Stefan Krauter: Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum. Berlin /New York: W. de Gruyter 2004 Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche Bd. 127). 505 S., Euro 118. ISBN 3-11-018174-6.

Als im Jahr 1864 der französische Historiker Fustel de Coulange in seinem Werk „La cité antique“ einen „citoyen“ durch die Teilnahme am städtischen Kult definierte, und einen „étranger“ als jemanden, der keinen Zugang zum Stadtkult hatte, den die Götter nicht beschützten und der auch nicht das Recht gehabt haben soll, diese Götter anzurufen, schuf er damit ein gemeinsames Grundverständnis für viele folgende Generationen. Seine These zu widerlegen hat sich Stefan K.(rauter) vorgenommen. Eines seiner Gegenbeispiele ist der Roman "Leukippe und Kleitophon" des Achilleus Tatios, in dem der Ich-Erzähler nach stürmischer Seefahrt in Sidon der dortigen Stadtgöttin Astarte ein Dankopfer darbringt. Dieses Motiv umschließt quasi leitmotivisch Anfang und Ende der umfangreichen, das „normale“ Maß weit übersteigenden Dissertation, die in der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen in den Jahren 2000 - 2003 angefertigt wurde.

Die Teilnahme am städtischen Kult kann man auf dem Hintergrund verschiedenartiger Theoriebildung sehen (5-28). K. geht zu Anfang auf einige solcher theoretischen Überlegungen ein, auf die Unterscheidung von „Volksreligion“ und „Universalreligion“ (Joachim Wach, Gustav Mensching), auf die „Pariser Schule“, für die die antike Religion sich nach der Teilnahme am „Schlachtopfer“ bestimmte, und auf die englisch-amerikanische „civic religion“, die der Religion eine primär identitätsstiftende Wirkung zusprach. Alle drei großen Richtungen gehen irgendwie auf Durkheim zurück, unterscheiden sich im Ergebnis nicht allzu sehr und sind insgesamt in ihrer Fokussierung auf einen Primäreffekt zu einfach. Von theologischer Seite wird auf die moderne Paulusexegese verwiesen (29-42), die wichtige neue Einsichten zum Verhältnis Judentum - Christentum gebracht hat, dabei insbesondere auch für den Zusammenhang von Bürgerrecht und Kultteilnahme.

K. will nun selbst keine neue Theorie entwickeln, vielmehr die Quellen selbst sprechen lassen: wer hat was wann wo und wie gemacht (43-50), wobei die Ergebnisse mit den o.g. Modellen verglichen werden sollen. Zwei Gesichtspunkte stehen im Vordergrund, nach denen auch die Arbeit gegliedert ist: Exklusivität, d.h. nur Mitglieder der Gemeinschaft dürfen am Kult teilnehmen, und Kompulsivität, d.h. die Kultteilnahme ist für die Teilnahmeberechtigten verpflichtend und alternativlos. Der Untersuchungszeitraum reicht dabei von Alexander d. Gr. bis ca. 30 v. Chr., in wenigen Fällen, so beim Judentum, bis 70 n. Chr.

Gerade weil der Rez., um es gleich zu sagen, die Arbeit für recht wichtig hält, sei zu Anfang einiges Kritische angemerkt:

Die Fragestellung bezüglich der Kompulsivität erscheint - zumindest aus der Sicht eines Althistorikers - in ihrem zweiten Teil überzogen. Wer glaubt heute noch, dass der städtische Kult in der Antike „alternativlos“ gewesen sei? So erscheint zuweilen K.'s Argumentation, so richtig sie an sich sein mag, ein wenig überholt und wie ein „Kampf gegen Windmühlen“. Eine weitere kritische Anmerkung: Die Formulierung des Untertitels ist nicht glücklich: eine Polis und das "antike(...) Judentum" sind keine homogenen Begriffe. Das Judentum in der Diaspora hatte keine „Polisreligion“; insofern werden hier zweifelhafte Dinge verglichen, abgesehen von dem insgesamt problematischen Verhältnis der Juden zum Phänomen der „Stadt“. Kain tritt zwar in der jüdischen Bibel als Stadtgründer auf (Gn 4,17), was in der Forschung heute nicht nur negativ gewertet wird, aber es ist eben Kain, der für seinen Sohn eine Stadt baut, und die reichen Städte, die Jachwe den Juden im „gelobten Land“ überlässt, die sie selbst nicht gebaut haben, sind doch Keimzellen der Versuchung, der Sünde und des Abfalls (Dtn 6,10f.). Sicher stellt sich das hellenistische Judentum sehr uneinheitlich und vielgestaltig dar, aber wird man diese jüdische Tradition ganz ausblenden können? Zumindest hätte man eine entsprechende Bemerkung erwartet, wenn solche Überlegungen hier unzutreffend sein sollten.


