Wolfgang Spickermann: Germania Superior. Religionsgeschichte des römischen Germanien Tübingen: Mohr Siebeck 2004 (Religion der römischen Provinzen 2). XXIII, 663 S. Euro 129. ISBN 3-16-146686-1.


Der vorliegende Band stellt den um die Spätantike erweiterten Teil der Habilitationsschrift Wolfgang Spickermanns „Untersuchungen zur Geschichte der Religionen in den germanischen Provinzen Roms von der Eroberung bis 230/60 n. Chr.“ an der Universität Osnabrück dar.
Die von Hubert Cancik (Berlin) und Jörg Rüpke (Erfurt) herausgegebene neue Reihe "Religion der Römischen Provinzen", in welcher der Band erschienen ist, hat zum Ziel, die Religionsgeschichte des Römischen Reiches als Geschichte 'römischer Religion' in den Provinzen in einer möglichst umfassenden und einheitlichen Form darzustellen und hat als Bezug das 1999 auf Antrag u.a. der Herausgeber eingerichtete Schwerpunktprogramm „Römische Reichsreligion und Provinzialreligion. Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse in der antiken Religionsgeschichte“ der DFG. Spickermann erfüllt mit dieser Überblicksdarstellung ein Desiderat der Forschung, denn seit der Arbeit von Friedrich Drexel1 ist das Material durch zahlreiche Neufunde in erheblichem Maße angewachsen.
Die Provinz Germania Superior besaß durch die starke römische Militärpräsenz, Umsiedlungsaktionen der frühen römischen Kaiserzeit und Zuzug aus anderen Gegenden des Reiches keine einheitliche religiöse Tradition. Wichtig ist die Feststellung, daß dieses uneinheitliche Bevölkerungsgemisch in den beiden Germanien "keine ethnische Identität entwickeln" konnte und eine "eigentümliche gallo-römische Gesellschaft" bildete, "die nicht in vorrömischen (Stammes)-Identitäten verwurzelt war" , weshalb man weniger von einer 'einheimischen' als vielmehr von einer 'bodenständigen' Volksreligion sprechen sollte.
Spickermann setzt sich zum Ziel, die spezifische lokale Ausprägung dieser sich herausbildenden 'eigenen regionalen Religion' im ländlichen und städtischen Umfeld zu untersuchen; besonderes Augenmerk richtet er hierbei auf die politische Organisation und die kulturelle und gesellschaftliche Herkunft der religiösen Trägergruppen. Aufgrund fehlender Zeugnisse werden private und öffentliche Religionen nicht unterschieden. In Anlehnung an das in neueren Forschungsansätzen der Religionsgeschichte entwickelte Modell einer 'Polis-Religion' wählt Spickermann das Modell der 'Civitas-Religion'2 als Schlüssel, um die Hauptkulte der politischen und religiösen Zentren, die Streuung im Umland sowie die Kulte in der Peripherie herauszuarbeiten. Spickermann stellt fest, daß die meisten Stammesverbände in den germanischen Provinzen als civitates verfaßt waren, denen wahrscheinlich bald nach ihrer Gründung das latinische Recht verliehen wurde . Ihre Hauptorte waren vici mit Stadtcharakter, in denen der ordo und die Magistrate der Gemeinde residierten und wo sich auch das kultische Zentrum befand. In Gemeinschaft mit coloniae und municipia mitsamt ihrem Umland wurde im Zuge der Romanisation immer stärker die Stadt zum Bezugspunkt für das Leben der Provinzialen. Zentren des religiösen Lebens der Provinzen waren die Hauptorte der civitates und die vici, denn hier kam die Landbevölkerung zu Markt- und Gerichtstagen, aber vor allem zu Festen zusammen, in den Siedlungen und in ihrem Umkreis befanden sich die Heiligtümer und vor allem die Priesterschaften.
In Ermangelung literarischer Quellen stützt sich Spickermann vor allem auf epigraphische Quellen und Ergebnisse der provinzialrömischen Archäologie. Ausgeschlossen von der Untersuchung bleiben allerdings alle Formen von Magie und Zukunftsdeutung, obwohl sich Spickermann darüber im klaren ist, daß die Trennung von Religion und Magie heute nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.
Die Grenzen der Aufarbeitung des Materials im Rahmen eines Handbuchs sind Spickermann sehr klar; so weist er deutlich darauf hin, daß die 1923 von F. Drexel (wie Anm. 1) geforderte Zusammenstellung aller religionsgeschichtlich relevanten Zeugnisse der germanischen Provinzen im Rahmen einer Geographia sacra nur in Regionalstudien zu leisten ist.Spickermann geht bei seiner Untersuchung chronologisch vor und unterscheidet vier zeitliche Phasen:3
1.) Phase der Eroberung bis zum Ende des Bataveraufstands um 70 n. Chr.: Besonders typisch war in dieser Zeit ein Nebeneinander einheimischer religiöser Traditionen und der Religion der römischen Eroberer. Mogontiacum erscheint als Sonderfall des Heereskults, des militärisch initiierten und geprägten Kultes der Heerführer Drusus und Germanicus.
2.) Phase der Konsolidierung bis ca. 150 n. Chr.: Sie war geprägt durch den Einzug lateinischer Sprache und Schrift; stadtrömische, indigene und auch über Italiker vermittelte orientalische Kulte bedienten sich der römischen Opferpraxis. Auffällig ist, daß fast alle klassizisierten Umgangstempel Mitte bis Ende des ersten bzw. Anfang des zweiten Jahrhunderts n. Chr. entstanden. Offenbar besteht ein Zusammenhang mit der Neuorganisation der civitates nach 70 n. Chr.
3.) Phase der intensiven Romanisation bis ca. 230/260 n. Chr.: In dieser Phase durchdrangen sich die heterogenen Traditionen und religiösen Vorstellungen gegenseitig und brachten eigene bodenständige Kulte regionaler Prägung hervor.
4.) Phase der Auflösung und Wandlung ab 230/260 n. Chr. bis ca. 550 n. Chr.: Ab ca. 254 n. Chr. erfolgt die Preisgabe der rechtsrheinischen Militäranlagen. Interessant ist hierbei, daß teilweise vor dem Abzug der Bevölkerung Weihedenkmäler offenbar kultisch vergraben und versiegelt, also in die Obhut der Götter zurückgegeben worden sind. Hervorzuheben ist ein Exkurs zum Mithraskult; bei der Merkurverehrung lassen sich deutlich indigene Charakteristika festmachen; dies erklärt auch das häufige Vorkommen von Merkurdarstellungen in Mithräen.4 Während im Hinterland große Kultzentren weiter existierten und die polytheistischen Kulte noch lange weiterlebten, läßt sich das Christentum in den Städten vereinzelt seit etwa Anfang, in größerem Maße erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts n. Chr. nachweisen.
Gestützt auf die Kulttopographie zeichnet Spickermann dabei eine Religionsgeschichte der Provinz, die sehr deutlich die Entwicklung einer gallo-römischen Provinzialreligion bis zu ihrem Untergang lange nach dem Einzug des Christentums zeigt. Unter 'Provinzialreligion' versteht Spickermann dabei das Produkt eines weitgehend ungelenkten dynamischen Prozesses im Rahmen der Romanisierung der gallisch-germanischen Provinzen. Sie ist als ein neues religiöses System einer regionalen Religion der römischen Kaiserzeit aufzufassen, ohne daß sich ihre Wurzeln jeweils eindeutig aus keltischem, germanischem oder stadtrömischem Ursprung herleiten lassen. Richtigerweise klassifiziert Spickermann daher die Götternamen nicht in Kategorien wie römisch, keltisch, germanisch, sondern klassifiziert stattdessen sechs Gruppen von Kulten: römische Kulte, öffentliche Kulte, Kaiserkult, militärische Kulte, bodenständige Kulte und 'orientalische' Kulte. Zu den öffentlichen Kulten zählt er alle Dedikationen an die Genien oder andere ausgewiesene Schutzgottheiten, die von Gebietskörperschaften sowie gebietsgebundenen Körperschaften (civitates, pagi, vici, curiae) oder von konkreten Ortschaften veranlaßt wurden. Dazu rechnet er auch Weihungen, die ausdrücklich publice, aus öffentlichen Mitteln oder auf öffentlichem Grund ausgeführt wurden. Diese Kategorien eignen sie sich sehr gut dazu, ein religiöses Profil der Provinz und ihrer civitates zu dokumentieren, welches deutliche regionale Unterschiede erkennen läßt.
Ein Anhang datierter Weiheinschriften, die Bibliographie, ausführliche Indices (Stellenverzeichnis, Ortsverzeichnis, Archäologica, religionswissenschaftliche Begriffe, Namensverzeichnis, Militaria) und eine Verbreitungskarte der 324 bekannten obergermanischen Kultplätze als Beilage runden den Band ab.
Spickermanns Handbuch der Religionsgeschichte der Provinz Germania Superior zeichnet sich durch souveräne Nutzung der breiten Materialbasis aus, ist auch in Einzelbeobachtungen immer wieder überzeugend und setzt damit Maßstäbe für ähnliche Projekte. Daher ist es sehr erfreulich, daß ein weiterer Band zur Religionsgeschichte der Germania Inferior aus Spickermanns Feder in Vorbereitung ist.

