Virgilius Maro Grammaticus, Opera omnia. Edidit Bengt Löfstedt. Monachii et Lipsiae: Saur 2003 (Bibliotheca Teubneriana). XVIII+267 pp. ISBN 3-598-71233-2. Euro 128.00.


Als ich als Student Paul Lehmanns Buch über die Parodie im Mittelalter las, war ich sogleich fasziniert von jenem seltsamen Grammatiker, der „12 Arten Latein, 4 Wortgeschlechter, 50 Verba ohne Singular unterscheidet, [...] von Grammatikerfehden über den Inchoativ berichtet, die 15 Tage und Nächte gedauert hätten, von der zweiwöchigen Disputation über den Vokativ von ‚ego‘ etc.“1 Ich übersetzte damals für mich die 15. Epitome über den Katalog der Grammatiker: Dort wird von einem 1000jährigen Donat aus Troja und dessen Schüler Vergil berichtet, der 70 Bände über Metrik sowie eine Epistel an den „asiatischen Vergil“ über die Erklärung des Verbums schrieb, weiterhin von des letzteren Buch De duodecim Latinitatibus, in dem beispielsweise zu lesen steht, dass in der sechsten Latinität namens Lumbrosa für ein gebräuchliches Wort ein ganzer Vers geschrieben wird (wie gabitariuum bresin galsiste ion für „lesen“ oder nebesium almigero pater panniba für „Leben“2), schließlich von drei Vulcani (oder Lucani?), die Lehrer seines eigenen Lehrers Aeneas gewesen seien.3 All dies bestärkte mich darin, dass Lehmann recht hatte, wenn er den „dritten Vergil“, also unseren Virgilius Maro Grammaticus4 (der echte Vergil wird bei ihm nicht erwähnt), für einen Parodisten hielt.5 Eine weiterführende Beschäftigung meinerseits mit diesem Autor scheiterte damals allerdings an der sprachlichen Schwierigkeit des Textes, der ich mich nicht gewachsen fühlte. Heute weiß ich, dass das keine Schande war, und wenn jetzt selbst der Editor Bengt Löfstedt, Professor emeritus an der UCLA und einer der herausragenden Experten auf dem Gebiet der mittelalterlichen Grammatik, bekennt, er verstehe eben diesen Text streckenweise nicht6, so ist das irgendwie tröstlich.

Der wahrscheinlich aus Irland stammende7 Virgilius Maro verfasste um die Mitte des 7. Jahrhunderts n.Chr.8 zwei grammatische Werke: zum einen 15 sogenannte Epitomae (von denen nur 12 erhalten sind) sowie 8 Epistolae. Letztere behandeln die üblichen acht Redeteile, erstere sind angeblich Exzerpte aus den Büchern früherer Grammatiker und behandeln zwar teilweise Themen der Ars Maior des Donat (in freilich sehr unorthodoxer Weise), aber auch so abstruse Gegenstände wie die Scinderatio fonorum, die „Aeneas“ erfunden haben soll und beispielsweise auch bei „Cicero“ nachzuweisen sei (RRR SS PP MM N T EE OO A V I = Spes Romanorum perit)9, oder den oben zitierten Katalog der Grammatiker mit den 12 Latinitäten sowie 12 weitere (andere) genera Latinitatis, die am Beispiel der Wörter für „Feuer“ exemplifiziert werden: ignis, quoquihabin, ardon, calax, spiridon, rusin, fragon, fumaton, ustrax, uitius, siluleus, aeneon.10 Es ist evident, dass die Basis jeder Beschäftigung mit Virgilius Maro Grammaticus eine solide Textedition sein muss. Die editio princeps verdanken wir, wie so vieles andere, A. Mai,11 die erste textkritische Ausgabe J. Huemer.12 Letztere wurde jedoch bald nach ihrem Erscheinen von Th. Stangl als unzureichend erwiesen und in nicht wenigen Punkten korrigiert.13 Nachdem D. Tardi 1928 eine Neuedition lediglich der Epitomae vorgelegt hatte,14 folgte erst 1979 eine neue Gesamtausgabe (mit italienischer Übersetzung) durch G. Polara.15 In seiner Rezension dieser Ausgabe16 bescheinigte B. Löfstedt der Edition und der Übersetzung ein hohes Niveau, kritisierte jedoch vor allem die unzureichende Ausführlichkeit des textkritischen Apparats („For an author like Virgilius, whose Latin is quite anomalous, it is of particular importance to have a rather full critical apparatus“17) sowie die ebenfalls unzureichende Berücksichtigung der indirekten Überlieferung („But he has really just scratched the surface of the indirect transmission of Virgilius“18). Dieselben, im Prinzip berechtigten Forderungen wiederholte Löfstedt auch in mehreren, etwa gleichzeitig entstandenen Aufsätzen.19 Ob seine jetzt vorgelegte Edition, die nach 117 Jahren die Teubneriana Huemers ersetzt, den von Löfstedt selbst aufgestellten Ansprüchen gerecht wird, wird im Folgenden zu prüfen sein.