Doch nun zum ersten Hauptteil der Arbeit: Die Exklusivität antiker Religionen (53-229): R legt jeweils dasselbe Frageraster an und prüft bei den hellenistischen Poleis, bei Rom und bei den Synagogengemeinden, aber auch bei Unterabteilungen der Poleis, bei Vereinen und bei „Privatkulten“ (wobei die moderne Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ problematisch ist) folgende Punkte: Wie exklusiv war der Zugang zum städtischen Kult, wie war die Teilnahme, wie die Mitwirkung von Fremden geregelt, wer durfte am Opfermahl teilhaben, und war es Fremden möglich, Zugang zu einem (städtischen) Kultamt zu erhalten?

Für den Bereich der „griechischen Religion“, die ein modernes Konstrukt darstellt, gilt: Es gab keine einheitlichen Regeln für die Teilnahme von Fremden, die überall gegolten hätten. Bei bestimmten Kulten wurden Frauen oder Männer oder Sklaven ausgeschlossen, oder überhaupt jeder außer dem Kultpersonal. Bei Mysterienkulten waren nur Eingeweihte zugelassen. Daneben gab es besondere Reinheitsvorschriften, die im „Normalfall“ alle betrafen, Bürger wie Fremde. Der Ausschluss letzterer wie z.B. in IPerg.255 ist die Ausnahme, wobei auch meist nur bestimmte Fremde betroffen waren. Ordnungsvorschriften wie das Übernachtungsverbot in Tempeln für Fremde (z.B. IG 5,2,3; 7,235; 9,2,1109; 12,7,1.2.68) sind eher ein Beweis dafür, das ihnen tagsüber die Heiligtümer offen standen.

Für die Anwesenheit von Fremden bei Kulthandlungen (70-72) betont K. gerade deren Wichtigkeit, stellen sie doch eine Art „Öffentlichkeit“ dar, wenn es z.B. gilt, Zeugen eines „Wunders“ zu werden (vgl. Paus. 6,26,1f.).

Für die aktive Beteiligung (73-76) gilt generell, dass mehr Leute teilnehmen durften als die, die das Bürgerrecht hatten. Das Kultrecht ging also weit über das politische Recht hinaus, beide fielen also nicht zusammen, und dies gilt für öffentliche und private Opfer. Ein schönes Beispiel hierzu ist das Gebet am Zeusfest in Magnesia, in dem für die Stadt und das (zugehörige) Land Schutz erfleht wird für die eigentlichen Bürger, die Frauen und Kinder, dazu aber auch für "alle anderen dort Wohnenden" (IMagn. 98, Z. 26-29; vgl. IG 12,9,192).

Für die Teilnahme an Opfermahlzeiten (76-80) gibt es tatsächlich einige Belege nur für Bürger, aber auch z.B. für Metöken u.a., vgl. IPriene 113; ISestos 1; IG 12,9,234.

Die Ausführung einer Kulthandlung durch Fremde (80-93) wurde wegen Herodot 6,81 als fraglich angesehen, weil hier immer ein „Proxenos“ mitwirken sollte, was aber eher eine Besonderheit des Verhältnisses „Mutter - Tochterstadt“ gewesen zu sein scheint sowie in Delphi galt. Daneben gibt es aber hinreichende Belege für Fremde, die selbständig Opfer darbrachten (IG IX2,1,718; VII,235; II/III2 1006). Spezielle Opfertarife für Nicht-Einheimische (IG I3 35.255; SEG 35,923 u.a.), die sich offensichtlich nach der politischen „Nähe“ und „Ferne“ zur jeweiligen Polis richteten, zeigen nur, dass solche Opfer eben vorkamen.

