„Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers.“ Mit diesem Titel zeigt die Berliner Althistorikerin Henrike Maria Zilling die beiden Pole an, durch welche das Leben der frühen Christen im römischen Staat bestimmt wurde: zum einen der ausschließliche Glaube an Gott, zum anderen der innerweltliche Gehorsam. Tertullian hat sein literarisches Schaffen vor allem der Aufgabe gewidmet, die sich aus diesem Spannungsverhältnis heraus entwickelnden Schwierigkeiten zu lösen. Zu den wichtigsten Werken des nordafrikanischen Apologeten gehört zweifelsfrei das berühmte „Apologeticum“, jene als Gerichtsrede gestaltete Verteidigungsschrift, welche den Nachweis bringen soll, dass die Christen loyale Bürger seien, der Obrigkeit gehorchten und ihre Steuern entrichteten. Tertullian geht noch einen Schritt weiter, wenn er sogar die Christen über die römischen Bürger stellt, da schließlich der Kaiser von Gott in sein Amt gesetzt worden sei. Zu Recht stellt daher Zilling (Z.) dieses Werk in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung.
Nach einer Einführung (11-20) begibt sich Zilling (Z.) im ersten Hauptkapitel (21-82) auf die „biographische Spurensuche“. Z. begründet ihren Einstieg mit der apodiktischen Feststellung, dass jede Beschäftigung mit Tertullian mit dessen Biographie beginnen müsse. Allerdings muss die Autorin bereits zu Beginn das Ergebnis ihrer biographischen Nachforschungen einschränken: „Eine vollständige Biographie des Nordafrikaners Tertullian lässt sich nicht schreiben“ (21). Angesichts der schwierigen Quellensituation bieten daher ihre Untersuchungen zu den Lebensdaten, zur beruflichen Ausbildung und Tätigkeit, zum Beginn der montanistischen Phase sowie zum christlichen Leben im nordafrikanischen Karthago keine neuen, geschweige denn gesicherteren Erkenntnisse. Weder ist der forensische Charakter des „Apologeticum“ ein Beleg für Tertullians Tätigkeit als Jurist, noch lassen die in seinen Schriften auftauchenden militärischen Termini auf einen soldatischen Hintergrund der Familie schließen.
Im Mittelpunkt des zweiten Hauptkapitels (139-180) steht Tertullians berühmtes Werk „Apologeticum“, welches um das Jahr 197 n.Chr. entstanden sein dürfte. In klar gegliederter Form legt Z. eine überzeugende Interpretation der einzelnen Abschnitte der Schrift vor. Zu den in der Forschung häufig diskutierten Passagen gehört sicherlich das Vorwort, in dem Tertullian vorgibt, sich mit seiner Schrift direkt an die Statthalter des römischen Imperiums zu richten. Mit Recht weist Z. darauf hin, dass es sich beim „Apologeticum“ nicht um eine Art christlichen Rundschreibens an alle Statthalter handle. Vielmehr habe Tertullian die Anrede an die Statthalter als geschicktes rhetorisches Mittel eingesetzt, um die eigentlichen Adressaten, die Christen selbst, erreichen zu können. Sicherlich ist es irrig zu glauben, ein Statthalter hätte die Muße gehabt, sich mit einem christlichen Traktat auseinanderzusetzen. Vielmehr erscheint Tertullians Apologie als argumentativer Leitfaden für die christlichen Gemeindemitglieder, angemessen den heidnischen Vorwürfen entgegnen zu können. Gut arbeitet die Autorin heraus, dass das „Apologeticum“ nicht nur eine Schrift zur Verteidigung des christlichen Glaubens darstellt, sondern gleichzeitig auch konzipiert war, um christliche Gemeindemitglieder in ihrem Glauben zu bestärken, also Mut und Zuversicht auszusprechen. In dieses Konzept der Festigung von christlicher Argumentations- und Glaubenskraft gehört die Idee des von Gott eingesetzten Kaisers und des dadurch entstehenden christlichen Imperiums. Vor diesem Hintergrund dürfte sich der Christ gestützt und sicher fühlen.