Zunächst zu Äußerlichem. Die Praefatio (s. unten) ist knapp und besteht fast ausschließlich aus Kurzbeschreibungen der Handschriften; die angegebene Literatur (p. XVI) ist äußerst dürftig und enthält nur drei Titel aus der Zeit nach 1979. Der textkritische Apparat ist allerdings tatsächlich wesentlich umfangreicher und detaillierter als der Polaras.20 Unverständlich und unbegründet bleibt Löfstedts Entscheidung, entgegen der von Virgilius bezeugten21 und von den Editoren befolgten chronologischen Reihenfolge (Epitomae vor den Epistolae) die beiden Werke in umgekehrter Reihenfolge abzudrucken; ebenso stillschweigend übergeht Löfstedt das Problem der drei fehlenden Epitomae und nummeriert die vorhandenen von I-XII, obwohl die zwölfte eindeutig die letzte Epitome und somit als fünfzehnte anzusehen ist.22 Der nicht mit der Problematik vertraute Leser wundert sich deshalb über die Überschrift AEPITHOMAE XV (103,3) und sucht vergeblich nach den drei letzten, die in dieser Ausgabe nicht vorhanden sind.23

Am Schluss finden sich ein Quellenindex sowie ein Wort- und Formenindex. Ersterer ist ein begrüßenswerter Fortschritt, da die älteren Herausgeber die (echten) Quellen des Virgilius bisher nicht oder nur unzureichend dokumentiert haben. Merkwürdig und unnötig erscheint allerdings die Aufspaltung des Index in drei verschiedene Indizes („Index auctorum“, „Index sacrae scripturae“ und „Index grammaticorum“), zumal die beiden ersten nur sehr wenige Einträge enthalten, die problemlos in den umfangreicheren letzten Index hätten integriert werden können. Polara andererseits hatte wesentlich ausführlichere Wortindizes sowie zwei (ganz unverzichtbare) Namenindizes geboten, die man bei Löfstedt vermisst. Die berühmte Kontroverse der Grammatiker Galbungus und Terrentius über den Vokativ von ego24 etwa lässt sich über Löfstedts Indizes nicht finden.

Betrachten wir nun die Praefatio genauer. Eingangs rechtfertigt Löfstedt die Neuedition vor allem mit den zahlreichen Fehlern und Auslassungen im Apparat Polaras: seine Edition sei zwar omnino bona, der Text nur an wenigen Stellen zu korrigieren und auch die Übersetzung optima, nur der Apparat lasse eben zu wünschen übrig; bevor wir nicht wüssten, was die Codizes wirklich überlieferten, würden wir Virgilius niemals verstehen.25 Außerdem erfülle er, Löfstedt, mit seinem Werk einen letzten Wunsch Bernhard Bischoffs, der ihm quasi auf dem Totenbett sein Material überlassen und ihn mit der Edition beauftragt habe.26