Konnten Fremde ein Kultamt in einer anderen Stadt bekleiden (94-98)? Nach den theoretischen Überlegungen Platos (leg. 759c) wohl kaum, und das entspricht auch mehrheitlich dem sonstigen, vorwiegend inschriftlichen Befund. Dennoch gibt es auch hier Ausnahmen: Strabo 14,641 berichtet vom Amt des Megabyzos in Ephesos, das von einem Nicht-Einheimischen bekleidet wurde, galt doch die Artemis von Ephesus geradezu als die "Göttin des Draußen" und war nicht völlig in den Poliskult eingegliedert (98). Ähnlich ist es bei sonstigem Kultpersonal (98-100): Neben den in der Regel Einheimischen gibt es vereinzelte Ausnahmen (IG II/III2 4466; IPriene 195: für bestimmte Opfer ist immer ein Ägypter nötig).

Ein besonderes Augenmerk gilt den Mysterienkulten . Betrachten wir nur die stationären Kulte (Eleusis, Samothrake), ist der Befund eindeutig: Sie waren, von kleineren Schwankungen in politischen Krisenzeiten abgesehen, immer für alle Menschen offen. Auch für die Kulte in Unterabteilungen der Bürgerschaften sowie für Privatkulte (106-113) kann man nach dem Quellenbefund nicht von einer strengen Exklusivität sprechen, so dass sich ergibt: Geht man davon aus, dass Selbstverständliches nicht geregelt werden musste und nur die Ausnahmen quellenmäßig beschrieben werden, kann man sagen, dass generell Fremde nicht vom städtischen Kult in all seinen Erscheinungsformen ausgeschlossen waren, nur bestimmte Fremde bei bestimmten Kulten. Es bestand also nur eine sehr lockere Bindung der Kultteilnahme an das Bürgerrecht, am engsten noch bei der Bekleidung von Kultämtern. Von einer direkten Widerspiegelung sozialer Strukturen im Kult kann also bei hellenistischen Poleis keine Rede sein.

Die Besonderheit der römischen Religion (113-142) sieht K. darin, dass Rom immer schon ein „multikultureller“ Ort war und kultisch kein einheitliches Bild bietet. Problematisch sind alle Rückprojektionen einer Einheit von Religion, Ethnik und Politik in die K.önigszeit und frühe Republik, wie es in der älteren Forschung geschah. Auch hier ist, wie im Griechischen, der Grad der Öffentlichkeit beim Kult nicht entscheidend, sondern die Art und Weise, wie es geschieht (Romanus ritus, Graecus ritus, Albanus ritus, patria sacra, peregrina sacra). Für das Betreten eines Heiligtums gibt es keinen generellen Ausschluss von Fremden, ebenso wenig für die Teilnahme an einer Kulthandlung. Eine Prüfung der Nachricht bei Paulus/Festus (82 M), hostis, vinctus, mulier und virgo seien ausgeschlossen gewesen, endet in gewissen Aporien und scheint sich nur auf den Herakleskult zu beziehen. Die Ausübung einer Kulthandlung durch Fremde scheint in Rom an eine bestimmte Erlaubnis des Senates gebunden gewesen zu sein (Liv. 44,14,3, vgl. 36,35,12; 43,6,5f.; CIL I2 588). Dass für die Ausübung eines Kultamtes , für das verschiedene Kriterien galten (Gell. 1,12,2-4; Dionys. Hal. 2,21,3; Plut. qu.Rom. 73), das römische Bürgerrecht vorgeschrieben war, lässt sich nur mit einer Stelle bei Cicero (Balb. 24,55) über die Cerespriesterin beweisen, und es bleibt die Frage, wieweit man diese Nachricht verallgemeinern kann. Die Kultträger des Aesculapkultes und der Mater Magna sprechen dagegen, von den Haruspices ganz zu schweigen. Es ergibt sich ein sehr lückenhaftes Bild, bei dem die Begrenzung der Kultteilnahme auf römische Bürger eher ein „argumentum e silentio“ zu sein scheint. Für Rom war in jedem Fall wichtig, den Kult als Sache der „Oberschicht“ erscheinen zu lassen. Alle anderen Kriterien spielen eine untergeordnete Rolle.