Michael Hesse, Witten
sallustius-crispus@gmx.de


1 F. Drexel: Die Götterverehrung im römischen Germanien, Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 14 (1922) 1923, 1-68; ein für ANRW angekündigter Beitrag über Obergermanien von F. Petry ist nie erschienen.

2 J. Scheid: Aspects religieux de la municipalisation. Quelques réflexions générales, in: M. Dondin-Payre / M.-Th. Raepsaet-Charlier (Hrsg.): Cités, Municipes, Colonies. Les processus de municipalisation en Gaule et en Germanie sous le Haut Empire romain, Paris 1999, 381-423, 235-265; T. Derks: Gods, Temples and Ritual Practices. The transformation of religious ideas and values in Roman Gaul, Amsterdam Archeological Studies 2, Amsterdam 1998; G. Woolf: Becoming Roman. The origins of provincial civilization in Gaul, Cambridge 1998.

3 Untersucht wird jeweils das verfügbare Material zu Kultplätzen, Weihinschriften und Bildzeugnissen.

4 Zum Kult der Isis und der Magna Mater sind neueste Ergebnisse aus Mainz noch nicht eingearbeitet worden; vgl. hierzu z.B. J. Blänsdorf: „Guter, heiliger Atthis“: Eine Fluchtafel aus dem Mainzer Isis- und Mater-Magna-Heiligtum in: K. Brodersen, A. Kropp (Hrsgg.): Fluchtafeln. Neue Funde und neue Deutungen zum antiken Schadenzauber, München 2004.


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