Die (direkte) Überlieferung des Virgilius ruht i.W. auf drei Handschriften: dem Neapolitanus Bibl. Naz. IV.A.34 (= N), dem Parisinus Bibl. Nat. Lat. 13026 (= P) und dem Ambianensis Bibl. mun. 426 (= A), alle aus dem 9. Jahrhundert. Allein N bietet den vollständigen Text der Epitomae und Epistolae, während P und A lediglich die Epitomae (nicht ganz vollständig) überliefern.27 Hinzu kommen vier weitere Handschriften, die zumeist jedoch nur kleinere Passagen bewahrt haben.28 Die indirekte Überlieferung wird bei Löfstedt durch 7 Handschriften sowie durch zahlreiche spätere Grammatikertexte repräsentiert, die jeweils (wie schon bei Polara) in einem eigenen Apparat unter dem Text angegeben werden. Hier ist gegenüber Polara zwar ein Fortschritt in der reichhaltigeren Dokumentation der indirekten Überlieferung zu verzeichnen, für die Textkonstitution erbringt sie aber so gut wie nichts, so dass Löfstedts seinerzeitige Kritik und seine nachdrückliche Forderung: „Der nächste Editor des Virgilius muss der fragmentarischen direkten, besonders aber der indirekten Überlieferung viel grössere Aufmerksamkeit schenken, als es bisher der Fall gewesen ist“29 nicht zu den damals erhofften Ergebnissen geführt hat.

Ein Handschriftenstemma lässt sich für die Überlieferung des Virgilius nicht aufstellen, da die Hauptzeugen N P A alle auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen und die restliche Überlieferung zu fragmentarisch ist, um Maas’sche Regeln anzuwenden. So bleibt nur, wie Löfstedt resignativ feststellt, die einzelnen Lesarten jedes Codex für sich zu beurteilen.30

Die Leithandschrift für die Epitomae (1-11) ist, wie schon für schon Löfstedts Vorgänger, P (und ergänzend A), was erwartungsgemäß zu wenig Textänderungen gegenüber der Ausgabe von Polara führt.31 Anders liegt der Fall bei der zwölften Epitome und den Epistolae, für die N der einzige Textzeuge ist. Polara war N recht konservativ (um nicht zu sagen sklavisch) gefolgt, was Löfstedt ihm vorgeworfen hatte;32 dieser wiederum gibt der divinatio hier recht viel Raum.

Exemplarisch soll ein Detailvergleich der sog. Praefatio Maronis, einer Einleitung des Virgilius zu den Epistolae, die er an seinen Bruder Iulius33 richtete, hinsichtlich der Texte und Apparate Polaras und Löfstedts durchgeführt werden; dieser Vergleich ist auch deshalb besonders interessant, weil mit der (Polara noch unbekannten) Handschrift Ba (Augiensis, Badische Landesbibliothek, Fragm. Aug. 120) ein Fragment dieser bisher nur durch N überlieferten Einleitung aufgefunden wurde.34 Die Stellenangaben beziehen sich auf die Ausgabe von Löfstedt.

1,3 Tarquinum Löfstedt (nach N und Ba [Terquinum]), Tarquinium Polara (nach N², aber nicht im Apparat vermerkt). Da Tarquinus eine erfundene Person ist, macht es keinen Sinn, den Namen an das bekannte römische Gentilnomen anzugleichen.

1,4 eon Löfstedt, con Polara (ohne Anmerkung im Apparat). Die Stelle ist, so unscheinbar sie aussieht, von tiefgreifender Bedeutung. eon ist eine Phantasie-Präposition, die in der vierten Art der philosophischen Latinität für apud steht (95,11).35 Mai konjizierte an dieser Stelle con (= cum) für eon, um ein sinnvolles Wort herzustellen – völlig verfehlt, aber mit fatalen Folgen: Alle Editoren seit Mai schrieben an den Stellen, an denen eon überliefert ist, stets con,36 und geistreiche Sprachwissenschaftler erklärten dies mit einer im gallischen Latein üblichen Verwechslung von con (cum) mit apud.37 Löfstedt hat jetzt dankenswerterweise mit diesem Spuk aufgeräumt und in seiner Ausgabe konsequent eon geschrieben.