Bei der Behandlung des Judentums (143-229) klammert K. die Frage nach dem politischen Bürgerrecht aus und ersetzt sie durch die Zugehörigkeit zum jüdischen Ethnos. Er ist sich der Unterschiede zur bisherigen Untersuchung also durchaus bewusst, wenn er den Opferkult in Jerusalem vom Synagogengottesdienst in der jüdischen Diaspora trennt. Allerdings bleibt es problematisch, prinzipiell letzteren auf der gleichen Ebene wie den griechisch-römischen Stadtkult zu behandeln (s. o.).

Für den Jerusalemer Kult nimmt die Tempelinschrift OGIS 598 (= CIJ 1400) eine zentrale Rolle ein und wird entsprechend ausgiebig behandelt. Der Ausschluss eines "allogenes" scheint weniger auf Nichtjuden gerichtet als auf kultisch Unreine. Prinzipiell steht der Tempel allen Völkern offen, wenn sie sich nur an die allgemeinen Vorschriften halten: konzentrisch ausstrahlende Heiligkeit, bestimmte ethische Anforderungen, die Unterscheidung Priester - Laien usw., so dass auch Fremde relativ nahe zuschauen konnten. Für die Frage nach der Bezahlung der Opfer kommt K. übrigens zu dem interessanten Ergebnis, dass nur die Juden insgesamt oder die in Judäa in Frage kommen, nicht etwa ein römischer Kaiser (197-201). Die Frage nach der aktiven Teilnahme von Nichtjuden reduziert sich auf die Abgabe der Opfertiere, weil weder Juden noch Fremde, sondern immer nur die Priester selbst schlachten durften. Bei den Juden in Qumran werden alle Opfer von Nichtjuden abgelehnt (vgl. 4QMMT B 8-9), von Josephus bzw. der „Friedenspartei“ selbige aber lebhaft befürwortet und die gegenteilige Haltung scharf verurteilt (Jos. bell. 2,413-415). Diese Passage, die die Juden der "asebeia" für den Fall beschuldigt, dass nur bei ihnen "ein Fremder weder opfern noch anbeten dürfe" (bell. 414), fasst quasi die gesamte vorliegende Arbeit zusammen und bringt sie auf den Punkt (208)!

Wie steht es mit dem synagogalen Gottesdienst, der sich vom Opferkult der „Heiden“ unterscheidet? Die Weihung verschiedener Synagogen "zu Ehren" z.B. des Ptolemaios sowie die Namen gewisser römischer Synagogen (Agrippenses, Augustenses) und die Stiftung von Synagogen durch Nichtjuden deuten auf eine relativ wenig exklusive Seite des Judentums. In diesem Zusammenhang werden auch die „Gottesfürchtigen“ diskutiert (214-228; leider kennt K. die Untersuchung von St. Mitchell, Wer waren die Gottesfürchtigen? Chiron 28, 1998, 55-64 nicht): Sie wurden bisher als Übergang einer ethnischen Religion zur Universalreligion betrachtet: Die Verpflichtung zum Übertritt bei Vollmitgliedschaft, die auf Vorbehalte stieß, eröffnete dem Christentum in der bisherigen Sicht eine Chance. Es ist aber zu fragen, warum sich einige nicht beschneiden ließen. Die insgesamt 6 Fälle finden sich alle bei Josephus, der viel Ungereimtes dazu erzählt. Von Einzelheiten (Herrscher, Privatleute) abgesehen muss man von jüdischer Seite ein allgemeines Streben nach Proselyten bezweifeln. Eine systematische Missionierung, so auch mehrheitlich die moderne Forschung, gab es nicht. Einige „aufgeschlossene“ Juden boten Gottesfürchtigen die Möglichkeit, am Gottesdienst teilzunehmen. Insofern gab es keine unlösbare Verbindung von Religion und Ethnos und damit keine Exklusivität. Angesichts der insgesamt sehr dürftigen Belege muss aber in Frage gestellt werden, ob man deshalb das antike Judentum als "ganz normale antike Religion" bezeichnen kann (228). Der Unterschied zwischen einem prinzipiell „unverfügbaren“ Ethnos und dem Besitz eines Bürgerrechts, das man erwerben kann, auch ohne eine bestimmte Abstammung vorweisen zu können, bleibt doch zumindest theoretisch entscheidend und unaufhebbar.


