C. Moreschini: Lee, Apuleius' Florida Barbara E. Borg (Hrsg.): Paideia: Die Welt der zweiten Sophistik/The World of the Second Sophistic. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004 (Millennium-Studien 2). VIII, 280 S., 48 Tafeln, Euro 74. ISBN 3-11-018231-9.

Der vorliegende Band geht aus einer Tagung hervor, die die Herausgeberin zusammen mit A. Chaniotis und G.W. Most im März 2003 in Heidelberg durchgeführt hat. Wie schon die Tagung ermöglicht nun auch der Band einen fächerübergreifenden, facettenreichen Blick auf die zweite Sophistik.
Siebzehn Beiträge sind in fünf Themenkreise gegliedert: I. Beyond Greek Identity and the Sophists; II. Modes and Media; III. Paideia and the Human Body; IV. Public Places of Paideia; V. Paideia and Patronage. Es soll in diesem Band keineswegs um Literatur und Kunst als isolierte Phänomene gehen; vielmehr werden die Entstehungsbedingungen und gesellschaftlichen Funktionen von Texten sowie materiellen Zeugnissen in den Blick genommen. Ziel ist es, eine Vielfalt von Medien und Genres auf einen gemeinsamen Habitus der zweiten Sophistik hin zu befragen (S. 2). Neben der Darlegung der Fragestellung gibt die Einleitung einen nützlichen Überblick über die einzelnen Beiträge. Ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie Sach-, Namen- und Stellenregister schliessen den Band ab.
Der Begriff der zweiten Sophistik, obwohl notorisch unscharf, stellt in der Mehrzahl der Beiträge weniger ein Definiendum als vielmehr eine heuristische Kategorie dar. Wir werden also nicht mit einem völlig neuen Bild der zweiten Sophistik konfrontiert, sondern finden schon bekannte und weithin akzeptierte Züge dieses Bildes in neuen Kontexten wieder (z.B. in der Münzprägung). Insofern lassen die vorliegenden exemplarischen Untersuchungen tatsächlich den Eindruck eines sich breit manifestierenden, relativ homogenen Habitus entstehen. Dieser Eindruck wird vielleicht dadurch noch verstärkt, dass das Stichwort Paideia, im Titel als eine Art Aushängeschild der zweiten Sophistik gewählt, verschiedene Aspekte in sich vereint: intellektuelle Bildung jeglicher Ausprägung (Borg) genauso wie körperliche Ertüchtigung (Ewald; van Nijf) und moralische Integrität (Drecoll). Hinzu kommt in der zweiten Sophistik ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein. Unter einem pepaideumenos ist denn auch nicht in erster Linie ein ‚gebildeter‘ als vielmehr ein ‚kultivierter‘, traditionsbewusster Mann zu verstehen, der seine Kultiviertheit zudem gern für die Gemeinschaft sichtbar macht (letzteres gilt nicht nur für das Individuum, sondern auch für einzelne Gruppen und die ganze Stadt). Den Eindruck einer überraschend einheitlichen Welt vermittelt insbesondere Bowies Beitrag zur Frage nach regionalen Unterschieden im geographischen Raum der zweiten Sophistik. In die gleiche Richtung weisen Borg, die zeigt, dass paideia in Ost und West gleichermassen ein Ideal ist, und Drecoll, der darauf hinweist, dass Redner und Archon dieselben Werte teilen. Ein harmonisierendes, 'integratives' Bild der zweiten Sophistik entsteht auch in den Beiträgen von Jones, Yildirim und Krumeich, die auf je verschiedene Weise illustrieren, dass sich lokale Interessen, die Anbindung an das klassische Griechenland und die Loyalität zu Rom keineswegs ausschliessen. Borg und von den Hoff wiederum stellen Übereinstimmungen zwischen bildender Kunst und schriftlichen Quellen fest.
Zwischentöne in dieser polyphonen Harmonie erklingen vor allem in den Beiträgen von Bowersock, der mit Artemidor einen 'Aussenseiter' gewählt hat, und Ewald, der grundlegende Unterschiede in der Verwendung des Mythos auf attischen bzw. römischen Sarkophagen aufzeigt. Voreilige Schlüsse sind daher nicht angebracht, und der Band sorgt für Denkstoff auf hohem Niveau.
Im folgenden sollen die Beiträge kurz vorgestellt und einige wenige Punkte, soweit der Rahmen dieser Rezension es zulässt, diskutiert werden.