1,5 ipsa Löfstedt (nach Ba), ipse Polara (nach N). Ba bietet sicherlich die lectio difficilior, doch weist die Handschrift ansonsten so viele Fehler auf, dass ipsa auch bloße Verschreibung sein könnte; Löfstedts (verständliche) Begeisterung für Ba ist hier wohl etwas übertrieben.

1,17 aque erat Löfstedt (nach Ba, om. N), <aqua erat> Polara. Die Ergänzung ist jetzt durch Ba glänzend bestätigt, allerdings erscheint der Nominativ angesichts der Formulierung in 1,16 (et hoc flumen uinum erat) plausibler als der Genitiv. Auch hier schätzt Löfstedt Ba wohl zu hoch ein.

2,21 bibentesque Löfstedt (nach Ba, N², Mai), libentesque Polara (nach N). Die Verbesserung der evident falschen Lesart von N (Fehler nach dem vorangehenden ludebant) ist jetzt durch Ba bestätigt.

2,22 epithalamium Löfstedt (nach N² und Ba [epithalamum]), epithalamion Polara (ohne Anmerkung im Apparat). N hat hier gar keine Endung, in 1,32 (wo Ba leider unleserlich ist) die griechische Endung –on (-ion N²). Löfstedt folgt also wieder Ba, sollte dann allerdings konsequenterweise auch in 1,32 die lateinische Endung schreiben.

2,28 laetificans Löfstedt (nach Mai, Stangl), laetificantis Polara (nach N). Die wegen Psalm 103,15 (et vinum laetificat cor hominis) sicher notwendige Konjektur (mit Bezug auf flumen illud uineum, nicht auf scripturae caelestis) wird jetzt durch die verballhornte Lesart letificaris von Ba bestätigt (-ris aus -ns verlesen).

2,28 influxerit Löfstedt (nach Ba), influxit Polara (nach N). Der Konjunktiv ist als lectio difficilior vorzuziehen.

2,32 cytharae Löfstedt (nach N², Mai, Huemer), cytrae Polara (nach N [und Ba!]). Der Fehler lag offenbar bereits im Archetyp vor, und Polara ist hier hyperkonservativ.

2,33 apteque Löfstedt (nach N², Mai, Huemer), aptate Polara (nach N). Die Konjektur ist evident richtig. Löfstedts Anmerkung im Apparat ist allerdings durch eine fehlende Interpunktion recht merkwürdig geraten: „aptate N (ut uid.) Polara legi non potest Ba“. Hinter „Polara“ gehört ein Komma oder ein Semikolon.

3,37 et unus Löfstedt (nach Ba), unus Polara (nach N). Die richtige Lesart hat sicherlich Ba bewahrt, da sich in dieser Handschrift keinerlei Konjekturen oder Ergänzungen finden.

3,55 diuerso Löfstedt (nach Ba), diviso Polara (nach N). N hat die ungewöhnlichere Lesart, die hier vielleicht beizubehalten wäre.

4,58 digerere Löfstedt (nach Mai, Ba [digere]), degerere Polara (nach N [degere]). Die sinnvolle Konjektur wird jetzt durch Ba bestätigt.

4,59 epitomarum Löfstedt (nach Stangl), epistolarum Polara (nach N [und Ba!]). Der hier erwähnte Adressat früherer grammatischer Unterweisungen, der afrikanische Knabe Fabianus, kommt in den Epitomae gar nicht vor;38 bei den genannten XV epistolarum39 handelt es sich vielmehr um fiktive Briefe, die mit den 15 Epitomae nichts zu tun haben.40 Stangls Konjektur, der Löfstedt folgt, ist also verfehlt.

