Brian Croke: Count Marcellinus and his chronicle. Oxford: University Press 2001. XVI, 300 S., 2 Karten. Euro 76,58. ISBN 0-19-815001-6

Das Chronikon des Marcellinus Comes, das – in justinianischer Zeit geschrieben – zunächst als Fortsetzung von Hieronymus' Chronik die Jahre 379-518 umfaßte, dann aber vom Autor bis 534 erweitert und später von anderen fortgesetzt wurde, hat in der Forschung eher als Fundort für Informationen denn als ein Text gegolten, der eine eigene Analyse verdiente. Das hier anzuzeigende Buch von Brian Croke zieht eine Summe aus langjährigen, in zahlreichen Aufsätzen dokumentierten Studien, die dieses Werk auf der Basis von Untersuchungen für eine Oxforder Dissertation in den 70er Jahren in eine weitgreifende Analyse der Bedeutung von Chroniken eingebettet haben. Croke hat dieser Monographie vor einigen Jahren eine kommentierte englische Übersetzung des Textes vorausgeschickt.1

Einleitung (1-13)

Croke rechtfertigt sein genau 300 Seiten langes Buch als Fallstudie mit dem Ziel, die Chroniken als Quellen für den Umgang spätantiker Autoren und ihres Publikums mit der Geschichte auszuwerten. Exemplarisch will er mit dem verbreiteten Vorurteil der Forschung aufräumen, hier hätten Männer mit bescheidenen Gaben für ein intellektuell beschränktes Publikum geschrieben. Ein derartiges Mißverständnis sei Konsequenz anachronistischer Vorstellungen, geprägt von Dichotomien wie Klassizität und Dekadenz, Hochkultur und Verfall, Antike und Christentum, Faktentreue und Verfälschung. Die damit verbundene Respektlosigkeit zeige sich auch in der in der Forschung weithin üblichen Anonymisierung der Quellen, deren Autoren man individuelle Konzeptionen nicht zutraue – und dies, obwohl unter ihnen solche sind, von denen man angesehene andere Werke kennt. Auch der Ansicht, Chroniken seien allenfalls eine Vorstufe von historischer Darstellung, fehle eine solide Grundlage.

Crokes eigene Untersuchung wendet sich gegen solche Borniertheiten und nimmt sich vor, die Chronik des Marcellinus als eine spezifische Form des Umgangs mit Vergangenheit zu analysieren: "The nature and functions of chronical writing as a serious and substantial historical enterprise needs to be reclaimed in the history of historiography" (5). Mit dem Anspruch einer paradigmatischen Untersuchung soll also ein Genre schärfer konturiert werden, indem man es kontextualisiert. Leider bleibt Croke dem Leser an dieser Stelle eine Erklärung schuldig, warum gerade das von ihm gewählte Werk sich für solche Zwecke besonders eignet und inwieweit ihm bei aller reklamierten Individualität der Status des Exemplarischen zukommen kann.

Die Arbeit sei seit Mommsens Edition ein Desiderat und könne methodisch an vergleichbare Analysen mittelalterlicher Chroniken anschließen, wo es gelungen sei zu zeigen, daß sich in der Auswahl und Gruppierung der Nachrichten Konzepte nachweisen lassen. Konzeptionell folgt Croke hier einer schon Mommsenschen Maxime, wonach für das Verständnis der Spätantike nicht nur die vorige klassische, sondern auch die folgende Zeit zu vergleichen ist.

Wesentliche Voraussetzung für die Analyse sei es, den Entstehungs- und den Überlieferungsprozeß (construction/copying) des Textes und die dazugehörigen typischen Fehler (z.B. falsche Zuordnungen, Auslassungen; Verschreibung von Zahlen, Auswahl, Veränderung des Ordnungsschemas) transparent zu machen und die Konsequenzen für die aktuelle Gestalt der erhaltenen Manuskripte zu erhellen. Insofern sei es für die Erforschung der Chronik des Marcellinus ein glücklicher Umstand, daß die älteste Handschrift (Bodleianus Auct. T 2.26) nur ein halbes Jahrhundert jünger ist als der vom Verfasser erstellte Originaltext (10).