I. Beyond Greek Identity and the Sophists

C.P. Jones, Multiple identities in the age of the Second Sophistic
Jones stellt die weit verbreitete Annahme in Frage, dass die meisten Exponenten der zweiten Sophistik Rom gegenüber feindlich eingestellt waren und einem dezidierten griechischen Patriotismus anhingen. Am Beispiel von Aelius Aristides und Pausanias zeigt er, dass sich vielmehr verschiedene Loyalitäten problemlos überlagern konnten. in seiner 23. Rede über den Streit um den Vorrang zwischen Pergamon, Smyrna oder Ephesos preist Aelius Aristides alle drei Städte gleichermassen und kritisiert demgegenüber den politischen Niedergang des Mutterlandes. Pausanias betont öfter seine lydische Herkunft (wobei Lydien durch Pelops und Herakles mit dem Mutterland verbunden war). Offenkundig bildet die patris und deren eigene Tradition einen wichtigen Gegenpol zum fernen Ideal des klassischen Griechenland.

B. Yildirim, Identities and empire: Local mythology and the self-representation of Aphrodisias
Yildirim liest die Reliefs der römischen Basilika in Aphrodisias nicht nur als Rückbesinnung der Stadt auf ihre Ursprünge durch die Darstellung von Gründungsmythen. Vielmehr geht es um die Evokation eines vielschichtigen Bezugsrahmens der Polis, der den nahen Osten und die umliegenden Städte genauso mit einschliesst wie den gesamten griechischen Kulturkreis und das politische Machtzentrum in Rom. Innerhalb dieses Geflechts erfüllen die Reliefs die diplomatische Funktion, den Vorrang der Stadt auf lokaler Ebene sowie ihre Anbindung an Griechenland und Rom zu untermauern.

G.W. Bowersock, Artemidorus and the Second Sophistic
Dieser Beitrag behandelt vier Fragestellungen in Artemidors Werk. (1) Die Namen, die erwähnt werden, deuten auf das späte zweite und vielleicht frühe dritte Jahrhundert, so dass der Autor wohl ein Zeitgenosse des Athenaios war. (2) Das Rombild, das die Träume vermitteln, läuft auf einen prägnanten Gegensatz zwischen griechischer und römischer Identität hinaus (S. 58). Zumindest für diesen Autor scheint also das Klischee der Romfeindlichkeit zuzutreffen. (3) Interessant ist Artemidors Darstellung der Sophisten, die er mit Schauspielern und Gauklern in einen Topf wirft. Bisweilen betrachtet er aber die Sophisten auch als Lehrer, in diesem Fall ohne jegliche negative Konnotation. (4) Artemidors Sprachgebrauch schliesslich erweist diesen als Aussenseiter gegenüber "international elites"; vielmehr schreibt er für die lokale gebildete Oberschicht (S. 62). Jones’ Beobachtung, dass ein regionaler Bezugsrahmen bisweilen eine wichtige Rolle spielt, findet hier also Bestätigung.

E. Bowie, The geography of the Second Sophistic
Dieser Beitrag geht von der Frage aus, ob sich innerhalb des organischen Bildes, das uns Philostrat vom Lebensraum der Sophisten vermittelt, regionale Unterschiede beobachten lassen, sei es anhand von Sprache, Deklamationsthemen oder der Bevorzugung bestimmter Textsorten. Die Antwort tendiert zu einem klaren Nein. Eine Ausnahme scheint lediglich der Roman zu bilden. Ein merkwürdiges Phänomen ist die Tatsache, dass wir gleich mehrere Sophisten aus Naukratis, jedoch keine aus Alexandria kennen (s. die Tabelle S. 78). Ob das daran lag, dass Alexandrias politische Struktur anders als die griechischer Städte anderer Provinzen war, ist unklar (S. 70). Jedenfalls traten auswärtige Sophisten wie Dion von Prusa und Aelius Aristides in Alexandria auf. Die Ausnahmestellung dieser Stadt wird also durch die dynamischen Kommunikationsstrukturen der zweiten Sophistik gewissermassen wettgemacht.

