Ralf Scharf: Der Dux Mogontiacensis und die Notitia Dignitatum. Eine Studie zur spätantiken Grenzverteidigung, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2005 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 50). VI, 352 S. Euro 98,-. ISBN 3-011-018835-X.

Nach einer Monographie, die am Beispiel von Elementen der Truppenorganisation Aspekten der spätantiken Verwaltungsgeschichte vorwiegend im oströmischen Bereich nachgeht,1 legt Ralf Scharf nun Forschungen zum römischen Grenzabschnittskommando von Mainz vor und bettet sie in eine grundsätzliche und recht umfassende Untersuchung von Teilen der Notitia Dignitatum ein, die sich auf den Westen des Römischen Reiches beziehen. Ausgangs- und Endpunkt der Betrachtungen Scharfs ist zwar der Mainzer Dukat, letztlich geht es aber um den Verwendungszweck der Notitia Dignitatum insgesamt. Insofern erfaßt der Untersuchungsgang weit mehr als sich dem Titel des Buches entnehmen läßt.

Scharf legt daher seinen Untersuchungsgang sehr grundsätzlich an. In einem ersten Teil bereitet er das Terrain vor, indem er einen historischen Abriß vom Limesfall Mitte des 3. Jahrhunderts bis zu den militärischen Operationen Valentinians I. in der Germania prima liefert, die zur Wiedereinrichtung des Grenzschutzes am Rhein führten und insofern die Ausgangslage für die hiesige Entwicklung in den nachfolgenden Jahrzehnten boten, die mangels geeigneter Quellen nicht mehr kontinuierlich zu rekonstruieren, sondern allenfalls mit Hilfe punktueller Einblicke in eine mehr oder weniger plausible Abfolge zu bringen ist. Hierzu bieten die entsprechenden Auflistungen der Notitia Dignitatum Anhaltspunkte, die Scharf zum Sprechen zu bringen sucht. Daß dafür ein methodisches Repertoire vonnöten ist, mit dessen Hilfe innerhalb der Notitia Dignitatum vergleichende Verfahrensweisen ebenso zu praktizieren sind wie unter Heranziehung weiterer geeigneter literarischer Quellen, versteht sich von selbst. Dabei geht Scharf mit der Einbeziehung archäologischer Quellen auch neue Wege, „um dadurch zu einer etwas umfassenderen Sicht auf die Situation im spätantiken Mainzer Dukat zu gelangen“ (S. 7).

Im zweiten Teil steht das Kapitel über den Dux Mogontiacensis aus der Notitia Dignitatum im Mittelpunkt. Scharf ordnet den Abschnitt über den Kommandeur der römischen Grenztruppen am Rhein zwischen Andernach im Norden und Selz im Süden in die Notitia ein und nimmt vergleichend Stellung zu Formulierungsfragen in der Notitia, zu der Miniatur des Dux, der Truppenliste und Truppenstruktur des Kommandobereichs und zu seiner Ausstattung mit Büropersonal. Aus deren Auswertung ergibt sich für Scharf, daß angesichts der Struktur der auf den Westen des Reiches bezogenen Teile der Notitia Dignitatum, wie sie sich mit ihren Auflistungen präsentiert, das Werk nicht nur auf frühestens 399 oder 401 datiert werden kann, wie es der gängigen Anschauung für die Kapitel zum Osten des Römischen Reiches entspricht, sondern – präziser – als ganzes auf die erste Hälfte der 420er Jahre.

Daher folgt als dritter Teil ein Überblick über Ereignisgeschichte und Truppenbewegungen im Zeitraum von 395 bis 425, um Zusammenhängen zwischen den Ereignissen und ihrem Niederschlag in der Notitia Dignitatum nachzuspüren. Anschließend geht es im vierten Teil um die Truppenlisten der gallischen Prätorianerpräfektur und deren Kommandobereiche. Scharf macht „Reste von Bearbeitungsspuren“ (S. 183) namhaft, die dafür sprechen, daß die Listen erst kurz vor ihrer Zusammenstellung in der heute vorliegenden Notitia Dignitatum entstanden sind und angesichts unterschiedlicher Bearbeiter in der Zentrale bzw. den Regionen „Änderungen in dem einen Abschnitt von anderen Abschnitten nicht mehr berücksichtigt werden konnten“ (ebd.).