Beim Versuch, den Kontext einer Chronik und den Standpunkt ihres Autors zu rekonstruieren, sei darauf zu achten, was wie mitgeteilt ist und daß stets die erhebliche Gefahr der Überinterpretation bestehe. Grundsätzlich sei es nötig, karge Notizen multiperspektivisch zu beleuchten und die Ergebnisse zu synthetisieren (11: Plan für die Kapitel 1-4). Außerdem seien die spezifischen Probleme des Textaufbaus und der Überlieferung zu beachten (ebd. Plan für die Kapitel 6-8). Das Ergebnis freilich erlaube es dann, erstens die jeweils einzelne Information besser zu gewichten, und zweitens ein besseres Verständnis der kulturellen Umwelt zu gewinnen, in der die Chronik entstanden ist. Diese Zielsetzung lasse die traditionellen Fragen der bisherigen Forschung nach Quellen und Tendenz hinter sich, könne aber an die philologischen Betrachtungen M. Gussos anknüpfen.

Mit Nachdruck formuliert Croke seine Ausgangsthese, daß das Werk trotz seiner lateinischen Sprache vor allem mit den anderen in Konstantinopel entstandenen Chroniken verglichen werden müsse: „In the chronicle of Marcellinus we see how an educated official of the imperial court viewed and construed the world around him and the course of historical change, especially events in the reigns of Anastasius, Justin I and Justinian through which he lived” (13).

Nach der Einleitung erwartet man eine ambitionierte Tour durch verschiedene attraktive Terrains; man weiß, daß der Expeditionsleiter klare Vorstellungen hat und sich vieler Gefahren bewußt ist. Offen bleibt, wie er ihnen begegnen will. Selbst wenn man zuzugestehen bereit ist, daß viele theoretische und methodische Instrumentarien erst in der konkreten Analyse ausgepackt werden, bleibt ein Unbehagen darüber, daß wesentliche Kriterien nicht eigens bestimmt sind: Was bedeutet es z.B., daß Marcellinus „is essentially an early Byzantine chronicler and this fundamental perspecticeis emphasized throughout this book“ (12, Hervorhebungen T. S.)? Polemik gegen ältere Auffassungen, die den Autor seiner Sprache wegen im Westen verortet haben, ist sicher berechtigt, konturiert die Alternative aber noch nicht.

Marcellinus’ Welt (17-144)

Der erste Hauptabschnitt „The world of Marcellinus“ fragt nach „Man and work“ (17-47), leuchtet den (konstatierten) illyrischen Hintergrund des Autors in seiner Heimat (48-77) und in Konstantinopel aus (78-101) und situiert Marcellinus in der östlichen Hauptstadt (102 [im Inhaltsverzeichnis irrig 103]-142)

1. Mann und Werk
Da „Viewpoint and culture“ eines Autors als wichtige Voraussetzungen für das Verständnis des Werkes (17) berücksichtigt werden müßten, wendet sich Croke zunächst den spärlichen Testimonien in der Einleitung der Chronik und bei Cassiodor zu und wagt eine Skizze von Marcellinus’ Karriere.

Leider präsentiert er die Zeugnisse hier wie sonst ausschließlich in Übersetzung und zuweilen langatmigen Paraphrasen. Unglücklich ist auch, daß wichtige – und keinesfalls selbstverständliche! – Thesen, wie die, daß Marcellinus eine erste Fassung seiner Chronik, die bis 518 reichte, noch in diesem Jahr vorgelegt habe (20), zunächst ohne Kennzeichnung und Begründung in die Darstellung verwoben sind. Erst einige Seiten später trägt Croke nach, worauf gestützt er schließt, daß die ursprüngliche Version kurz nach dem Tod des Kaisers Anastasios am 9. Juli 518 „in or just after July 518, or perhaps early in 519 but no later“ veröffentlicht worden sei (26-28). Die Argumente freilich sind schwach: Croke betont, daß Marcellinus, hätte er Justin längere Zeit beobachten können, dessen „return to orthodoxy“ klarer akzentuiert hätte (27). Aber warum hat er es dann nicht wenigstens in der ergänzten Fassung getan? Offensichtlich war es Marcellinus weniger wichtig als es ihm Croke unterstellt: Das argumentum e silentio ist hier wie meist schwach. Nicht besser steht es mit dem Hinweis, daß Chronikschreiber ihre Werke üblicherweise bis in die unmittelbare Gegenwart fortgeführt hätten: Gerade das nämlich hat Marcellinus nicht getan, sondern seine Fortsetzung und ihren Schlußpunkt – jedenfalls nach Auffassung Cassiodors – durch ein inhaltliches Kriterium, den Beginn der „triumphalen Herrschaft“ Justinians 534 motiviert. Aus dieser Perspektive möchte man annehmen, daß Zäsuren der Kaisergeschichte für Marcellinus entscheidend waren, wie im Jahre 518 Anastasios’ Tod. Über seinen Nachfolger wollte der Chronist zunächst wohl nicht schreiben, so lange dieser noch lebte. Eine solche uralte Praxis kaiserzeitlicher Historiker mag zwar für viele vergleichbare Autoren, auf die Croke verweist, nicht mehr gegolten haben, aber diese bewegten sich meist auch nicht direkt unter den Augen der Machthaber. Insgesamt kann man also auch nach Crokes Ausführungen nichts Genaueres sagen, als daß die erste Ausgabe der Chronik irgendwann nach Anastasios’ Tod, höchstwahrscheinlich aber noch unter Justin erschienen ist.