Der zweite Teil der Arbeit handelt von der Kompulsivität (230-386), d.h. von der Verpflichtung zum (städtischen) Kult und von dessen angeblicher problematischer Alternativlosigkeit (s. o.). Es geht konkret um Sanktionen, die bei Nichtbeteiligung, Abweichung oder Einführung neuer Kulte verhängt wurden. Zunächst werden die athenischen Asebieprozesse behandelt, die meist unhistorisch und zudem mit politischen Implikationen angefüllt sind. Jedenfalls lässt sich davon kaum auf die alltägliche Kultpraxis schließen. Neben der unscharfen inhaltlichen Bestimmung von „asebeia“ ist zwischen dem Straftatbestand an sich und einem möglichen daraus folgenden Prozess zu unterscheiden. Zwang zum Opfer kann z.B. darin begründet sein, dass den Priestern ein Mindesteinkommen garantiert wird, und weniger „Unglaube“. Zudem sind die Strafandrohungen meist Entzug göttlichen Segens oder Verfluchung.

Zwei besondere Kapitel sind den Diasporajuden in griechischen (265-279) und römischen (304-325) Poleis gewidmet, soweit sie das jeweilige Bürgerrecht hatten, das sie angeblich zur Kultteilnahme verpflichtete, im Gegensatz zum späteren Kapitel „Judentum“ (325-386), wo es um die Frage geht, wie verpflichtend die Juden selbst ihr Judentum empfunden haben.

Es geht zunächst um die Frage nach dem Status innerhalb eines jüdischen „Politeuma“ oder um das volle Bürgerrecht. Abgesehen von dem jetzt tatsächlich nachweisbaren Politeuma in Herakleopolis (266, Anm. 160), in dem die Juden als „politai“ bezeichnet werden, ist aber der Rechtsstatus des einzelnen Juden vom Politeuma (oder wie sonst sich die jüdischen Gemeinden genannt haben mögen) zu trennen. K. fasst das Problem weiter und fragt nach der sozialen und kulturellen Partizipation von Juden innerhalb einer Polis. Problematisch ist zum Nachweis von Juden in der Ephebenausbildung der Rückgriff lediglich auf Namen, wie es K. tut. Auch bei den Euergeten kann ein jüdisch klingender Name keine Beweiskraft haben, wie es für K. der Fall ist, auch nicht ein „ehemaliger Judäer“ (ISmyrna 697). Gewichtiger sind da schon die auf Münzen vorfindlichen Versuche, bestimmte Mythen mit Elementen der jüdischen Frühgeschichte zu parallelisieren, wie im Falle von Apameia Kibotos in Phrygien.

Wenn es in Alexandria eine jüdische Selbstverwaltung gibt, und sei sie noch so eng mit der Polis insgesamt verbunden, und wenn in Herakleopolis eigene Beamte zur Streitschlichtung zwischen Juden und Nichtjuden belegt sind, kann man dies, anders als K. es tut (270f.), auch gerade als jüdische Trennung von der restlichen Bevölkerung ansehen. Es gab sicher einzelne Juden mit dem jeweiligen städtischen Bürgerrecht, aber wohl nur wenige Amtsträger. Aus der Tatsache, dass es überhaupt jüdische Beamte gab, folgert K. vorsichtig, dass die zahlreichen jüdischen Funktionsträger in der Spätantike vielleicht doch in früheren Zeiten Vorgänger gehabt haben könnten. Die Voraussetzung ist allerdings, dass Juden so etwas überhaupt wollten, und hier bot die Zeit ab Konstantin eben andere Bedingungen!