Fünfter und sechster Teil sind den Truppenkontingenten des Mainzer Dukats gewidmet: Nach Auswertung der Ziegelstempel der Einheiten im Gebiet des Abschnittskommandeurs von Mainz liefert Scharf eine Zusammenstellung aller Nachrichten zu den einzelnen zwischen Selz und Andernach stationierten Mainzer Teileinheiten und ihrer Herkunft. Im siebten Teil führt Scharf die vorausgegangenen Einzeluntersuchungen zusammen und verbindet den Mainzer Dukat, die Notitia Dignitatum und die Geschichte des Westens des Römischen Reichs zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Die Ausführungen münden in Scharfs Ergebnisse zum Zweck der Notitia Dignitatum ein: Die chronologischen Unterschiede zwischen den Einzelteilen der auf den Westen des Reiches bezogenen Kapitel der Notitia Dignitatum seien kaum gravierend, die „Verzahnung wenigstens bei den intensiver untersuchten Listen des Bewegungsheeres“ (S. 314) sei höher als bislang angenommen. Die datierbaren Listen und Teillisten sprächen für eine Entstehung der Notitia Dignitatum in der heutigen Form im Zeitraum 422/23. Der Prachtcodex sei daher wohl dem vormaligen Primicerius notariorum Iohannes anläßlich seiner Ausrufung zum Kaiser des Westens am 20. November 423 als Geschenk überreicht worden.2

Dieses Ergebnis überrascht ein wenig und ist die Konsequenz der trotz letztlicher Unbeweisbarkeit zutage tretenden Überzeugung Scharfs, die Notitia Dignitatum auf einen „Redaktionsschluß“ von 422/23 festlegen zu können. Alle von ihm aufgenommenen Gesichtspunkte und die gesamte Argumentationskette sind auf dieses Ziel ausgerichtet. Damit geht eine gewisse „Einlinigkeit“ teilweise konstruiert wirkender Argumentation einher, die – zum Beispiel durch Ausblendung und Hintansetzung von Deutungsalternativen – eine logische Folgerichtigkeit suggeriert, wie sie angesichts der Überlieferungslücken eigentlich nicht bestehen kann. Beredtes Zeugnis hierfür ist die Behandlung der den eigenen Untersuchungen vorausgehenden Literatur durch Scharf;3 eine eingehende Auseinandersetzung mit ihr findet nicht immer statt, und wo man sie antrifft, ist sie von einem gelegentlich unduldsamen Unterton getragen. Ob Scharf mit seinen Interpretationen zur Notitia Dignitatum den allein richtigen Weg beschritten hat, darf also in Frage gestellt werden – ungeachtet seiner gewiß zahlreichen Anregungen, das Umfeld der Notitia Dignitatum neu zu durchdenken.

Ulrich Lambrecht, Koblenz
lambre@uni-koblenz.de


1 Vgl. Ralf Scharf: Foederati. Von der völkerrechtlichen Kategorie zur byzantinischen Truppengattung. Wien 2001 (Tyche-Suppl. 4).

2 Diese Ergebnisse auch knapp bei Ralf Scharf, Die „Notitia Dignitatum“, in: Imperium Romanum, Bd. 2: Römer, Christen, Alamannen – Die Spätantike am Oberrhein, hrsg. v. Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Stuttgart 2005, S. 187-189, hier S. 189.

3 Vgl. z. B. Dietrich Hoffmann: Das spätrömische Bewegungsheer und die Notitia Dignitatum, 2 Bde., Düsseldorf 1969/70 (Epigraphische Studien 7) (hierzu Scharf S. 221-225 u. ö.) oder Herbert Nesselhauf: Die spätrömische Verwaltung der gallisch-germanischen Länder. Berlin 1938 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. 1938,2) (hierzu Scharf S. 286-288).


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