Vertrautheit mit regionalen Verhältnissen in Illyricum und eine Notiz Cassiodors deuten auf eine Herkunft des Marcellinus aus dieser Region, detailliertere Darstellungen über Ereignisse in Konstantinopel ab 501 legen es nahe, daß er seit ca. 500 in der Hauptstadt Augenzeuge war. Mehr als solche ansprechenden und plausiblen Vermutungen sind allerdings nicht zu erreichen; die Bestimmtheit, mit der Croke seine Überlegungen vorträgt, erscheint deswegen zuweilen übertrieben (20-25).

Cassiodor überliefert, daß Marcellinus als cancellarius Justinians fungiert hat, als dieser patricius war (inst. 1,17,2). Mit Recht betont Croke, daß Marcellinus diese Position bereits zu einer Zeit angetreten haben kann, bevor Justinian den patricius-Titel 523 erhielt, nämlich seit 520, als dieser als magister militum berechtigt war, einen cancellarius zu beschäftigen. 525 wurde Justinian Caesar. Croke hält es für möglich, daß Marcellinus weiterhin cancellarius blieb (28f.). Warum betont dann aber Cassiodor, der im selben Zusammenhang über die weitere Karriere Justinians spricht, daß Marcellinus cancellarius des patricius Justinian war? Das einzig sichere Datum der Biographie des Chronisten besteht in dieser Amtszeit frühestens von 520 bis höchstens 525! Möglicherweise verdankte er – wie Croke plausibel vermutet - seine Bestallung dem Erfolg der (ersten Fassung der) Chronik; über eine frühere bürokratische Karriere ist nichts bekannt (30).

Die Fortsetzung der Chronik bis ins Jahr 534 sei hastig kompiliert worden: Deswegen seien die Jahreseinträge kurz, und so lasse sich die falsche Datierung des Codex Iustinianus erklären. An der früheren Fassung seien nur wenige Ergänzungen vorgenommen worden (31-35).

Durch Cassiodor ist bekannt, daß Marcellinus außerdem de temporum qualitatibus et positionibus locorum geschrieben hat (inst. 1,17,1). Dabei sei es wahrscheinlich um die christliche Ordnung der Zeit und ihre Bewertung sowie um eine Art christlicher und kirchlicher Topographie und Onomastik gegangen; die Beschreibung Daras, die sich nur in einer einzigen Handschrift und genau an der Schnittstelle zwischen der ersten und der zweiten Fassung der Chronik findet, sei wohl aus diesem Werk übertragen (36-37). Ein weiteres von Cassiodor genanntes Werk über Konstantinopel und Jerusalem sei noch im Hochmittelalter bekannt gewesen, ist aber vollständig verloren. Form und Inhalt skizziert Croke, indem er vergleichbare Schriften heranzieht. Zu sicheren Aussagen über die Darstellung kann das naturgemäß nicht führen; immerhin wird deutlich, daß Marcellinus wohl eine Pilgerreise ins Heilige Land und bis nach Dara unternommen hat, vor allem aber wie sehr er sich für Reliquien interessiert hat (37-47).

