Joachim Lehnen: Henrike Maria Zilling, Tertullian
Henrike Maria Zilling: Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers. Paderborn: Schöningh 2004. 242 S. Euro 34,80. ISBN 3-506-71333-7.


Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers.“ Mit diesem Titel zeigt die Berliner Althistorikerin Henrike Maria Zilling die beiden Pole an, durch welche das Leben der frühen Christen im römischen Staat bestimmt wurde: zum einen der ausschließliche Glaube an Gott, zum anderen der innerweltliche Gehorsam. Tertullian hat sein literarisches Schaffen vor allem der Aufgabe gewidmet, die sich aus diesem Spannungsverhältnis heraus entwickelnden Schwierigkeiten zu lösen. Zu den wichtigsten Werken des nordafrikanischen Apologeten gehört zweifelsfrei das berühmte „Apologeticum“, jene als Gerichtsrede gestaltete Verteidigungsschrift, welche den Nachweis bringen soll, dass die Christen loyale Bürger seien, der Obrigkeit gehorchten und ihre Steuern entrichteten. Tertullian geht noch einen Schritt weiter, wenn er sogar die Christen über die römischen Bürger stellt, da schließlich der Kaiser von Gott in sein Amt gesetzt worden sei. Zu Recht stellt daher Zilling (Z.) dieses Werk in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung.

Nach einer Einführung (11-20) begibt sich Zilling (Z.) im ersten Hauptkapitel (21-82) auf die „biographische Spurensuche“. Z. begründet ihren Einstieg mit der apodiktischen Feststellung, dass jede Beschäftigung mit Tertullian mit dessen Biographie beginnen müsse. Allerdings muss die Autorin bereits zu Beginn das Ergebnis ihrer biographischen Nachforschungen einschränken: „Eine vollständige Biographie des Nordafrikaners Tertullian lässt sich nicht schreiben“ (21). Angesichts der schwierigen Quellensituation bieten daher ihre Untersuchungen zu den Lebensdaten, zur beruflichen Ausbildung und Tätigkeit, zum Beginn der montanistischen Phase sowie zum christlichen Leben im nordafrikanischen Karthago keine neuen, geschweige denn gesicherteren Erkenntnisse. Weder ist der forensische Charakter des „Apologeticum“ ein Beleg für Tertullians Tätigkeit als Jurist, noch lassen die in seinen Schriften auftauchenden militärischen Termini auf einen soldatischen Hintergrund der Familie schließen.

Im Mittelpunkt des zweiten Hauptkapitels (139-180) steht Tertullians berühmtes Werk „Apologeticum“, welches um das Jahr 197 n.Chr. entstanden sein dürfte. In klar gegliederter Form legt Z. eine überzeugende Interpretation der einzelnen Abschnitte der Schrift vor. Zu den in der Forschung häufig diskutierten Passagen gehört sicherlich das Vorwort, in dem Tertullian vorgibt, sich mit seiner Schrift direkt an die Statthalter des römischen Imperiums zu richten. Mit Recht weist Z. darauf hin, dass es sich beim „Apologeticum“ nicht um eine Art christlichen Rundschreibens an alle Statthalter handle. Vielmehr habe Tertullian die Anrede an die Statthalter als geschicktes rhetorisches Mittel eingesetzt, um die eigentlichen Adressaten, die Christen selbst, erreichen zu können. Sicherlich ist es irrig zu glauben, ein Statthalter hätte die Muße gehabt, sich mit einem christlichen Traktat auseinanderzusetzen. Vielmehr erscheint Tertullians Apologie als argumentativer Leitfaden für die christlichen Gemeindemitglieder, angemessen den heidnischen Vorwürfen entgegnen zu können. Gut arbeitet die Autorin heraus, dass das „Apologeticum“ nicht nur eine Schrift zur Verteidigung des christlichen Glaubens darstellt, sondern gleichzeitig auch konzipiert war, um christliche Gemeindemitglieder in ihrem Glauben zu bestärken, also Mut und Zuversicht auszusprechen. In dieses Konzept der Festigung von christlicher Argumentations- und Glaubenskraft gehört die Idee des von Gott eingesetzten Kaisers und des dadurch entstehenden christlichen Imperiums. Vor diesem Hintergrund dürfte sich der Christ gestützt und sicher fühlen.

