Günther Christian Hansen: Anonyme Kirchengeschichte (Gelasius Cyzicenus, CPG 6034). Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002 (Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, Neue Folge Bd. 9). LVIII, 201 S. Euro 68.—ISBN 3-11-017437-5.

 

Kein anderer hat sich in den letzten Jahrzehnten um die Erschließung der Kirchenhistoriker des fünften nachchristlichen Jahrhunderts so verdient gemacht wie G. Chr. Hansen, dem man neben der meisterhaften Edition des Sokrates die Neubear­beitungen der Ausgaben Theodorets und des Sozomenos verdankt. Er hat damit teilweise über­haupt erst solide philologische Grundlagen für eine in letzter Zeit zu beobachtende Zuwendung des wissenschaftlichen Interesses für diesen Zweig der griechi­schen Historiographie geschaffen.[1] Das neueste Produkt der langjährigen und entsagungsvollen Tätigkeit von Hansen, die Edition des sogenannten Gelasios von Kyzikos, tritt zwar in einem neuen Gewand (im neuen eleganten roten Leinen-Einband des De Gruyter-Verlags) auf, bleibt aber den gewohnten hohen Qualitätsmaßstäben verpflichtet und bietet in seiner Zuverlässigkeit auch dem interessierten philologischem und theologischem Laien, d.h. dem durchschnittlichen althistorischen Leser, in der Tat, wie Hansen es im Vorwort wünscht, die Möglichkeit, dort „auf Entdeckungen auszugehen“.

            Bei diesem dem althistorischen Durchschnittsleser sicher nicht sehr vertrauten Werk handelt es sich um eine durch wenige eigene Bemerkungen des Autors zusammengehaltene Kompilation, über deren Gegenstand sich der Autor selbst nicht ganz klar war. Neben das Vorhaben, aus aktuellem Anlaß, nämlich der Aus­einander­setzung mit den Monophysiten, die Debatten und Entschlüsse im Konzil von Nikaia (325) zu dokumentieren, tritt das Projekt einer breiteren Darstellung der Kirchen­geschichte im Zeitalter Konstantins (vgl. Hansen, XII). Als Autor dieses Kompilats galt bis in die jüngste Zeit „Gelasios von Kyzikos“. Dieser Autorenname verdankt, wie man der Einleitung Hansens entnimmt, seiner Existenz nur einem Mißverständnis in der 1599 erschienenen editio princeps. In unglück­seliger Form sind hier die Tatsachen, daß Photios (cod. 102) das Werk irrig dem Gelasios von Kaisareia zuweist und daß der Autor Sohn eines Presbyters der Kirche von Kyzikos war, miteinander verschmolzen worden.

            Gegenüber der 1918 in den GCS erschienenen Ausgabe des „Gelasios von Kyzikos“ von G. Loeschke und M. Heinemann zeichnet sich die neue Ausgabe durch die Benutzung einer ungleich breiteren Handschriften-Grundlage aus. Eine Reihe wichtiger Handschriften sind 1918 noch unbekannt gewesen, z.B. Athos, Vatopedi, cod. 34, 14. Jahrhundert (= B), andere, insbesondere der Turiner Kodex, Bibliotheca Nazionale, gr. 10 (B. I.1), 14. Jahrhundert (T) sind von G. Loeschke und M. Heinemann zwar erwähnt, aber nicht für die Textkonstitution hinzugezogen worden. Der Überblick über die großenteils natürlich rasch zu eliminierenden Handschriften aus dem 16. Jahrhundert, von denen eine ganze Reihe im Besitz von Kardinälen waren oder im Auftrag von Kardinälen verfaßt wurden, ist für den Kirchenhistoriker der Gegenreformation zweifelsohne von großem Interesse. Die Anschauung über das Nicaenum bezog man in der Zeit des Tridentinum anscheinend auch aus dem Kompilat des Anonymus aus Kyzikos.