2. Marcellinus und Illyrikum (48-77)
Cassiodors Kennzeichnung des Marcellinus als Illyricianus (inst. 1,17,2) möchte Croke durch Beobachtungen am Text bestätigen. Die Darstellung in der Chronik wie auch der zeitgenössische Sprachgebrauch zeigten zunächst, daß mit Illyricum die zum Ostreich gehörende praefectura gemeint ist. Vermutungen über die genauere Heimat des Autors stützen sich auf den vergleichsweise ausführlichen Bericht über ein Erdbeben in Scupi (Dardania) im Jahre 518; das stärkere Interesse mag seiner Heimat gelten. Solche und weitere ähnliche Erwägungen kommen über den Status gelehrter Spekulationen nicht hinaus. Ihnen könnten andere an die Seite oder entgegengestellt werden: Hängt die relative Ausführlichkeit der Schilderung des Erdbebens von Scupi vielleicht damit zusammen, daß 518 das Todesjahr des Kaisers Anastasios und zugleich das zunächst avisierte Endjahr der Chronik ist?

In Illyricum endet, wie Croke ausführt, im zweiten Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts die Zeit der Prosperität. Es habe Sicherheitsprobleme gegeben. Marcellinus schenke insbesondere den Hunnen, ihrem König Attila und den desaströsen Folgen ihrer Verwüstungszüge Aufmerksamkeit; Attila habe damals nicht als Geisel Gottes, sondern als der gegolten, der die Provinz Europe verwüstet hatte. Auch hier wird das Zeugnis der Chronik also für weitreichende Aussagen herangezogen: Die Analyse holt aus dem schmalen Text heraus, was herauszuholen ist – und ein wenig mehr!

Im Westen besiegele 454 der Tod des Aetios, der den Hunnen widerstehen konnte, für den Chronisten das Ende des Reichsteiles. Seitdem habe es dort keinen mächtigen General mehr gegeben. Allgemein zeige sich, daß Marcellinus einen konstantinopolitanischen Standpunkt mit Hochschätzung des starken militärischen Führers vertritt. Marcellinus charakterisiere Theoderich den Amaler sehr negativ; das müsse seine persönliche Überzeugung spiegeln, die sich aus der Erfahrung mit den Raubzügen in Illyricum und Thrakien ergeben habe. Nach dem Abzug in den Westen werde nur noch der Tod Odoakers vermerkt; der Chronist beschränke sich – wie im Vorwort angekündigt – auf das Ostreich. In diesem Teilkapitel wird nicht recht klar, warum Marcellinus’ Vorlieben und Urteile eher vor dem Hintergrund illyrischer Verbundenheit und nicht mindestens ebenso gut aus der Perspektive eines Angehörigen der Elite Konstantinopels verständlich sind.

Von den Donativen, die Marcellinus grundsätzlich hätte erwähnen können, nenne er allein die des Anastasios in den Jahren 496 und 500; das habe wohl seinen Grund darin, daß er oder seine Familie zu den Begünstigten der illyrischen Armee gehörte, „a clear indication of the Illyrian bias of the Illyrian chronicler“ (65). Nun ist allerdings nur im zweiten Fall erwähnt, daß das Geld Illyrern zufloß; überdies wird man sicher annehmen dürfen, daß diese Truppen auch andere Zuwendungen erhielten, die der Chronist nicht erwähnt: Die von Croke vorgebrachte Erklärung seiner Notizen überzeugt nicht.

Dasselbe gilt für das Bedauern über Sabinianus' Tod, dessen Schilderung zugleich ein Anwurf gegen den dafür verantwortlichen Zeno sein soll. Der Bericht zum Jahr 481.2 bleibt in dieser Hinsicht freilich unergiebig; man muß wissen und kann dem Text gerade nicht entnehmen, daß der Kaiser für des Heermeisters Tod verantwortlich war, der hier nur als das allen sündigen Menschen drohende Schicksal erscheint. Zweifellos schätzte Marcellinus Sabinianus, wie Croke unterstreicht. Es bleibt aber Spekulation, inwieweit diese Hochachtung persönliche oder familiäre Verbindungen, gar eine frühe Dienststellung unter dem Heermeister oder die Meinung einer „Illyrian community of veterans and refugees in Constantinople“ widerspiegelt.

Auch die Schilderung der Bulgaren- und Slaweneinfälle zeigten wieder einen Autor, dessen Heimat schwer zu leiden hatte. Er schreibe seine Chronik für eine Gruppe illyrischer Veteranen und Flüchtlinge; über Illyrien habe er besonders detaillierte, für uns oft die einzigen Notizen. Illyrien habe damals durch die ständige Verheerung und durch die Abwanderung vor allem nach Konstantinopel viele Menschen verloren. In diesen zeitgeschichtlichen Kontext gehöre auch des Autors Wechsel in die Hauptstadt; diese Zusammenhänge erklärten seine Bewunderung für militärische Erfolge. Militärische Überlegenheit ziehe er einer Appeasement-Politik vor.