Für die Konfliktherde Alexandria und Kleinasien konstatiert K. keinen „Grundkonflikt“, sondern vielfältige aktuelle Anlässe. Die Forderung der Jonier an Agrippa, die Juden als Jonier sollten auch jonische Götter verehren (Jos. ant. 12,125), eine zentrale Stelle für den Zusammenhang von Bürgerrecht und Kult, wird mit Hinweis auf die in der Forschung vertretene Meinung von der damaligen wirtschaftlich schwierigen Lage Kleinasiens relativiert (278). Prinzipiell sieht K. kein Problem in der Eingliederung: Konflikte blieben kurzfristig, dann fand man einen „modus vivendi“.

Für Rom sieht die Kompulsivität auf den ersten Blick etwas anders aus (279-325): Die schon oben vermerkte Bedeutung der Eliten kommt hier eher zum Tragen, so bei einem Gesetz zur Feier von Caesars Geburtstag, wobei den Senatoren bei Nichtbeachtung eine Geldstrafe angedroht wird (Cass. Dio 47,18,5). Im römischen Sakralrecht gibt es „piacula“ und „multa“ für Kultverstöße, wenn auch nicht systematisch ausgebaut. Auch die „cura morum“ der Zensoren ist hier zu erwähnen. Wie stand es mit der Kontrolle des privaten Kultes? Es gibt nur einen Fall, dem lediglich eine zensorische Rüge ohne strafrechtliche Maßnahmen folgte (Cato, fr. 72 Malcovati). Beim römischen Vorgehen gegen fremde Kulte spielt wieder die Unterscheidung Elite - Massen, Unterschichten, Frauen eine Rolle. Schon die Differenzierung von „römisch“ und „fremd“ muss fraglich bleiben. Meist geht es um Ruhe und Ordnung, bisweilen aber auch um religiöse Inhalte wie beim Bacchanalienprozess. Bei den Eliten stehen mehr die Kontrollansprüche im Vordergrund bei sich ausdifferenzierender Religion als die wirkliche Kontrolle. Von einer ursprünglich völligen Einbettung der Religion in die Gesellschaft kann keine Rede sein; die religiöse Entwicklung gefährdete den Anspruch dieser Eliten.

Wie war die Lage der Diasporajuden in Rom? Die ältere Forschung ging von der Einheit von römischem Bürgerrecht, römischem Kult und dem Verbot nicht offizieller Kulte aus. Ein erstes Zeugnis zu solchen Verboten ist im Jahre 139 v. Chr. die Vertreibung u.a. von Juden aus Rom. Hier ergeben sich viele Fragen, z.B. der nach dem Zusammenhang mit der Gesandtschaft des Simon Makkabäus (1Makk 14,24; 15, 15-24). Aus dem Text geht nicht hervor, dass den Juden die Ausübung einer fremden Religion vorgeworfen wurde. Die Entfernung der privaten Altäre ist grammatisch und inhaltlich als von den Juden unabhängig zu sehen. Es handelt sich jedenfalls nicht um ein erstes Anzeichen eines wirklichen Konfliktes. Auch die Vertreibung des Jahres 19 n.Chr. ist nicht als ein solches Zeichen zu bewerten. Überhaupt scheint hier Tacitus manches zu behaupten, was kaum glaubhaft ist. So kann z.B. der Betrug von vier Männern an der Fulvia kaum die Ausweisung eines ganzen Volkes veranlasst haben, und die Rekrutierung von 4000 jüdischen Soldaten zum Einsatz in Sardinien ist schon größenmäßig ganz unglaubhaft. Vielleicht handelte es sich um eine symbolische Strafaktion, die mit einer Hungersnot in Rom und der Öffnung der alexandrinischen Getreidespeicher durch Germanicus zu tun gehabt haben könnte oder überhaupt mit Germanicus, seinem Tod und Vergiftungsgerüchten, die eine religiös aufgeheizte Stimmung erzeugten. (Dazu jetzt auch Helga Botermann, Die Maßnahmen gegen die stadtrömischen Juden im Jahre 19. n.Chr.: Historia 52, 2003, 410-435, die Tacitus mehr Glauben schenkt).