Das dritte Hauptkapitel (139-180) bietet einen Einblick in die Theologie Tertullians. Zunächst untersucht Z. Tertullians Haltung zur Eschatologie und Apokalyptik. Hier kommt sie zu dem Ergebnis, dass der Karthager zwar an diesem Kernelement der christlichen Lehre festhält, es jedoch an die „Peripherie“ seines theologischen Denkens verlagert. Vorrangig verfolge Tertullian das Ziel, die Einheitlichkeit und Absolutheit der christlichen Wahrheit zu verteidigen und gegenüber Widersprüchen philosophischer und gnostischer Wahrheit abzugrenzen. Z. betont, dass diese Intention durch eine akute Endzeiterwartung konterkariert worden wäre. Der im 19. Kapitel des „Apologeticum“ geführte Altersbeweis erfüllt den Zweck, das überlegene Alter der christlichen Lehre durch Vereinnahme des Alten Testaments nachzuweisen, um ein seine These zu untermauern, das Christentum sei älter als jede philosophische Erkenntnis.

Mit der Idee, Christen als Untertanen Gottes könnten zu Untertanen des Kaisers werden, falls dieser sich Gott unterwerfe, manifestiert sich Tertullians „Gehorsamstheologie“. Auf Basis der einschlägigen Forschungsarbeiten arbeitet Z. heraus, dass der karthagische Autor eine strikte Trennung von Politik und Religion, also eine Differenzierung von Kaiser und Gott fordere. Im Sinne der paulinischen Vorgaben soll der Kaiser nicht selbst als Gott, sondern durch die Anordnung Gottes als Herrscher gefürchtet und verehrt werden.

In seiner „Reichstheologie“ formuliert Tertullian den Anspruch des Christentums auf die gesamte römische Welt, ohne dabei den Kaiser anzutasten. Z. zeigt, dass mit Tertullian ein christlicher Autor auf den Kaiser zugeht, der in ihm einen Vertreter einer unendlichen Wirkungsmacht auf Erden sieht. Durch diese Teilhabe an der einzigen, unantastbaren Macht erziele der Herrscher einen beträchtlichen Machtgewinn.

Im vierten und letzten Hauptkapitel (181-208) erörtert Z. mit Arnobius von Sicca einen weiteren nordafrikanischen Apologeten, dessen Schrift „Adversus nationes“ hinsichtlich Stil und Adressatenkreis Parallelen zu Tertullians Apologie aufweist. Die inhaltliche Anbindung zu ihrem Hauptautor Tertullian schafft Z. über den Altersbeweis. Zu den primären Einwänden, welche die heidnische Seite gegen das Christentum vorbrachte, gehörte dessen Neuheit. Um diesem Vorwurf zu entgegnen, gab es zwei Alternativen: Entweder der positiv geführte Altersbeweis für das Christentum oder aber eine stimmige Begründung seines Neuheitswertes. Tertullian zeigt hier eine gewisse Ambivalenz, wenn er den Altersbeweis führt und gleichzeitig das Neue der christlichen Lehre verteidigt. Z. kann deutlich machen, dass Arnobius im Vergleich zu Tertullian ausschließlich die Neuheit des Christentums als Beleg für die Wahrheit des Glaubens betont.

Den Abschluss der Untersuchung bildet ein recht umfangreicher Anhang (208-242). Hier finden sich eine Chronologie der Schriften Tertullians, ein Abkürzungsverzeichnis der zitierten Werke, ein obligatorisches Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Stellenregister sowie ein Personen- und Sachregister.

