Ulrich Lambrecht: Friedrich Lotter, Völkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und Mittelalter (375-600)

Friedrich Lotter: Völkerverschiebungen im Ostalpen-Mitteldonau-Raum zwischen Antike und Mittelalter (375-600). Unter Mitarbeit von Rajko Bratož und Helmut Castritius. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2003 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 39). 282 S. Euro 78,-. ISBN 3-11-017855-9.


Hinter dem etwas trocken klingenden Titel dieses Buches verbirgt sich eine aspektreiche Abhandlung über das spätantike Völkerwanderungsgeschehen und seine Folgen in einem geographischen Raum, dem für die Existenz und die Transformation des Römischen Reiches zwischen Antike und Mittelalter eine entscheidende Rolle zufiel: den norischen und den pannonischen Provinzen. Nach einer Einführung zu den Quellen und damit verbundenen Problemen (Kap. 1) stellt der Überblick über die Thematik der zwischen ost- und weströmischem Reich umstrittenen Zuordnung der pannonischen Diözese (Kap. 2) den Bruch zwischen Ost und West in den Zusammenhang der Politik Stilichos gegenüber dem Herrschaftsbereich des Arcadius und der Instrumentalisierung Alarichs als illyrischer Heermeister durch die Reichsregierung des Ostens wie die des Westens. Die Übergabe Pannoniens an die Hunnen durch Aëtius um 433 und die Abtretung dieser Provinzen an Ostrom, die nach dem Ende des Hunnenreichs hier erfolgende Ansiedlung der Ostrogoten Walamirs durch Kaiser Marcian, später die wegen der Gepidenfrage wieder zu Verwicklungen mit Ostrom führende Einbeziehung Sirmiums in den Machtbereich Theoderichs d. Gr. illustrieren die wechselseitige Einflußnahme Ravennas und Konstantinopels auf diesen Raum mit der Absicht, die eigene Seite auf Kosten der anderen zu konsolidieren. Unter solchen Konflikten litt die widersprüchlichen Einwirkungen ausgesetzte Region als Heimat in ihren Lebensgrundlagen mehr und mehr gefährdeter Romanen und als – vorübergehender – Siedlungsraum für Völkerschaften, die unter innerem und äußerem Druck nach Verbesserung ihrer Lebensbedingungen suchten und bereit waren, jenseits ihrer Aufgaben als Bündnispartner der Römer Interessengemeinschaften innerhalb und außerhalb des Reiches bis hin zur Genese neuer Ethnien einzugehen und ggf. ihre Einflußbezirke und Wohnsitze zu verlegen.

Lotter (L.) beleuchtet die Entwicklung dieses Raumes zunächst unter dem Aspekt der allmählichen Auflösung der römischen Zivil- und Militärverwaltung (Kap. 3) und des – dadurch bedingten – Funktionswandels der kirchlichen Organisation (Kap. 4), die angesichts fortschreitender Entromanisierung der Ostalpen-Mitteldonau-Provinzen die zivile Lokalverwaltung oftmals noch eine Weile aufrechtzuerhalten vermochte. Im Mittelpunkt des Buches stehen „die gentilen Verbände“ (Kap. 5), die sich in diesem Raum formierten, wandelten, auffüllten oder neubildeten wie die Donausueben, Langobarden, Bajuwaren usw. Ausführlich problematisiert L. dabei vor dem Hintergrund der Wanderbewegungen seit dem Beginn des Hunnensturms 375 die diversen Etappen der von Brüchen und Veränderungen statt klaren Entwicklungslinien gekennzeichneten Ethnogenese von Westgoten wie Ostgoten, bis diese sich in Südgallien und Spanien bzw. Italien niederlassen konnten. Überzeugend analysiert L. die Vernichtung des Gepidenreichs durch Langobarden und Awaren als „Zerstörung des Gleichgewichts im Donauraum“ (S. 144): Mit dem Abzug der Langobarden nach Italien endete „die nahezu sechshundertjährige Geschichte ununterbrochener germanischer Präsenz im Mitteldonau-Karpathen-Raum“ (S. 146) und verstärkte sich der Zuzug von Awaren und Slawen, was weit gefährlichere Bedrohungen als bisher für das oströmische Reich zur Folge hatte.

Schließlich untersucht L. die Entromanisierung Pannoniens und Noricums (Kap. 6), etwa durch Flucht von Angehörigen der Oberschicht, Anschluß von Provinzialen an Völkerwanderungsverbände oder Evakuierungsmaßnahmen. Verhältnismäßig gut ist dank Eugipps Severin-Vita und L.s Forschungen hierzu diese Entwicklung in Noricum zu erschließen. Für Bayern ist mit der friedlichen Integration romanischer Bevölkerungsreste unterschiedlicher Stände in die germanische Bevölkerung zu rechnen.

Das Schlußkapitel geht auf Ursachen für den Untergang des weströmischen Reiches ein und benennt als wichtigen Teilaspekt, der sich durch weitere Gründe außerhalb dieses Untersuchungsspektrums ergänzen ließe, insbesondere die Unmöglichkeit der Integration der nach der Schlacht bei Adrianopel in geschlossenen Verbänden auf römischem Boden siedelnden germanischen Völkerschaften mit der Folge, daß deren eigene Identität gewahrt blieb und sie letztlich „trotz vorübergehender Bindung durch Foederatenverträge auf die Dauer aus dem Geltungsbereich römischer Herrschaft und Verwaltung“ (S. 200) herausführte. Die Übernahme des Gebietes der westillyrischen Diözese durch Germanen und Slawen veranschaulicht ein wesentliches Element des von der Antike ins Mittelalter führenden Veränderungsprozesses.

Ulrich Lambrecht, Bornheim-Sechtem
lambre@uni-koblenz.de


PDF-Version ¦ ¦ Inhalt Plekos 7,2005 HTML ¦ ¦ Inhalt Plekos 7,2005 PDF ¦ ¦ Startseite Plekos