, hinterläßt er im vierten Buch seiner Etymologiae die letzte, dürftige Zusammenstellung des Wissens griechisch-römischer Medizin im Westen. Genau einhundert Jahre früher (636) stirbt der monophysitische Christ Sergios von Reschaina, der mindestens 27 Werke Galens ins Syrisch-Aramäische übersetzt und damit den Weg für die Rezeption der antiken Medizin und Wissenschaftsliteratur in Richtung Osten öffnet. Indem S. Sergios von Reschaina als Gelenkstelle markiert, formuliert er die Prämisse, daß sich der frühmittelalterliche Wissenstransfer, der sich nicht nur auf Übersetzungsleistungen, sondern auch auf die Weitergabe des praktischen medizinischen Wissens bezieht, fast nahtlos an die Spätantike anschließt. Die Kontinuitätsüberlegung, die in dem Begriff angelegt ist, bildet den Ausgangspunkt für die Frage, warum die Christen im graeco-orientalischen Transfer medizinischen Wissens zu Beginn des Mittelalters eine so entscheidende Rolle spielten. S. öffnet den Blick auf diesen Vermittlungsprozeß nicht aus der uns so gewohnten Sicht der arabischen Wissenschaften, sondern nähert sich aus der christlichen Antike und konzentriert seinen Blick auf die Verbindung zwischen Medizin und christlicher Theologie in einem Zeitraum vom Ende des 2. Jahrhunderts bis zum Beginn des 7. Jahrhunderts.

Der erste Abschnitt der Untersuchung (21-33) nimmt die den christlichen Taufbewerbern verbotenen Berufe in den Blick: Bereits die „Apostolische Überlieferung“ des Hippolyt (um 215) beinhaltet eine differenzierte Aufzählung der für Taufbewerber verbotenen Berufe, die verschiedene Verbindlichkeitsgrade sichtbar macht. Die restriktive Aufnahmepraxis, die eine Abgrenzung zu allen Formen römischer Kultpraxis intendiert, führt im Hinblick auf die medizinischen Berufe zu der Frage, ob Christen der Zugang zu den medizinischen Berufen verstellt gewesen sei. Die christlichen Quellen weisen jedoch in eine andere Richtung: Trotz der Nähe der medizinischen Berufe zu den antiken Heilkulten war den Christen der Zugang nicht verwehrt.

Das Zentrum der Arbeit (34-154) bildet eine prosopographische Untersuchung, die auf der Basis von 190 griechischen, lateinischen und koptischen Inschriften, die durch papyrologische und literarische Fundstellen ergänzt werden, auf der Grundlage klarer Erfassungskriterien die medizinisch tätigen Christen bis ins 7. Jahrhundert sichtbar machen kann.

Die Zuweisung zu einem ärztlichen Beruf wird nicht auf den lateinischen Begriff medicus bzw. auf den griechischen Begriff iatrós beschränkt, sondern bezieht auch chirurgus, archiatrós und die Feminina medica bzw. iatríne in die Untersuchung ein. Berufsbezeichnungen, die den Bereich des Drogenhandels und der Arzneibereitung beschreiben (aromatarius, pharmacopoles, thurarius, unguentarius etc.) sowie Hebammen (maîa, obstetrix) werden ebenso wie die Tierärzte aus der Betrachtung ausgeschlossen.

Die Inschriften werden im möglichst vollständigen Wortlaut, bei längeren Inschriften auch mit deutscher Übersetzung wiedergegeben, ergänzt durch Literaturangaben, Fundort, Datierung und Anmerkungen. Für Ägypten wird das Bild überlieferungsbedingt durch Papyrusfunde ergänzt. Zusätzlich werden die in der Literatur genannten Christenärzte sowie die christlichen Verfasser medizinischer Werke in die Untersuchung einbezogen. Dem Katalog der einzelnen Quellengattungen geht jeweils ein kenntnisreicher Forschungsüberblick voraus, ebenso ist eine sorgsame Reflexion der methodischen und inhaltlichen Probleme vorgeschaltet.