4,64 epistolarem Löfstedt (nach Ba), epistolarum Polara (nach N). Das Adjektiv ist eindeutig vorzuziehen (sermo epistolaris).

4,76 ad Löfstedt (nach Stangl), et Polara (nach N). Stangls Konjektur ist aus zwei Gründen notwendig: zum einen endet der Relativsatz mit temperantes (4,76), nicht erst mit perfendiunt (5,77), zum anderen steht perfendere stets mit ad (s. den nächsten Eintrag).

5,77 perfendiunt Löfstedt (nach Stangl), perpendiunt Polara (nach N). Das von Virgilius erfundene Verbum perfendere, -io, das noch an drei weiteren Stellen auftaucht (104,22; 125,150; 126,164), muss natürlich auch hier wiederhergestellt werden. Das Verbum bedeutet soviel wie pervenire und ist nach Löfstedt von einem aus offendere erschlossenen Simplex *fendere gebildet.41

5,79 callum Löfstedt (nach N), callium Polara (nach Mai). Eine der wenigen Stellen, an denen Löfstedt konservativer ist als sein Vorgänger. Paläographisch ist der Ausfall eines -i- zwischen ll- und -um leicht erklärlich; generell gibt es bei Nomina der sog. gemischten Deklination vom -ium-Genitiv nur „sporadische Ausnahmen“42, und callum ist m.W. nicht belegt. Mais Konjektur ist daher unbedingt vorzuziehen.

5,79 [nicht lin. 80, wie im Apparat angegeben] domos Löfstedt (nach Stangl), modos Polara (nach N). Die (richtige) Entscheidung Löfstedts für Stangls Konjektur wird erst nachvollziehbar, wenn man das in N überlieferte quasdam mit heranzieht, das von Mai und Polara in quosdam geändert wurde. Darauf hätte Löfstedt im Apparat hinweisen müssen (was Polara tat). Von der Sache her ist das konkrete domos viel naheliegender als das nichtssagende modos.

5,79 laborosi Löfstedt (nach N), laboriosi Polara (nach Mai). Der Konservatismus Löfstedts, den er ja sonst an Polara geißelt,43 ist mir hier unverständlich.

5,83 quod [non] nisi Löfstedt (Konjektur), quod nonnisi Polara (nach N). Die komplizierte Syntax hat Löfstedt besser durchschaut und das sinnentstellende non athetiert; er hätte allerdings unbedingt Komma hinter quod setzen müssen, denn temperauerint (5,84) ist Prädikat des Konditionalsatzes, sint..generaturi (5,86) Prädikat des Kausalsatzes. Dass sich hinter non (ñ N) ein anderes Wort verberge, vermuteten Mai (scientes) und Stangl (sunt), mussten dieses aber natürlich vor quod stellen; es könnte sich jedoch um Dittographie handeln.

5,87 secuta sit Löfstedt (Konjektur), secuta esset Polara (nach Huemer [sicut est N]). Die sinnlose Lesart von N wurde auf verschiedene Weise zu heilen versucht: Mai konjizierte fiat, Huemer secuta esset, Stangl existat. Syntaktisch scheint mir der Konj. Präs. am besten zu sein; der Konj. Perf. wäre freilich denkbar (im Gegensatz zum Plqpf.!), und Löfstedts secuta sit kommt der Überlieferung paläographisch am nächsten.

5,92 Has Löfstedt (nach Mai), Habes Polara (nach N). Die durch has erzwungene gewaltsame Konstruktion ist kaum haltbar (me ogduades partes expositurum .. tuum <est> ut iuues, ut...). Das überlieferte habes ist daher beizubehalten, vor tuum eine Interpunktion einzufügen (Doppelpunkt bei Huemer, Polara).

5,95 praesentis Löfstedt (Konjektur), praesenti Polara (nach N). Die Konjektur ist nicht nur unnötig (in opere praesenti ergibt einen guten Sinn), sondern sogar verschlimmbessernd (was soll praesentis sermonis .. opportunitatem heißen?).