II. Modes and Media

Th.A. Schmitz, Alciphron’s letters as a sophistic text
Von der Annahme ausgehend, dass die Briefe Alkiphrons ein durchstrukturiertes Corpus darstellen, liest Schmitz diese Texte als bewusste spielerische Auseinandersetzung mit gewissen literarischen Tricks und Topoi der zweiten Sophistik, als eine Art "metacommentary" zu Deklamationen und prolaliai (ähnlich wie Lukians Dialoge). Dies arbeitet er insbesondere an dem scheinbaren Gegensatz zwischen der Marginalität der schreibenden Protagonisten und ihrer paideia heraus. Allerdings scheint mir die Bildung der Briefeschreiber durchaus nicht so beeindruckend. 2,36,2 könnte gerade auch dahingehend gelesen werden, dass tatsächlich Kreti und Pleti ab und zu "a windbag of a sophist" (S. 94) hören ging, genau wie heute jeder fern sieht oder ins Kino geht. Sapphos Freitod am Leukadischen Felsen gehörte da genauso zum Halbwissen der grossen Masse wie heute derjenige Marilyn Monroes durch Schlaftabletten. So kann es nicht vollständig überzeugen, dass es Alkiphron darum ging, sich selber durch solche Einlagen als "true pepaideumenos" zu erweisen (S. 95); das wäre Ausdruck einer Pedanterie, die ich Alkiphron nicht zutrauen möchte. Viel fruchtbarer erscheint der Ansatz, die Briefe grundsätzlich als Parodien des Bildungskults zu lesen. Der Begriff der Parodie fällt denn auch auf der letzten Seite des Beitrags (S. 104).

R. von den Hoff, Horror and amazement: Colossal mythological statue groups and the new rhetoric of images in late second and early third century Rome
Dieser Beitrag diskutiert die neu in Roms öffentlichem Raum aufkommenden ‚kolossalen‘, also auch aus der Distanz des Zuschauers überlebensgross wirkenden mythologischen Statuengruppen. Manche dieser Gruppen fallen nicht nur durch ihre Grösse auf, sondern auch durch die Stoffwahl, so z.B. wenn Medea im Moment der Ermordung ihrer beiden Kinder oder Achill mit der Leiche des Troilos gezeigt wird. Zweifellos geht es bei diesen Gruppen um die Darstellung starker Emotionen anhand vollendeter techne; dies lässt sich auch mit ekphrastischen Epigrammen belegen.

R. Krumeich, ‚Klassiker‘ im Gymnasion. Bildnisse attischer Kosmeten der mittleren und späten Kaiserzeit zwischen Rom und griechischer Vergangenheit
Von den Bildnissen attischer Kosmeten, denen sich dieser Beitrag widmet, folgen die einen der aktuellen stadtrömischen Mode, andere hingegen klassischen und frühhellenistischen Vorbildern. In einzelnen Porträts können sich diese beiden Tendenzen auch verbinden; von einer Abwendung von Rom kann also auch bei den ‚retrospektiven‘ Bildnissen nicht die Rede sein (S. 146). Vielmehr gehen Loyalität zum politischen Machtzentrum und Vorbildfunktion der klassischen Epoche Hand in Hand.

B.E. Borg, Glamorous intellectuals: Portraits of pepaideumenoi in the second and third centuries AD
Borg gelangt anhand einer differenzierten Interpretation von Frisur, Barttracht und Kleidungsstil verschiedenster, hauptsächlich aus Rom stammender Porträts zu mehreren Schlüssen, die unter dem Stichwort der ‚Universalität‘ des paideia-Ideals zusammengefasst werden könnten. So war paideia nicht nur im Osten, sondern auch in Rom ein massgeblicher Wert, während Sarkophage aus dem dritten Jahrhundert auf ein kontinuierliches, ja wachsendes Interesse an paideia von der zweiten Sophistik bis zur Spätantike hindeuten. Innerhalb der paideia wiederum lässt sich kein bestimmtes Feld ausmachen, das bevorzugt würde (auch nicht Philosophie, wie bisweilen angenommen wird). Die Selbstrepräsentation der Intellektuellen schliesslich als distinguierte Individuen mit zeitaufwendigen Frisuren und Barttrachten spiegelt die gleiche Verbindung von paideia mit "glamorous public performances", die wir aus literarischen Quellen wie Philostrat kennen.