S. legt zum ersten Mal eine umfassende Zusammenstellung des Quellenmaterials vor, dessen Unmittelbarkeit den Blick auf viele Einzelbeispiele öffnet, wie folgende Grabinschrift (Nr. 80) zeigt: „Wanderer, wenn du vorbeigehst, beklage das Los der Menschen, und sieh anhand meines Schicksals, welches dir noch bevorsteht. Sieh, die Erde erweist sich mir als Wohnstatt und als Grab für meine Asche, und ein kleiner Wurm macht sich über meine vergänglichen Glieder her. Derjenige, dem der allmächtige Schöpfer befohlen hatte, Siedler des Paradieses zu sein, dem teilte die grausliche Schuld dieses Los zu. Einst riefen mich meine Eltern mit Namen ‚Felix’, hier war die Medizin mir als Lebensglück zugewiesen. Die mühseligen Schmerzen vieler vermochte ich zu lindern, meine eigene Krankheit konnte ich mit Hilfe meiner Kunst nicht besiegen.“ Ganz anders die Inschrift aus Gdanmaa (Lycaonia) (Nr. 12/13), die den seltenen Fall eines christlichen Arztehepaares dokumentiert und damit auch die Integration von Frauen in die medizinische Berufshierarchie: „Ich, der Archiater Aurelios Gaios, habe hier den Grabstein aufgestellt für meine Gattin Augousta, die als Archiatrina den Körpern vieler Kranker ein Heilmittel gab, wofür ihr ihr Heiland Jesus Christus ein Entgelt geben wird.“

An das hier zusammengetragene Material stellt S. folgende Fragen: „Wann und wo gab es Christen, die als Arzt tätig waren? In welchem sozialen, kirchlichen oder medizinischen Umfeld – gesellschaftliche Schicht, kirchliche Ämter, Bezeichnung des ärztlichen Amtes – sind diese Personen, soweit ermittelbar, zu plazieren?“ und „Anhand welcher Namen kann man also konkret aufzeigen, wie sich christliches Bekenntnis und medizinische Berufsausübung im Laufe der Zeit miteinander verzahnt haben.“ (19/20)

Auch wenn das hier vorgestellte Material aufgrund des bescheidenen Umfangs nicht statistisch auswertbar ist, zeigen die quantifizierbaren Ergebnisse, daß eine Zahl von 150 Ärzten lückenlos bis ins 6/7. Jh. bezeugt sind. Indem S. aus dem breiten nachweisbaren Berufsspektrum der Christen die Bäcker, die ebenfalls nicht zu den tabuisierten Berufsgruppen gehörten, als Vergleichsgruppe wählt, kann S. plausibel machen, daß Christen relativ häufig (3:1) medizinische Berufe ergriffen haben.

Die weite Verbreitung von Britannien bis nach Mauretanien und von Lusitanien bis nach Syrien oder Kilikien zeigt, daß sich christliche Ärzte in den großen Zentren ebenso wie in entlegenen Provinzen nachweisen lassen. Die Funde aus dem Osten überwiegen, eine auffällige Häufung zeigt sich in der Küstenregion Kilikiens (17 Einträge), insbesondere in der Stadt Corycos: „Dies nährt einen anderen Verdacht, der hier zumindest einmal hypothetisch formuliert sei: Möglicherweise existierte, so die wohl zwangloseste Erklärung, in Corycos ein – dann freilich bislang gänzlich unbekanntes – Ausbildungszentrum für Mediziner, eine ‚christliche Ärzteschule’ gleichsam, deren Absolventen sich offenbar bevorzugt dort bzw. in der näheren Umgebung niedergelassen haben. So lassen sich auch die zahlreichen Funde christlicher Arztgräber in den Korykos benachbarten Städten erklären.“ (136). Die Hypothese gilt es zu überprüfen, die Frage nach den Verbindungslinien zu den tradierten Zentren paganer Heilkulte in Kleinasien drängt sich geradezu auf. Auch wenn die Forschung zunehmend nach diesen Kultkontinuitäten fragt, wirft das hier präsentierte Material Fragen auf, die noch zu beantworten sind.