6,105 <et orare> et inpetrare Löfstedt (nach Winterbottom44), et inpetrare Polara (nach N). Die Ergänzung ist sinnvoll, wenn auch natürlich spekulativ.

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass Löfstedt einen zuverlässigen und in der Regel hinreichend ausführlichen Apparat bietet, der bei allen textkritischen Entscheidungen des Editors dem Benutzer die Möglichkeit bietet, diese nachzuvollziehen und ggf. zu korrigieren. Damit erfüllt der Apparat die Aufgabe, die ihm klassischerweise zukommt. Auch was die Textgestalt angeht, kann Löfstedt seinen Vorgänger Polara an vielen Stellen verbessern; wie Löfstedt selbst betont (s. oben), muss man jedoch jeden Einzelfall prüfen und kann sich nicht auf stemmatische Argumente zurückziehen. Dies führt naturgemäß auch zu Fehlentscheidungen, was aber die Qualität einer Ausgabe nicht mindern muss (zumal auch Ermessensspielräume bestehen). Entscheidend ist vielmehr, dass der Benutzer durch die Ausgabe in die Lage versetzt wird, sich selbst ein Urteil über den Text zu bilden.

Wenn dennoch das Urteil des Rez. nicht in allem positiv ausfallen kann, so liegt das an der geschilderten Knappheit der Praefatio und der Indizes. Was Text und Apparat betrifft, so kann man sich in Zukunft auf Löfstedt stützen; für die anderen Teile wird man jedoch weiterhin noch Polara heranziehen müssen. Was schließlich immer noch schmerzlich fehlt, ist ein vollständiger (in erster Linie sprachwissenschaftlicher) Kommentar zu Virgilius Maro. Michael Herren hat einen solchen bereits vor über 10 Jahren angekündigt,45 und er teilte mir kürzlich (per e-mail) mit, dass er nun in etwa zwei Jahren erscheinen solle. Hoffen wir also das Beste und trösten uns einstweilen mit einer Bemerkung Williams von Baskerville: Als Adson in der Bibliothek ein Exemplar des Virgilius findet, eine Passage liest und verwundert fragt: „Was ist das für eine Sprache?“, antwortet William: „Latein, aber ein selbsterfundenes Latein, das er viel schöner fand.“46


Reinhold F. Glei, Bochum
reinhold.glei@rub.de


1 P. Lehmann: Die Parodie im Mittelalter. Mit 24 ausgewählten parodistischen Texten. Stuttgart 2. Aufl. 1963, 10.

2 Epit. 15 (p. 241, lin. 54-58 Löfstedt). Hier und im Folgenden werden Stellen aus Virgilius Maro Grammaticus mit Seite und Zeile nach der Ausgabe von Löfstedt zitiert.

3 Epit. 15 (245,118sqq.); überliefert ist ulcani.

4 Tertius Virgilius ego (239,25).

5 Der Versuch Vivien Laws (Wisdom, authority and grammar in the seventh century: decoding Virgilius Maro Grammaticus, Cambridge 1995), dem Text des Virgilius eine geheime Wahrheit zu entlocken, ist nicht überzeugend; vgl. meine Rezension in: Peritia (Journal of the Medieval Academy of Ireland) 11, 1997, 390-396.

6 Löfstedt, Praefatio, p. XIV.

7 Die früher vertretene Auffassung einer Herkunft aus Gallien (‚Virgilius Tolosanus‘) darf nach den grundlegenden Untersuchungen von M. Herren: Some new light on the life of Virgilius Maro Grammaticus. Proceedings of the Royal Irish Academy 79 C2, 1979, 27-71, und D. Ó Cróinín: The date, provenance, and earliest use of the works of Virgilius Maro Grammaticus, in: Tradition und Wertung. Festschrift für F. Brunhölzl zum 65. Geburtstag, hrsg. von G. Bernt, F. Rädle, G. Silagi. Sigmaringen 1989, 13-22, als widerlegt gelten.