Bei den Maßnahmen des Claudius gegen die Juden in Alexandria handelt es sich am plausibelsten um zwei Ereignisse der Jahre 41 und 49 n.Chr. Auch hier bleibt manches unklar, aber insgesamt kann man den Schluss ziehen, dass das Judentum nicht als Bedrohung einer angeblich vorhandenen religiösen Homogenität empfunden wurde. Es waren punktuelle Maßnahmen, bei denen sich der Anspruch und der Wunsch der Elite nach religiöser Kontrolle widerspiegelt, aber ohne dauerhafte Wirkung zu zeigen.

Es bleibt die Frage, wie die Juden selbst ihre religiöse Verpflichtung empfunden haben, und welche Strafen ihnen bei Abweichung drohten (325-386). Ausgangspunkt sind Bestimmungen der Tora, bei denen sich aber die Frage nach der Realisierbarkeit der Bestrafungen stellt. Anders ab der Makkabäerzeit, wo die Möglichkeit zur konkreten Umsetzung gegeben war. Die beiden ersten Makkabäerbücher unterscheiden sich hier auffällig: Während religiöser Zwang bei 1Makk sehr ausgeprägt ist, findet sich in 2Makk keine Maßnahme gegen Abweichler. Für den Hasmonäerstaat behauptet insbesondere Josephus Zwangsjudaisierungen an Idumäern und Ituräern. Die Motive bleiben unbefriedigend. Insgesamt stellt sich das Judentum recht uneinheitlich dar, so dass eine Grenzziehung zwischen bestimmten Strömungen und Abweichlern schwer zu ziehen ist. Für die Sanktionen werden bestimmte Qumranschriften herangezogen, die auf Wiederherstellung kultischer Reinheit zielen: Ausschluss von Waschungen, K.ürzung von Essensrationen, Ausstoßung aus der Gemeinde. Obwohl es sich bei diesen Gemeinden um geschlossene Gruppen handelte, lässt sich doch individueller Spielraum und die Grenze totaler Kontrolle erkennen. Für das Diasporajudentum ist die Frage nach Sanktionsmöglichkeiten mit der Form der Organisation verbunden (369-386). Gab es eine interne Strafgerichtsbarkeit? Gehen wir von Rom und seinen 11 Synagogen aus, wird man diese Synagogen als vereinsmäßig geordnet ansehen dürfen, also im Sinne einer Landsmannschaft. Sie besaßen demnach auch eine eigene Gerichtsbarkeit, deren Kompetenzen aber schwer abgrenzbar sind. Die wichtigsten Quellen zu den synagogalen Strafen sind denn auch alle christlicher Natur, verstärkt nur durch Philo, wobei wohl Alexandria eher eine Ausnahmestellung hatte. Jedenfalls war diese Gerichtsbarkeit nicht dazu angetan, religiöse Normen konsequent durchzusetzen.


In einem Schlusskapitel (387-418) gibt K. einen Einblick in die antike Theorie zu Bürgerrecht und Kultteilnahme anhand von Ciceros „de legibus“ und einigen Passagen bei Philo. Cicero schrieb 52/1 v.Chr. das Werk in der Absicht, damit politische Einflussnahme in Rom auszuüben. Es geht darin um das jedem Menschen zur Verfügung stehende Naturrecht, das die Vorfahren an der Natur ablasen, und um das politische, positive Recht, das die Nymphe Egeria K.önig Numa übermittelte. Zwischen beiden besteht kein grundsätzlicher Unterschied. Eine Analyse Ciceros ergibt keine Einheitlichkeit im Religiösen und auch nicht bei der Bestrafung. Es bleibt Raum für andere Bindungen (z.B. Kult von Arpinum; Mysterien von Eleusis). Bei Philo (Mos. 1,34-36; Flacc. 45f.; leg. 156f.281) spielt ebenfalls das Naturrecht eine zentrale Rolle: Auch hier kann man es an der Natur ablesen (wie es die Patriarchen taten), und es wurde andererseits von Moses verkündet. So sollte jeder dem Idealgesetz beitreten. Ähnlich wie Ciceros Theorie von den zwei „Vaterländern“ haben auch die Juden für Philo zwei „politeiai“, Mutterstadt und Vaterland. Beide sind miteinander vereinbar, aber wohl eher auf unterschiedlichen Ebenen. Cicero und Philo ist gemeinsam, dass unter dem Konzept der „zwei Heimatländer“ alles denkbar ist, was ein konfliktloses Zusammenleben ermöglichen kann. In einem Gemeinwesen leben unterschiedliche Menschen zusammen, auch mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen. Dies ohne Zwang, ohne Reglementierung, ohne Kontrolle gewährleisten zu können, erlaubten diese beiden politischen Theorien. Sie kommen der Realität näher als die Vorstellungen von einer kulturell und religiös homogenen Polis.