3. Illyrer in Konstantinopel (78-101)
Marcellinus scheide für die Zeit nach 395 konsequent Ost- und Westreich. Er beschreibe sich als Römer, beachte dem Vorwort entsprechend in seinem Werk aber nur das Ostreich mit starker Übergewichtung von Konstantinopel und Illyrikum.

Konstantinopel sei die Heimstatt für viele ethnische Gruppen mit starken Eigenheiten gewesen; als Unterscheidungskriterien hätten Herkunft, Sprache, Religion gegolten. Italiker, Afrikaner und Illyrer hätten Latein gesprochen. Auch Seitenzweige der westlichen Hocharistokratie seien in Konstantinopel präsent gewesen, daneben Flüchtlinge aus dem vandalischen Afrika.

Die in der Forschung geäußerte Vermutung, Marcellinus stehe besonders den Anikiern nahe, lasse sich nicht beweisen. Wahrscheinlich gehöre er eher in ein illyrisches Milieu, das weniger elitär-literarisch war. Beispiele seien die Familien Justins und Justinians oder die des Anastasios. Sie seien von Militär- und Reichsverwaltung geprägt und hätten sich trotz verschiedener ethnischer Zugehörigkeit durch gemeinsame regionale und Reichsidentität ausgezeichnet: „Illyrians fighting for the Roman empire“ (90). Sie hätten Kontakte zum nahen Herkunftsland gepflegt und seien tief in theologische Debatten verwickelt gewesen.

Der Bericht über das Erdbeben in Dardania und über den Besuch der illyrischen Bischöfe lasse auf illyrische Interessen des Publikums – und damit indirekt auf dessen Zusammensetzung – schließen. Starke katholisch-römische Bindung schlage durch und werde erwartet; außer Illyrern seien die östlichen Kirchenlehrer [außer Basilios] stark beachtet, von Ambrosius und Augustinus werde nur jeweils der Tod registriert. Dogmengeschichte und die wechselnden Schicksale der Patriarchen interessierten kaum, eher Praxis und Zeremoniell.

All diese Rekonstruktionen sind möglich, immer plausibel, oft sogar wahrscheinlich. Aber die Befunde sind nicht dicht genug, um eine solide Basis zu bilden. Betonungen illyrischer Sachverhalte müssen der Einordnung des Autors und der seines Publikums dienen.

4. Marcellinus und Konstantinopel (102-142)
Wie andere Chronisten auch schenke Marcellinus Konstantinopel überproportional viel Raum. Um seine Darstellung besser einordnen zu können, charakterisiert Croke zunächst die Stadt in dieser Zeit: Sie sei häufig von Feuersbrünsten und Erdbeben verwüstet worden, die religiös gedeutet wurden und die Stadt in einen ständigen Umbauprozeß geführt hätten. Marcellinus bezeichne Konstantinopel als Kaiserstadt, erwähnt aber nur sehr selten Palast und etwas häufiger das Hippodrom. Er spreche mehrmals über den Vorgängerbau der Hagia Sophia und erwähne gelegentlich auch andere Kirchen. Croke schreitet die Hauptstraßen und Gebäude ab und registriert, welche Marcellinus anführt: Insbesondere Statuen und Säulen gelte die Aufmerksamkeit.

Erst seit Theodosius I. bis in die Mitte des fünften Jahrhunderts habe sich der liturgische und kaiserliche Kalender entwickelt; die Ankunft von Reliquien sei kommemoriert worden. Marcellinus gebe dem ebenso wie Anlässen des Hofes (Geburts- und Todestage, Hochzeiten und Jahrestage) viel Raum. Auch die Erinnerung an Naturkatastrophen werde festgehalten. In dieser Darstellungsweise werde die Sakralisierung der Zeit deutlich. Marcellinus’ Darstellung reflektiere eine weit fortgeschrittene Konstitution des liturgischen Jahres – und eine entsprechende Bautätigkeit, die eben nicht erst im sechsten, sondern zu sehr erheblichen Teilen bereits im späten vierten oder frühen fünften Jahrhundert eingesetzt habe (Tabelle S. 124). Die Notizen in der Chronik offenbarten ihren byzantinischen Charakter.