P. Weiss, Städtische Münzprägung und zweite Sophistik
Dieser Beitrag vermittelt einen informativen und spannenden Einblick in das riesige, "in annähernder Vollständigkeit" (S. 187) erhaltene Quellenmaterial der Münzen. Seit Augustus ist die Münzprägung insofern einheitlich, als auf den Vorderseiten gewöhnlich der Kaiser, auf den Rückseiten die Stadt dargestellt wird. Letztere lässt sich gern durch Gründungsgmythen repräsentieren oder durch berühmte Personen der Vergangenheit, die für die Stadt beansprucht werden. Dies setzt selbstverständlich Bildung voraus, zumindest bei einzelnen Individuen, die über die Wahl des Mythos entschieden. Doch das musste nicht notwendig das Spezialwissen eines Sophisten sein; diese schienen im übrigen das Medium lieber zur Selbstdarstellung zu benutzen (S. 194-195).

III. Paideia and the Human Body

O. van Nijf, Athletics and paideia: Festivals and physical education in the world of the Second Sophistic Gegen die ‚communis opinio‘, dass der Sport in der Kaiserzeit an Bedeutung verliere, vertritt van Nijf anhand von epigraphischen und materiellen Zeugnissen die These, dass die Distanz zwischen Paideia und Athletik, zwischen grammatikos und paidotribes kleiner ist als gemeinhin angenommen. Gymnasien übernehmen die Funktion einer "zweiten Agora" (L. Robert); Sportlehrer werden genauso mit Statuen geehrt wie der grammatikos, so z.B. in Oinoanda. Für die Figur des sprachgewandten Sportlehrers, der Werbereden für seine Disziplin hält, bleibt van Nijf allerdings konkrete Belege schuldig (S. 211). Hingegen weist er zu Recht darauf hin, dass literarische Bildung ein Ideal darstellt, von dem die Realität abweichen konnte (S. 214). Tatsächlich sind ungleich mehr inschriftliche Ehrungen von Agonsiegern in sportlichen als in musischen Disziplinen erhalten; offenbar waren letztere die Domäne von auswärtigen, professionellen Teilnehmern. Die relative Erfolglosigkeit des lokalen Nachwuchses in dieser Sparte kommt aber nicht einer Entwertung des paideia-Ideals gleich. Vielmehr bleibt dieses wenigen ‚cultural specialists‘ vorbehalten, während eine breitere Elite versucht, sich auf anderem Gebiet auszuzeichnen.

B.C. Ewald, Men, muscle, and myth. Attic sarcophagi in the cultural context of the Second Sophistic
Ewalds aufschlussreiche Interpretation der unterschiedlichen Verwendung des Mythos auf den im zweiten und frühen dritten Jahrhundert in Athen entstandenen Sarkophagen im Vergleich zu römischen Exemplaren lässt das Bild zweier klar getrennter Kulturen entstehen. In Rom werden die Mythen ‚persönlich‘ gelesen und auf das Individuum und dessen Tugenden zugeschnitten. Diese Art der Mythenrezeption ist unabhängig davon, ob es sich um einen Mythos aus dem griechischen oder römischen Bereich handelt. In Griechenland behält der Mythos dagegen die Funktion der kollektiven kulturellen Identitätsstiftung; Zeitbezüge oder die Identifiktation mythischer Figuren mit dem Verstorbenen fehlen. Am Beispiel eines attischen Hippolytos-Sarkophags betont Ewald, dass der traditionelle ‚Körperkult‘, wie er in der Ephebie gepflegt wird, ein konstitutiver Teil griechischer paideia ist, ja die wohlproportionierten nackten männlichen Körper sind Chiffren perfekter paideia (S. 249).

M. Horstmannshoff, Aelius Aristides: A suitable case for treatment Dieser Beitrag, eine leicht veränderte und erweiterte Fassung eines 2004 auch andernorts erschienenen Aufsatzes, dreht sich um das Verhältnis zwischen (Hippokratischer) Medizin und Asklepiuskult bzw. Tempelmedizin. Ein Vergleich von Inschriften aus Epidauros mit Aelius Aristides’ Hieroi Logoi zeigt, dass sich die Rolle des Gottes durchaus gewandelt hat. Statt die Patienten durch operative Eingriffe direkt zu heilen, ist er Gesprächspartner und Berater in Träumen, während Ärzte in seinem Heiligtum agieren. Doch bleiben Medizin und Religion durch dieses Zusammenspiel eng miteinander verbunden.