8 Terminus ante quem ist 658 n.Chr.; vgl. Ó Cróinín (Anm. 7).

9 Epit. 11 (215,33sq.). Es versteht sich fast von selbst, dass das Zitat bei Cicero nicht zu finden ist.

10 Epit. 1 (107sq.). Das Wort quoquihabin wird übrigens durch alle Kasus dekliniert.

11 Classicorum auctorum tom. V, Romae 1833, p. 1-152; eine zweite Auflage erschien Romae 1871 (Appendix ad opera edita ab Angelo Mai, p. 113-166).

12 Virgilii Maronis Grammatici opera edidit Iohannes Huemer, Lipsiae 1886 (Bibliotheca Teubneriana).

13 Th. Stangl: Virgiliana. Die grammatischen Schriften des Galliers Virgilius Maro auf Grund einer erstmaligen Vergleichung der Handschrift von Amiens und einer erneuten der Handschriften von Paris und Neapel textkritisch untersucht (Programm des K. Luitpold-Gymnasiums in München für das Studienjahr 1890/91). München 1891.

14 Les Epitomae de Virgile de Toulouse. Essai de traduction critique avec une bibliographie, une introduction et des notes, (Thèse) Paris 1928.

15 Virgilio Marone grammatico, Epitomi ed Epistole. Edizione critica a cura di G. Polara. Traduzione di L. Caruso e G. Polara. Con una Nota e un’Appendice, Napoli 1979.

16 Speculum 56 (1981), 205-208.

17 Ebd. 207.

18 Ebd.

19 B. Löfstedt, Textkritische Notizen zu Virgilius Maro Grammaticus, Latomus 40 (1981), 828-829; ders., Miscellanea Grammatica, RCCM 23 (1981), 159-164; ders., Zum Wortschatz des Virgilius Maro Grammaticus, Philologus 126 (1982), 99-110.

20 Grob geschätzt, ist er etwa zweieinhalbmal so umfangreich. Die Kritik von L. Holford-Strevens, Rez. Löfstedt, BMCR 2003.08.16, ist also in diesem Punkt unzutreffend: Löfstedts Apparat ist bis auf wenige Ausnahmen hinreichend ausführlich und gut verständlich.

21 Epist. 2 (23,9) und Epist. 4 (73,11) erwähnt Virgilius seine früher verfassten Epitomae. In der Hs. N (s. unten) ist die Reihenfolge umgekehrt (s. auch die folgende Anmerkung).

22 Dies ergibt sich eindeutig aus der Schlussbemerkung: Haec uobis, o sodales atque discentes, legum paternarum libris pro cunctorum legentium utilitate atque salute excerpta insinuasse sufficiat (245,129-131); freilich ist in N die Reihenfolge der Epitomae gründlich durcheinander geraten: Sie stehen dort in der Abfolge 1, 10, 4, 11, 12 (=15), 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9 – was bei Löfstedt nirgends vermerkt ist.

23 Dass die bei Löfstedt (p. 246) abgedruckten Fragmente des Florilegium Frisingense Reste der fehlenden Epitomae bewahrt haben, erfährt man ebenfalls nirgendwo explizit.

24 Epist. 2 (26,70sqq.).

25 „Sed cum multos abhinc annos omnes codices Virgilianos contulissem, in apparatu critico Polarae plurimos errores et omissiones uidi. Virgilius difficillimus auctor est, et nisi nouerimus, quid codices re uera praebeant, numquam eum intellegemus.“ (Praefatio, p. IX).

26 „Haec editio instar est testamenti Bernardi Bischoff, qui abhinc plus uiginti annos arcam mihi plenam adnotationum, collationum, imaginum photographicarum codicum Virgilii concedens ita me maesta uoce adlocutus est: ‚Mein ganzes Leben habe ich Material gesammelt, um den Virgilius herauszugeben. Ich sehe jetzt, dass mir die Zeit nicht ausreicht. Nehmen Sie dies, und machen Sie die Edition.‘“ (Praefatio, p. IX-X).