Die gewaltsamen religiösen und Parteikämpfe seien von Marcellinus registriert worden. Allerdings bleibt es fraglich, ob die Darstellung – wie Croke annimmt – die Dichte solcher Ereignisse wirklich erkennen läßt – ebenso wie die Phasen, in denen sie ausbleiben: Es fehlt eine vergleichende Synopse, die alle weiteren Quellen einbezieht. Wie notwendig sie wäre, ergibt sich daraus, daß auch Croke zugesteht, daß Marcellinus selbst manche heftigen Gewalttätigkeiten eben nicht erwähnt (127).

Methodische Überlegungen dieser Art fehlen auch im Abschnitt, der Marcellinus’ Haltung gegenüber den Kaisern beleuchten soll: Auch hier darf aus dem Fehlen von Notizen nichts geschlossen werden. Umgekehrt ist es zwar plausibel, daß die Feindseligkeit gegenüber Anastasios aus dessen Religionspolitik resultiert; aber solche Zusammenhänge sind sehr schwer nachzuweisen, zumal Marcellinus – wie Croke mit Recht bemerkt – durchaus auch aus anderen Gründen an diesem Kaiser Kritik übt – und ihm konsequent die Benennung „Augustus“ verweigert (131). Die sehr positive Haltung gegenüber Justinian ist allenthalben erkennbar: Dieser ist sogar schon unter dem schattenhaften Justin die wichtigste Persönlichkeit.

Der Blick in den Osten des Reiches (137-142) sei weniger umfassend als der nach Illyricum und konzentriere sich stark auf die Auseinandersetzung mit den Isauriern. Croke trägt die Informationen über diese Auseinandersetzung zusammen und merkt an, was davon Marcellinus erwähnt. Dessen Prinzipien würden aber klarer, wenn wichtige Beobachtungen wie die, daß dem Chronisten sehr an exakten Zahlen von Truppenstärken lag, systematisch analysiert und nicht lediglich zur Unterstützung einer Einzelbetrachtung in einer Anmerkung thematisiert würden (139 A. 120). Die Kriege gegen die Perser werden alle angesprochen, freilich meist nur der Beginn der Auseinandersetzungen und ihr Ende.

Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung und einer weiterführenden Bemerkung dazu, daß die zweite ergänzte Auflage „byzantinischer“ gewesen sei als das ursprüngliche Werk. Dieses Urteil hätte eine ausführlichere Begründung verdient, in der auch die Kriterien deutlicher hätten gemacht werden müssen.

Die Chronik und ihre Überlieferung (145-265)

Im zweiten Hauptabschnitt finden sich zum einen allgemeine Überlegungen zum „Schreiben von Chroniken in der Spätantike“ (145-169), die dann konkret auf Marcellinus’ „Verfertigung der Chronik“ (170-215) angewendet werden, zum anderen Untersuchungen über den „Fortsetzer des Marcellinus“ (216-236), über das „Nachleben der Chronik“ (237-256) und eine Zusammenfassung mit Blick auf das Verhältnis von „Chroniken und christlicher Kultur“ (257-265).

5. Das Schreiben von Chroniken in der Spätantike (145-169)
Marcellinus Werk hatte keinen eigenen Titel. Wenn Cassiodor es „Chronica“ genannt habe, sei damit auch eine Zuordnung zu einer bestimmten Gattung verbunden. Damit stimme der Befund vieler Handschriften überein, wo das Werk als Fortsetzung der sogenannten Chronik des Hieronymus überliefert sei. Croke wendet sich deswegen konsequent der Bestimmung der Eigenart spätantiker Chroniken zu. In einer glänzenden Übersicht nennt er folgende Charakteristika:

  1. Es handelt sich um eine christliche Innovation im Umgang mit der Geschichte, in der es darum geht, Einheit und Zusammenhang der gesamten Geschichte als Niederschlag göttlicher Vorsehung nachzuweisen.

  2. Basis sind die chronologischen und -graphischen Leistungen seit Eratosthenes (Vereinheitlichung der lokalen Datierungsschemata) und (häufig) die Anwendung entweder des aus dem Buch Daniel entlehnten Schemas der 4 Königreiche oder der aus der Bibel abgeleiteten Vorstellung von den 6 Menschenaltern zu je 1000 Jahren. Bei den Berechnungen spielen auch die Osterfestlegungen eine Rolle.