Ergebnisse (421-426): Es hat sich gezeigt, dass es im Untersuchungszeitraum keine feste Bindung von Bürgerrecht und Religion gibt, wenn auch die Quellenlage sehr bescheiden ist und viele Fragen in Aporien enden. Die meisten Kultakte bei Griechen, Römern und Juden waren auch für Fremde offen. Es gab keine lückenlose Kontrolle, es gab auch keine übergreifenden Ursachen für Konflikte. Es ergeben sich insgesamt Zweifel an funktionalistisch geprägten Theorien. Die Quellen zeigen eine prinzipielle Offenheit für vielfältige Verpflichtungen gegenüber dem Kult, der sich nicht auf die Schaffung kollektiver Identität reduzieren lässt. Sicher hatte Kult auch diese Funktion, aber darüber hinaus weitere zahlreiche Sinndimensionen.

Zu fragen bleibt, wieso die Christen nicht ungestört in dieser Umwelt leben konnten. Nach Paulus war es ihnen unmöglich, an nichtchristlichen Kultakten teilzunehmen. Hier kommt die theologische Dimension ins Spiel, wenn K. formuliert (425), dass es trivial ist, zur Erlangung des Heiles nicht die Gebräuche eines bestimmten Ethnos übernehmen zu müssen, aber nicht mehr trivial, dass man das Heil erlangen kann, ohne die Gebote Gottes zu erfüllen oder erfüllen zu können. Es ist ein Problem, das theologisch mit Begriffen wie „Werke“ und „Gnade“ bezeichnet wird, das nur ganz kurz aufscheint, dann aber nicht weiter verfolgt wird.


Man wird dem Vf. bescheinigen, dass er eine überaus große Stoffmenge sehr sorgfältig bearbeitet hat. Sein Urteil ist fast immer ausgewogen, hütet sich vor vorschnellen Schlüssen. Dennoch bleibt manchmal der Eindruck, dass die Grundthese das Ergebnis doch etwas beeinflusst hat, was dem Rez. besonders beim antiken Judentum der Fall zu sein scheint. Es ist sicherlich in erster Linie eine Frage der fehlenden Quellen, dass man kaum etwas dazu sagen kann, wie denn die Juden selbst sich in einer Umgebung gefühlt haben, die eigentlich nicht ihre Welt war, trotz aller Verflechtungen innerhalb der Polis. Und dass die Frage nach Teilnahme am öffentlichen Leben innerhalb einer Polis sich immer auf die Frage des „Bürgerrechts“ fokussiert, ist schließlich nicht in erster Linie“ eine „moderne“, wie K. meint (265), sondern wesentlich auch ein Ergebnis der antiken jüdischen Quellen selbst, wobei Philo und Josephus, die einzigen wirklich auswertbaren Zeugnisse, wahrscheinlich in keiner Hinsicht repräsentativ für das Judentum insgesamt sind. Die Heranziehung anderer Quellen inklusive der epigraphischen bietet kaum Ersatz. Von diesen „jüdischen“ Vorbehalten abgesehen liegt hier ein Werk vor, dessen Thema höchst wichtig ist zum Verständnis antiker Religiosität, das eine klare Fragestellung konsequent durchzieht und beantwortet, und das der künftigen Forschung als Maßstab dienen wird.


Karl Leo Noethlichs, Aachen
noethlichs@rwth-aachen.de


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