Die Untersuchung von Z. wartet hinsichtlich des wissenschaftlichen Ertrages zwar nicht mit großen Überraschungen auf, erschließt jedoch in guter Form und auf dem aktuellen Forschungsstand die für die Problemstellung wichtigsten Aspekte. Dennoch seien einige kritische Anmerkungen angeführt: So bietet zunächst die formale und methodische Präsentation der Beweisführung Anlass zur Kritik. Das Bestreben von Z., Passagen aus den antiken Quellen und aus der modernen Forschung in ausführlicher Breite zu zitieren, wirkt sich zuweilen negativ auf die Klarheit und auf die Lesbarkeit des Buches aus. Die von Z. praktizierte Zusammenfassung von Kapiteln mit einem Fazit ist generell zu begrüßen. Wenn dies aber teilweise nach wenigen Seiten geschieht (z.B. 28), bleibt der Sinn eines kurzen Resümees fraglich. Überhaupt beeinträchtigen einige Abschnitte mit höchstens ein oder zwei Seiten Umfang die Übersichtlichkeit der Studie. Als weitaus problematischer erweist sich der methodische Aufbau. Ist bei der zentralen Fragestellung der biographische Teil noch zu vertreten, so ergeben sich bei der Berechtigung des Arnobius-Kapitels Zweifel. Die Beobachtungen zu Stil (forensische Struktur) und zu Adressatenkreis (gebildete Christen) sind sicher zutreffend, bleiben aber an der Oberfläche. Bei Vergleichen mit Tertullian kommt es zwangsläufig zu Wiederholungen von Ergebnissen aus den ersten Kapiteln. Hier wäre die Verfasserin besser beraten gewesen, einen kurzen Ausblick auf Arnobius zu formulieren und ihre Ergebnisse in einer separaten Einzelstudie zu präsentieren. Denn die wirklich wichtige Frage, wie der einzelne Christ nach den Vorstellungen Tertullians das tägliche Leben in der paganen Umwelt meistern sollte, folglich wie er zu Ämtern, Militärdienst, Theater und anderen Vergnügungen zu stehen habe, wird von Z. nur am Rande behandelt. Z.B. reicht die alleinige Aussage, Tertullians Schrift über die Schauspiele sei ein Beleg für das offenkundige Interesse von Christen an heidnischen Schauspielen, nicht aus. Sicherlich muss es unter den Christen zahlreiche Gemeindemitglieder gegeben haben, welche sich über christliche Verhaltensregeln in der paganen Welt hinwegsetzten, da die z.T. polemischen Äußerungen Tertullians sonst nicht verständlich wären.1 Überhaupt werden die Entwicklungslinien im Schaffen des Karthagers zu wenig deutlich. Betont der Autor in seiner Apologie (bes. Kap. 30-43) die Rolle des Christen als loyaler Bürger, ermuntert zum Gebet für den Kaiser und hält sogar christliche Beteiligung am Kriegsdienst nicht für ausgeschlossen, so formuliert er in späteren Schriften2 ein unumstößliches „Nein“ zum Kriegsdienst. Z. deutetet die widersprüchlichen Aussagen als Reflex auf eine mögliche Diskussion innerhalb der christlichen Gemeinden. Sie sind aber vor allem beim Autor selbst zu suchen. Denn zu beachten ist, dass die radikalen Äußerungen Tertullians größtenteils aus der montanistischen Phase stammen, jener Zeit, die den Rigorismus des Karthagers um ein Vielfaches steigerte.

Die kritischen Anmerkungen sollen aber keineswegs den Wert der verschiedenen Untersuchungsergebnisse mindern. Die Tertullian-Studie von Z. darf als willkommene Unterstützung für Forschung und Lehre gleichermaßen angesehen werden. Sie verdeutlicht einmal mehr die Bedeutung Tertullians für die Erforschung des frühen Christentums. Man wird sich daher auch in Zukunft Cyprian anschließen dürfen, der nach dem Zeugnis des Hieronymus3 zu seinem Diener täglich gesagt haben soll: „Da magistrum“ - „Reich mir den Meister“.

Joachim Lehnen, Duisburg-Essen
lehnen@uni-duisburg.de


1 Vgl. hierzu A. Kessler, Tertullian und das Vergnügen in „De spectaculis“, FZPhTh 41, 1994, 313-353.

2 Z.B. in dem Werk „De corona militis“, in der die Abgrenzung von der paganen Umwelt nochmals aufgenommen und intensiviert wird.

3 vir. ill. 53,3.


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