  3. Der Aufbau ist durch Jahres- und Herrscherlisten gegliedert; dazwischen werden einzelne Ereignisse eingetragen.

  4. Die einzelnen Chroniken erweisen sich als Adaptionen, Fortsetzungen früherer Werke, die sie auch nur in Auswahl verwenden. Die Überlieferung wird noch dadurch kompliziert, weil die Abschreiber gelegentlich vergleichen und aus anderen Chroniken Einträge übernehmen.

  5. Die Chroniken dienen als grundlegende Nachschlagewerke für theologische und exegetische Traktate.

  6. Die Autoren (Prosper von Aquitanien, Hydatius, Marius von Avenches, Victor von Tunnuna, Johannes von Biclaro, Isidor von Sevilla werden v. a. besprochen) verfügen über hinreichend literarische Bildung und über den Zugang zu Büchern; sie sind oft viel gereist. Je später desto mehr gehören sie eher dem Klerus als dem Reichsdienst an.

  7. Chroniken gehören zum breiten christlichen Diskurs, der ein Publikum in allen sozialen Gruppen und Schichten erreichen will.

  8. Viele der Autoren schreiben auch andere Werke als Chroniken. Die Unterscheidungslinie ist nicht zwischen Chronisten und Historikern, also Autoren, sondern zwischen Chroniken und Geschichtsschreibung, also Werken, zu ziehen.

  9. Das Publikum erwartet die Fortführung einer bekannten christlichen Geschichte; man verwendet die Chroniken als Nachschlagewerke/Handbücher.

6. Das Erstellen der Chronik (170-215)
Wer eine Chronik vorlegen wollte, mußte nach Croke

  1. das chronographische Schema festlegen

  2. Quellen für seine Einträge suchen

  3. Informationen umarbeiten oder übernehmen

Typisch östlich verwende Marcellinus die Indiktionenrechnung; bei der Datierung nach Konsulaten setze er den östlichen Konsul voraus und übergehe die westlichen, die im Osten nicht anerkannt waren; auch die kaiserliche Titulatur entspreche der Sicht des Ostens, des dortigen Hofes. Für die Jahre 379-469 sei eine gemeinsame Quelle mit dem „Chronikon Paschale“ und den „Consularia Constantinopolitana“ unübersehbar. Das „Chronikon Paschale“ wechsle danach die Quelle, bei Marcellinus blieben Stil und Aufbau dieselben wie in den vorigen Abschnitten. Croke flicht in diese Analyse noch – forschungskritische und hilfreiche – Untersuchungen zum allgemeinen Charakter von Stadtchroniken und zu den sogenannten Consularia ein, die aber besser im vorigen Kapitel ihren Platz gefunden hätten. Sogar in den Abschnitten über die Zeit, die er selbst erlebt hat, greife Marcellinus auf Texte und Dokumente zurück. Auffällig sei die Konzentration des Inhalts der gemeinsamen Quelle auf den Hof sowie die Zeremonien und Riten der Stadt, auf das „Kaiserzeremoniell“.

Über den Westen seien nur sehr grundlegende Daten vor allem im Zusammenhang mit dem Kaisertum festgehalten. Das entspreche der Praxis byzantinischer Chroniken, deren Verfasser auch keine Mühe der Überprüfung auf sich genommen hätten. Die Bemerkung zum Ende des Westreiches 476 passe besser in eine östliche Perspektive, als daß man sie auf komplizierten und unwahrscheinlichen Wegen auf eine westliche Perspektive zurückführt. Für die Jahre bis 518 habe Marcellinus eine Papstliste benutzt, die genauere als Jahresdaten nicht enthalten habe. Auch sie könne gut aus dem Osten stammen. Ob das Interesse am Papsttum sich wirklich mit der illyrischen Herkunft des Chronisten erklären läßt, muß dahingestellt bleiben. Die Benutzung von Orosius’ Geschichtswerk für die Jahre 379-414 sei offensichtlich; häufig sei es wörtlich abgeschrieben, gelegentlich ein wenig gekürzt. Die Annahme einer Zwischenquelle sei unnötig. Gennadius’ „de viris illustribus“ diene dort als Lückenbüßer, wo Marcellinus sonst nichts des Berichtens Wertes gefunden habe. Gründlich sei Palladios’ Chrysostomus-Biographie benutzt. Die anstößige Angabe über den Festtag des Heiligen könnte einer Ordnung aus der Zeit vor Heraklius entsprechen. Ein anonymer Traktat über die Auffindung des Hauptes Johannes des Täufers sei wohl im griechischen Original verwendet worden. Weitere Werke könnten benutzt sein, ließen sich aber nicht mehr identifizieren. Dazu kämen persönliche Erinnerungen, die aber – insbesondere bei der Neuausgabe – eilig eingetragen worden seien.