Das dritte Hauptkapitel (139-180) bietet
einen Einblick in die Theologie Tertullians. Zunächst untersucht
Z. Tertullians Haltung zur Eschatologie und Apokalyptik. Hier kommt
sie zu dem Ergebnis, dass der Karthager zwar an diesem Kernelement
der christlichen Lehre festhält, es jedoch an die „Peripherie“
seines theologischen Denkens verlagert. Vorrangig verfolge Tertullian
das Ziel, die Einheitlichkeit und Absolutheit der christlichen
Wahrheit zu verteidigen und gegenüber Widersprüchen
philosophischer und gnostischer Wahrheit abzugrenzen. Z. betont, dass
diese Intention durch eine akute Endzeiterwartung konterkariert
worden wäre. Der im 19. Kapitel des „Apologeticum“
geführte Altersbeweis erfüllt den Zweck, das
überlegene Alter der christlichen Lehre durch Vereinnahme des
Alten Testaments nachzuweisen, um ein seine These zu untermauern,
das Christentum sei älter als jede philosophische Erkenntnis.
Mit der Idee, Christen als Untertanen
Gottes könnten zu Untertanen des Kaisers werden, falls dieser
sich Gott unterwerfe, manifestiert sich Tertullians
„Gehorsamstheologie“. Auf Basis der einschlägigen
Forschungsarbeiten arbeitet Z. heraus, dass der karthagische Autor
eine strikte Trennung von Politik und Religion, also eine
Differenzierung von Kaiser und Gott fordere. Im Sinne der
paulinischen Vorgaben soll der Kaiser nicht selbst als Gott, sondern
durch die Anordnung Gottes als Herrscher gefürchtet und
verehrt werden.
In seiner „Reichstheologie“
formuliert Tertullian den Anspruch des Christentums auf die gesamte
römische Welt, ohne dabei den Kaiser anzutasten. Z. zeigt, dass
mit Tertullian ein christlicher Autor auf den Kaiser zugeht, der in
ihm einen Vertreter einer unendlichen Wirkungsmacht auf Erden sieht.
Durch diese Teilhabe an der einzigen, unantastbaren Macht erziele der
Herrscher einen beträchtlichen Machtgewinn.
Im vierten und letzten Hauptkapitel
(181-208) erörtert Z. mit Arnobius von Sicca einen weiteren
nordafrikanischen Apologeten, dessen Schrift „Adversus
nationes“ hinsichtlich Stil und Adressatenkreis Parallelen zu
Tertullians Apologie aufweist. Die inhaltliche Anbindung zu ihrem
Hauptautor Tertullian schafft Z. über den Altersbeweis. Zu den
primären Einwänden, welche die heidnische Seite gegen das
Christentum vorbrachte, gehörte dessen Neuheit. Um diesem
Vorwurf zu entgegnen, gab es zwei Alternativen: Entweder der positiv
geführte Altersbeweis für das Christentum oder aber eine
stimmige Begründung seines Neuheitswertes. Tertullian zeigt hier
eine gewisse Ambivalenz, wenn er den Altersbeweis führt und
gleichzeitig das Neue der christlichen Lehre verteidigt. Z. kann
deutlich machen, dass Arnobius im Vergleich zu Tertullian
ausschließlich die Neuheit des Christentums als Beleg für
die Wahrheit des Glaubens betont.
Den Abschluss der Untersuchung
bildet ein recht umfangreicher Anhang (208-242). Hier finden sich
eine Chronologie der Schriften Tertullians, ein Abkürzungsverzeichnis
der zitierten Werke, ein obligatorisches Quellen- und
Literaturverzeichnis, ein Stellenregister sowie ein Personen- und
Sachregister.