Aus der Tatsache, daß medizinische Verdienste in den Grabtituli hervorgehoben werden, leitet S. sowohl das gesellschaftliche Ansehen, als auch gewisse finanzielle Möglichkeiten, die sich auch in der Grabausstattung spiegeln, ab. Neben der Vielzahl einfacher Christen und Gemeindemitglieder, lassen sich auch Diakone, Bischöfe oder auch Mönche nachweisen, die eine Durchdringung von theologischem Amt und ärztlichem Beruf belegen.

Beachtenswert ist, daß die Inschriften auf christlicher Seite einen relativ hohen (ca. 10%) Frauenanteil dokumentieren (gegenüber ca. 5% auf heidnischer Seite). Neben einer gewissen Emanzipation der Frau in hellenistisch-römischer Zeit und der Bedeutung von Ärztinnen insbesondere in frauenheilkundlichen Fächern erklärt S. die vergleichsweise hohe Zahl christlicher Ärztinnen durch die Rekrutierung von höherrangigem medizinischen Personal aus der kirchlichen Diakonissenarbeit. S. formuliert die Hypothese, daß die christlichen Ärztinnen möglicherweise ein Ausweichphänomen darstellten, das auf die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der männlichen, kirchlichen Ämterhierarchie reagiert (139f.). Trotz des differenzierten Hierarchiesystems weiblichen Medizinpersonals läßt sich eine besondere Rolle christlicher Ärztinnen beim graeco-orientalischen Wissenstransfer nicht nachweisen: „Der Weg von der in ihrer christlichen Gemeinde anerkannten iatríne zu einer beispielsweise im Krankenhaus von Gundishapur arbeitenden Ärztin oder einer am (zudem arabisch-islamischen) Fürstenhof als Leibärztin eingesetzten Christin war wohl doch allzu weit und mit übergroßen Kulturdifferenzen gespickt.“ (143).

Der dritte Abschnitt der Untersuchung (155-185) schlägt den Bogen zurück zu der im ersten Abschnitt behandelten Tabuisierung bestimmter Berufsgruppen im Christentum, indem auf der Basis des umfangreichen Quellenmaterials gefragt wird: „Wieso konnten sich Christen [...] mit einer ganz dem heidnischen Metier entstammenden Profession wie der Medizin nach und nach arrangieren, und dies in erstaunlichem Umfang? Gab es standesethische Probleme und Bedenken von christlich-intellektueller Seite, vor allem bei den Kirchenvätern? Galt der Heilversuch des Arztes gar als verwerflich, weil er gegen den Willen des krankheitssendenden Gottes verstoßen könnte?“ (20)

Die christliche Krankenfürsorge sieht S. (1.) in den Heilungsgeschichten des Neuen Testamentes begründet. Der traditionelle Vergleich zwischen Arzt und Philosoph wird (2.) auf Christus übertragen, der so als Arzt verstanden werden kann, der die menschliche Seele heilt. Der Körper des Menschen muß (3.) als Schöpfung Gottes erhalten bleiben. In dem zum Teil parallelisierenden Vergleich mit Asklepios kann (4.) einerseits eine Vereinnahmung, andererseits eine identitätsstiftende Abgrenzung gelingen. S. ergänzt diese in der Forschung bereits umfassend diskutierten Gründe (5.) durch den Wandel des ärztlichen Ansehens in der frühen Kaiserzeit. Ausgangspunkt für diese Überlegung ist die Prämisse, daß die Metapher Christus medicus voraussetzt, daß das Berufsbild des Arztes positive Konnotationen evozierte: „Nur die Befreiung des iatrós/medicus vom ursprünglich im republikanischen Rom zu verortenden eher negativen Image, die stete, etwa zusammen mit der Kaiserzeit beginnende personelle ‚Aufwertung’ durch römische ingenui (auch aus angesehenen gentes) schufen die Voraussetzungen, daß die Christen schon sehr bald, seit ihren frühesten Schriftzeugnissen an, den Arzt als etwas Vergleichenswertes, als einen positiven Ausgangspunkt begreifen und verwenden konnten.“ (169)