Die Organisation des Materials sei selbstverständlich gewesen und habe keiner theoretischen Reflexion bedurft. Die göttliche Vorsehung habe ein umfassendes Erklärungspotential bereitgestellt: Naturkatastrophen seien als Zeichen gedeutet, Wunder als Willensäußerungen Gottes registriert worden. Wie moderne Chronik-Jahrbücher sei das Werk des Marcellinus also Formgesetzen unterworfen: kurz, ausgewählt, konzentriert auf (im Zeitverstand) allgemein Interessantes.

7. Der Fortsetzer des Marcellinus (216-236)
Das „Additamentum“ reiche bis 548, vielleicht bis in die 550er Jahre. Die älteste Handschrift stamme aus Italien im 6. Jh. (jetzt Bodleian Library Oxford); Marcellinus’ Text und die Fortsetzung seien von derselben Hand, ein direkter Zusammenhang mit Cassiodors Vivarium nicht zu beweisen. Autorschaft und Entstehungsort blieben unklar. Italien und Konstantinopel – allerdings nicht das zeremoniale Leben – seien nun die wichtigsten Gesichtspunkte. Der Autor sei orthodox und teile die Ansicht des Hofes – auch in der antigotischen Haltung. Das Werk sei gleichwohl nicht unmittelbar am Hof entstanden, sondern spiegele eine allgemein in Konstantinopel verbreitete Haltung der mittleren 550er Jahre wider; Verbindungen zu italischen Exilierten ließen sich nicht erweisen und seien unwahrscheinlich. Die Übereinstimmungen mit Jordanes' „Romana“ seien am besten mit gemeinsamen Quellen zu erklären.

8. Das Nachleben (237-256)
Cassiodors Empfehlungen der Chronik hätten Handschriften in italischen Klöstern angeregt. Ein weiterer Traditionsstrang führe zur Handschrift in St. Omer und sei mit Irland verbunden. Dort müsse die Chronik im frühen siebten Jahrhundert bekannt gewesen sein. Direkt oder vermittelt werde sie von Beda benutzt und habe auch sonst im angelsächsischen Britannien Spuren hinterlassen: Prominent sei insbesondere der Bericht über die Auffindung des Hauptes Johannes des Täufers gewesen.

9. Zusammenfassung: Chroniken und christliche Kultur (257-265)
Das Werk sei als byzantinische Chronik erwiesen und gehöre nicht in westlich aristokratische Kreise am Hof von Konstantinopel. Die Chronik ordne – wie andere auch – die Zeit unter dem Aspekt der göttlichen Vorsehung. Sie müssen zusammen mit Predigt, Ritual und Zeremoniell gesehen werden. Umgang mit Geschichte gehöre nicht mehr zur Rhetorik, sondern sei Teil der Religion.

In beiden Teilen zeichnet sich das Buch durch subtile Untersuchungen aus, die auf der Basis einer engen Vertrautheit mit dem Text und einer stupenden Kenntnis des kulturellen Umfeldes zu wesentlichen Fortschritten führt und viele Irrtümer der bisherigen Forschung überwindet. Die Tragfähigkeit der Ergebnisse ist aber sehr unterschiedlich. Denn wenn Croke im zweiten Teil eher Texte miteinander vergleicht sowie Konventionen rekonstruiert und verifiziert, bewegt er sich in einem System, das wesentlich weniger komplex strukturiert ist als die „Welt“ des Autors im ersten Teil. Die Schlußfolgerungen dort sind zwar fast immer plausibel, ruhen aber doch oft auf einem zu schmalen Fundament: Autor und erstes Publikum bleiben wohl doch noch mehr im dunkeln, als sie Croke darstellt. In summa: Man liest jede Seite mit Gewinn – auch dort, wo man widersprechen möchte. Es lohnt sich also, sich lange damit zu beschäftigen.2

Tassilo Schmitt, Bremen
tschmitt@uni-bremen.de


1 B. Croke, The Chronicle of Marcellinus: Translation and commentary, Sydney 1995; vgl. die Rezension von M. Whitby, Early Medieval Europe 5, 1996, 222-225.

2 Der Rezensent hat sich allerdings dafür zu entschuldigen, daß sehr viel Zeit vergangen ist, bis er diese Besprechung vorgelegt hat.


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