IV. Public Places of Paideia

R. Neudecker, Aspekte öffentlicher Bibliotheken in der Kaiserzeit
Öffentliche Bibliotheken sind die Orte, an denen die Fülle antiquarischer Informationen bewahrt wurde, die wir bei Autoren wie z.B. Plutarch oder Gellius finden. Neudecker führt in diesem anschaulichen und informativen Beitrag durch eine Reihe kaiserzeitlicher Bibliotheksbauten in Rom und in den Provinzen und analysiert anhand der Licht- und Raumverhältnisse deren Nutzung. Bibliothek und Staatsarchiv waren in vielen Fällen aufs engste miteinander verbunden, so dass beides auch nicht von Verwaltung, Rechtssprechung und Politik getrennt werden konnte. Es überrascht daher nicht, dass die Bibliotheken nicht jedem offen standen. Als Aufstellungsort für Ehrenstatuen und Grabstätte einzelner wichtiger Individuen dienten sie offenkundig mehr der Selbstdarstellung der Elite denn als Bildungsstätte für die breite Masse.

M. Galli, ‚Creating religious identities‘: Paideia e religione nella Seconda Sofistica.
An den Beispielen von Delphi und Epidauros und deren architektonischer Neuorganisation im zweiten Jahrhundert durch grossflächige Eingriffe einzelner Euergeten zeigt Galli, dass sich diese Heiligtümer keineswegs in einem Niedergang befanden. In Delphi identifiziert Galli einen neu gestalteten Gebäudekomplex als die oikia, die gemäss einem inschriftlichen Zeugnis von der Amphiktyonie der Pythia gewidmet wurde (S. 326). Als Vereinshaus erfüllt das Gebäude verschiedene Funktionen, in denen sich die Kategorien des Privaten und Öffentlichen sowie des Sakralen und Profanen überlagern. Auch in Epidauros findet sich ein solches Gebäude, dessen Nähe zu einem unterirdischen Komplex die Vermutung nahelegt, dass das zugehörige Kollegium einen Mysterienkult pflegt (S. 334). Als Beleg für die Präsenz religiöser Vereine verweist er im übrigen auch auf das Heraion in Samos, wo Ehreninschriften vom Kollegium der Strategen gestiftet wurden (Herrmann 1960, 124-125, nr. 25-26 [nicht 24-25]; nicht übergangen werden darf die Tatsache, dass in Herrmann 1960, 153 nr. 45 Vipsanius Aiolion seine Funktion als exegetes mysterion in Eleusis, nicht in Samos ausübt).

V. Paideia and Patronage

J.-J. Flintermann, Sophists and emperors: A reconnaissance of sophistic attitudes
Aufbauend auf den Studien von Jonas Palm und Johannes Hahn zu den Rollenbildern von Redner und Philosoph, arbeitet Flintermann den Unterschied zwischen Sophisten und Philosophen in ihrem jeweiligen Verhältnis zum Kaiser heraus. Der Aufsatz läuft auf eine Bestätigung von Hahns These hinaus, dass sich Sophist und Philosoph deutlich voneinander unterscheiden. Am Beispiel des Aristides, wie er uns in Philostrats Leben der Sophisten sowie als Autor der 19. Rede (zugunsten der Stadt Smyrna nach dem Erdbeben) und der Hieroi Logoi begegnet, zeigt Flintermann, dass der Sophist dem Herrscher vor allem Bestätigung anbietet, nicht Rat oder Kritik (S. 367; vgl. auch das Zitat von E. Rawson auf S. 376). Diese Haltung kann sogar zu einer gewissen Abneigung der Sophisten gegen parrhesia führen (S. 375); allerdings wünscht der Sophist auf der anderen Seite, nur dem Handwerk der Rhetorik zu dienen und seine Autonomie zu wahren.