27 A endet gegen Ende von Epit. 11 (238,206 docte), P sogar bereits gegen Ende von Epit. 9 (211,204 praepositionem).

28 Eine Ausnahme bildet der Oxoniensis Bodl. Lib. D’Orville 147 aus dem Jahre 1465 (!), der die ersten neun Epitomae enthält. Der Codex war Polara noch nicht bekannt, ist aber für die Textkonstitution nahezu wertlos und lediglich durch einige gelungene Konjekturen von Interesse. – Zur Besprechung der Handschrift Ba s. unten.

29 RCCM 23 (1981) 159.

30 Vgl. aber die Kritik von Holford-Strevens (Anm. 20).

31 Sehr richtig z.B. die Schreibung moli (173,21) bzw. muli (174,43) für multi (vgl. Löfstedt, Speculum 56 [1981], 206; das ebd. 207 ebenfalls angemahnte qui auctoritate statt qua auctoritate [106,60] hat Löfstedt jedoch nicht in seine Ausgabe übernommen). Eigene Konjekturen Löfstedts sind relativ selten (vgl. 120,73; 140,39; 144,100; 145,115; 155,274; 160,367; 175,60; 223,178; 234,147; 236,183; 238,209), häufiger sind Konjekturen der Vorgänger in den Text aufgenommen.

32 Speculum 56 (1981), 206.

33 Ein Detail, das noch niemandem aufgefallen zu sein scheint, ist der angebliche Beiname des Iulius: Die Ausgaben drucken Virgilius Maro Iulio Germano diacono salutem (1,2). Dieser Iulius Germanus entpuppt sich später als gratissime ac dilectissime frater Iuli diacone (3,37sq.); sollte also in der Widmung nicht Iulius germanus anstatt Iulius Germanus geschrieben werden?

34 Ba reicht vom Anfang bis 4,74 (mensuri).

35 Dabo ergo praepositiones casus accusatiui: eon pro apud, salion pro ante, cyron pro adversus uel contra, trasso pro citra ... (Epist. 7 [95,10-12]).

36 Vgl. 96,24; 161,369; 210,180.

37 Vgl. P. Geyer: Beiträge zur Kenntnis des gallischen Lateins. Archiv für lateinische Lexicographie und Grammatik 2, 1885, 25-47 (hier: 34). Löfstedt selbst hatte dem seinerzeit zugestimmt: Spät- und Vulgärlateinisches in der Sprache des Virgilius Maro Grammaticus, Latomus 40, 1981, 121-126 (hier: 122).

38 Ein Epit. 6 (170,142) genannter Dichter Fabianus ist damit offenbar nicht identisch.

39 Der Genitiv verweist außerdem darauf, dass es insgesamt mehr als 15 Briefe an Fabianus gab.

40 Hinzu kommt noch, dass Virgilius den Brief- (und nicht Exzerpt-!)charakter durch eodem scribendi more (4,62) eigens betont.

41 Vgl. Löfstedt, Zum Wortschatz (Anm. 19), 100.

42 P. Stotz: Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters. 4. Band: Formenlehre, Syntax und Stilistik. München 1998, §38.1 (86).

43 Z.B. in Speculum 56 (1981), 206 bezüglich der in P überlieferten Kurzform plusquam für plusquamperfectum (195,193; 199,252.256).

44 M. Winterbottom: The other Virgil, BICS 25, 1978, 146-156 (hier: 148).

45 M. Herren: The Hiberno-Latin poems in Virgil the Grammarian, in: L. Holtz (ed.): De Tertullien aux Mozarabes. Mélanges offerts à J. Fontaine. Paris 1992, 141-155 (hier: 155 Anm. 55).

46 U. Eco: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von B. Kroeber. München 1982, 399.


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