Hinzu kommt (6.) die „Öffnung der christlichen Intellektualität hin zum Bildungskanon der paganen, griechisch-römischen Antike“. S. zeigt, daß die Medizin nicht nur im „Schlepptau“ antiker Bildung liegt: „Kein anderes nicht-kanonisiertes Fach weist eine solche Nähe zu den Artes liberales auf wie die Medizin. [...] Somit führt die Annäherung der christlichen Intellektualität an die Artes liberales zwangsläufig auch zu einer Öffnung gegenüber der Medizin, weil sie an den Kanon lange Zeit, bis hin in die Spätantike gekoppelt war.“ (179) Auch wenn sich Einzelbeispiel oder auch besondere Gruppierungen herausfiltern lassen, die die Hilfe eines Arztes bewußt ablehnten und das Vertrauen allein auf Gott ausrichteten, zeigen die Quellen eine prinzipiell positive Bewertung der ars medica.

Der letzte Abschnitt der Arbeit (186-203) schließt den Gedankengang, indem die Ausgangsfrage nach der Rolle der christlichen Ärzte im graeco-arabischen Wissenstransfer ins Zentrum der Überlegungen rückt: „Kann das vorgelegte Material die Rolle der Christenärzte bei der Wissensvermittlung an den Orient neu beleuchten? Welches Gewicht hat dabei die jahrhundertelang gewachsene Verbindung von Christentum und Medizin im Vergleich zu den anderen von der Forschung bislang diskutierten Faktoren?“ (20)

Wie auch das Beispiel des Sergios von Reschaina, mit dem der graeco-orientalische Wissenstransfer beginnt, zeigt, beschränkt sich die syrische Rezeption vom 5. bis ins 8. Jahrhundert im wesentlichen auf die Bereiche Medizin und Philosophie. Aufgrund der hastigen Expansion und der Verankerung der vorislamischen Heilkunde in der empirisch-magischen Volksmedizin, war es nicht weiter verwunderlich, daß die Aufbauhilfe und Vermittlerdienste (auch aufgrund der geographischen Verbreitung) von Christen erbracht wurden. S. macht deutlich, daß die Situation der aufsteigenden arabischen Welt Parallelen zum frühen Christentum aufweist. Die Synthese von Antike und Christentum ist am Ende der Antike vollzogen. Das Christentum, insbesondere die hochgebildeten Nestorianer, werden jetzt zu Vermittlern, indem sie ihrerseits die tradierten Bildungsinhalte, -institutionen und das vermittelnde Personal zur Verfügung stellen.

S. gelingt es mit seiner Habilitationsschrift den Leser zu einem Perspektivenwechsel zu zwingen, der den Blick auf die christlichen Ärzte, insbesondere die Nestorianer, lenkt. Die Verschmelzung von Medizin und christlicher Theologie öffnet den Weg für die Rezeption der antiken Medizin und Wissenschaftsliteratur, aber auch für die Vermittlung des praktischen medizinischen Wissens in Richtung Osten. Der Katalog der medizinisch tätigen Christen zeigt ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Einzelbeispiele, die eine unerschöpfliche Fundgrube bilden, die gerade aufgrund ihrer Unmittelbarkeit dazu motiviert, den einen oder anderen Gedanken weiter zu verfolgen und weiter in die Thematik einzusteigen.

Regina Hauses, Essen
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