T. Whitmarsh, The Cretan lyre paradox: Mesomedes, Hadrian and the poetics of patronage
Dieser Beitrag bietet eine subtile Interpretation der Gedichte des Mesomedes, gemäss Whitmarsh eines Repräsentanten der ‚subelite‘, die normalerweise nicht ins Blickfeld der Studien zur zweiten Sophistik kommt. Mesomedes wird gemeinhin als Freigelassener des Hadrian betrachtet. Auf dieser Grundlage beruhen Whitmarshs Beobachtungen zur sozialen Dynamik der Gedichte, die er als "patronal literature" versteht. Immerhin scheint jedoch die betreffende Quelle, die Suda, nicht sicher zu wissen, ob Mesomedes ein Freigelassener war oder ein enger Freund (e en tois malista philos). Mit anderen Worten, ich sehe keine Notwendigkeit, eine der Emendationen aus dem 18. oder 19. Jh. zu übernehmen. Whitmarshs Argument durchaus dienlich ist die Tatsache, dass die Suda die enge Verbindung zwischen Mesomedes und Hadrian hervorhebt (dafür genügte das Gedicht auf Antinoos); wie prägnant der soziale Gegensatz in Wirklichkeit war, wissen wir nicht. Der Begriff der Subelite verdiente im übrigen eine genauere Definition; es scheint mir nicht zwingend, einen Freigelassenen automatisch zu dieser zu zählen. Doch auch unabhängig von diesen Fragen vermögen die Argumente für eine (vorübergehende) Infragestellung der Hierarchie Kaiser — Dichter nicht restlos zu überzeugen. So bin ich z.B. eher versucht, im Helios-Hymnos bei Phoibeidi terpomenos lyrai (V. 20) an Hadrian-Helios-Phoibos selber zu denken als an den Dichter. Doch auch wenn man Whitmarshs Überlegungen nicht in jedem Detail folgen will, sind sie anregend und bedenkenswert.

C. Drecoll, Sophisten und Archonten: Paideia als gesellschaftliches Argument bei Libanios Dieser Beitrag vertritt die These, dass die Sophisten mittels paideia, deren Fundament die Rhetorik bildet, Einfluss auf Archonten nehmen konnten. In der berechtigen Annahme, dass wir von einer Kontinuität zwischen zweiter Sophistik und Spätantike ausgehen können, wählt Drecoll als Fallbeispiel Libanios. Dessen Reden hat schon Kennedy 1983 als "political oratory" bezeichnet (S. 404 Anm. 7 zitiert). Drecoll interpretiert paideia bzw. das von Libanios und seinen Briefpartnern geteilte Selbstverständnis als sophistes als Kommunikationsgrundlage, die Rhetor und Archon auf ein Set gemeinsamer Werte verpflichtet. Diese Werte erweisen sich jedoch beinah als Gemeinplätze: Aufrichtigkeit, Abwesenheit von Geldgier, Verzicht auf Vergnügungen, Fürsorge, Fleiss, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, u.ä. (S. 408-409). Diese Normen können kaum spezifisch für die zweite Sophistik Geltung beanspruchen; fast jeder antike kalos aner dürfte sie verinnerlicht haben. So bleibt der von Drecoll postulierte moralische Aspekt der paideia der zweiten Sophistik etwas vage.

Der Band ist sorgfältig ediert und hat ein schönes Layout, lediglich im italienischen Beitrag sowie in griechischen und französischen Zitaten häufen sich bisweilen Druckfehler (z.B. S. 343-344).
Bei der Fülle der Themen, die der Band vereint, ist es unvermeidlich, dass die Beiträge unterschiedlich ausfallen und das Buch trotz der eingangs beobachteten Gemeinsamkeiten weniger ein homogenes Ganzes bildet als vielmehr einen spannungsreichen Überblick über gegenwärtige Annäherungen zur zweiten Sophistik gibt. Dabei wird selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben (so wären z.B. durchaus auch Untersuchungen zur Geschichtsschreibung der zweiten Sophistik oder zur zeitgenössischen Philosophie wünschenswert, die hier keinen Platz gefunden haben). Die Beiträge können nicht durchweg als innovativ bezeichnet werden; manche reflektieren auch einen durchaus zuvor schon erreichten Forschungsstand (z.B. Horstmannshoff, Flintermann, Drecoll). Doch nicht nur stehen die Studien insgesamt auf einem hohen Niveau, sondern verdient insbesondere der Band als ganzes für die Breite des Blickfeldes, das er eröffnet, gelobt zu werden.
Fairerweise muss gesagt werden, dass kaum ein(e) Leser(in) über die nötigen Voraussetzungen an detailliertem Fachwissen verfügen wird, um allen Beiträgen gleichviel Interesse entgegenzubringen. Doch wer sich mit der zweiten Sophistik beschäftigt, wird mit Sicherheit gerade im Zusammenspiel der einzelnen Studien zahlreiche Denkanstösse finden.

Karin Schlapbach (Universität Zürich / King’s College London)
karin.schlapbach@kcl.ac.uk


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