Die Untersuchung von Z. wartet
hinsichtlich des wissenschaftlichen Ertrages zwar nicht mit großen
Überraschungen auf, erschließt jedoch in guter Form und
auf dem aktuellen Forschungsstand die für die Problemstellung
wichtigsten Aspekte. Dennoch seien einige kritische Anmerkungen
angeführt: So bietet zunächst die formale und methodische
Präsentation der Beweisführung Anlass zur Kritik. Das
Bestreben von Z., Passagen aus den antiken Quellen und aus der
modernen Forschung in ausführlicher Breite zu zitieren, wirkt
sich zuweilen negativ auf die Klarheit und auf die Lesbarkeit des
Buches aus. Die von Z. praktizierte Zusammenfassung von Kapiteln mit
einem Fazit ist generell zu begrüßen. Wenn dies aber
teilweise nach wenigen Seiten geschieht (z.B. 28), bleibt der Sinn
eines kurzen Resümees fraglich. Überhaupt beeinträchtigen
einige Abschnitte mit höchstens ein oder zwei Seiten Umfang die
Übersichtlichkeit der Studie. Als weitaus problematischer
erweist sich der methodische Aufbau. Ist bei der zentralen
Fragestellung der biographische Teil noch zu vertreten, so ergeben
sich bei der Berechtigung des Arnobius-Kapitels Zweifel. Die
Beobachtungen zu Stil (forensische Struktur) und zu Adressatenkreis
(gebildete Christen) sind sicher zutreffend, bleiben aber an der
Oberfläche. Bei Vergleichen mit Tertullian kommt es
zwangsläufig zu Wiederholungen von Ergebnissen aus den ersten
Kapiteln. Hier wäre die Verfasserin besser beraten gewesen,
einen kurzen Ausblick auf Arnobius zu formulieren und ihre Ergebnisse
in einer separaten Einzelstudie zu präsentieren. Denn die
wirklich wichtige Frage, wie der einzelne Christ nach den
Vorstellungen Tertullians das tägliche Leben in der paganen
Umwelt meistern sollte, folglich wie er zu Ämtern,
Militärdienst, Theater und anderen Vergnügungen zu stehen
habe, wird von Z. nur am Rande behandelt. Z.B. reicht die
alleinige Aussage, Tertullians Schrift über die Schauspiele sei
ein Beleg für das offenkundige Interesse von Christen an
heidnischen Schauspielen, nicht aus. Sicherlich muss es unter
den Christen zahlreiche Gemeindemitglieder gegeben haben, welche sich
über christliche Verhaltensregeln in der paganen Welt
hinwegsetzten, da die z.T. polemischen Äußerungen
Tertullians sonst nicht verständlich wären.1
Überhaupt werden die Entwicklungslinien im Schaffen des
Karthagers zu wenig deutlich. Betont der Autor in seiner Apologie
(bes. Kap. 30-43) die Rolle des Christen als loyaler Bürger,
ermuntert zum Gebet für den Kaiser und hält sogar
christliche Beteiligung am Kriegsdienst nicht für
ausgeschlossen, so formuliert er in späteren Schriften2
ein unumstößliches „Nein“ zum Kriegsdienst. Z.
deutetet die widersprüchlichen Aussagen als Reflex auf eine
mögliche Diskussion innerhalb der christlichen Gemeinden. Sie
sind aber vor allem beim Autor selbst zu suchen. Denn zu beachten
ist, dass die radikalen Äußerungen Tertullians
größtenteils aus der montanistischen Phase stammen, jener
Zeit, die den Rigorismus des Karthagers um ein Vielfaches steigerte.
Die kritischen Anmerkungen sollen aber
keineswegs den Wert der verschiedenen Untersuchungsergebnisse
mindern. Die Tertullian-Studie von Z. darf als willkommene
Unterstützung für Forschung und Lehre gleichermaßen
angesehen werden. Sie verdeutlicht einmal mehr die Bedeutung
Tertullians für die Erforschung des frühen Christentums.
Man wird sich daher auch in Zukunft Cyprian anschließen dürfen,
der nach dem Zeugnis des Hieronymus3
zu seinem Diener täglich gesagt haben soll: „Da magistrum“
- „Reich mir den Meister“.
Joachim Lehnen, Duisburg-Essen
lehnen@uni-duisburg.de
1 Vgl. hierzu A. Kessler, Tertullian und das Vergnügen in „De spectaculis“, FZPhTh 41, 1994, 313-353.
2 Z.B. in dem Werk „De corona militis“, in der die Abgrenzung von der paganen Umwelt nochmals aufgenommen und intensiviert wird.
3 vir. ill. 53,3.