            Einleitung und Textausgabe profitieren in hohem Maße von den Fort­schritten in der Quellenkritik, insbesondere von der „Entdeckung“ einer der wichtigsten Quellen des Anonymus, nämlich der noch im vierten Jahrhundet angefertigten Fort­setzung Eusebs, der Geschichte des Gelasios von Kaisareia, der griechischen Vorlage der Kirchengeschichte des Rufinus von Aquileia (ab Buch 10).[2] Der Anonymus ist ein wich­tiger Zeuge dieses aus der wörtlicher Übereinstimmungen hagiographischer und kirchengeschichtlicher Quellen zu rekonstruierenden Geschichtswerks.[3] Hansen bemerkt richtig, daß man sich davor hüten muß, „den Text unseres Anonymus mit dem authentischen Wortlaut des Gelasios gleichzusetzen“ (XLV). In dem von ihm vorgestellten Beispiel, in dem die Anonyme Kirchengeschichte  I 8 mit Gelasios fr. 5; BHG 1279, 290b (Vita des Metrophanes) und Sokr. I 2,8-3,1 verglichen wird (XLV f.), erscheint allerdings die an sich völlig falsche Nachricht, Licinius sei erst beim Mailänder Treffen mit Konstantin (312) und erst nach der Vermählung mit Constantia zum Mitregenten geworden beim Anonymus verständlicher als in der verkürzten Version der Metrophanes-Vita und bei Sokrates. Denn während in der verkürzten Version der Senat nicht mehr erwähnt wird, heißt es beim Anonymus, der „Senat habe verlangt, daß Licinius mit Konstantin Mitherrscher sei.“ Der Senat spielte in der Tat im Zerfallsprozeß der Tetrarchie eine entscheidende Rolle, indem er die Rangfolge im Herrschaftskollegium festlegte (Lact. Mort. Pers. 44,11). Eine Festlegung des Senats über den nachgeordneten Rang des Licinius (sei es nur in einer Grußadresse, in der dem Protokoll nach Konstantin vor Licinius angeführt und Maximinus Daia als hostis publicus ignoriert wurde) ist hier von einer konstantin-zentrierten Quelle bewußt im Sinne einer Erhebung des Licinius zum untergeordneten Mitregenten mißverstanden worden. Die differenzierteren und vollständigeren Angaben des Anonymus dürfen hier als Indiz für eine größere Textnähe zu Gelasios von Kaisareia angesehen werden.

            Wenn man bei den kirchengeschichtlichen Passagen des Anonymus (neben diesen Passagen finden sich Originaldokumente und Kanones aus kirchenrechtlichen Sammlungen, ein Dialog eines arianischen Philosophen mit den Bischöfen von Nikaia, der sich natürlich überzeugen läßt, etc.), wenn man also bei den kirchengeschichtlichen Passagen die Kirchengeschichte Eusebs, deren wortwörtlich übernommener Text den Löwenanteil dieser Passagen ausmachen, und weitere bekannte Größen (Theodoret, Sokrates, Gelasios von Kaisareia) ausscheidet, bleibt eine stark rhetorisch geprägte Quelle zurück, die Hansen mit der „Christlichen Geschichte“von Philipp von Side identifiziert, gegen die Sokrates (VII 26 f. u. ö., vgl. Hansen, LII) heftig polemisiert und die noch Photios (cod. 35) in Teilen gelesen hat. Hansen (LII) ermittelt die mutmaßliche Zuweisung im vorsichtigen Ausschlußverfahren, weil uns weitere Kirchengeschichts­schreiber des fünften Jahrhunderts nicht bekannt sind. Gerade der eher bescheidene und nur zufällig erhaltene Anonymus belegt zwar, daß es in einem von dogmatischen Auseinandersetzungen bestimmten und historisch argumentierenden Milieu nicht nur eine Fülle kirchenrechtlicher Sammlungen, sondern auch kirchenhistorischer Bemühungen gegeben haben dürfte. Gleichwohl dürfte die Produktion rhetorisch ambitionierterer Kirchengeschichtswerke in der Tat beschränkt gewesen sein, so daß man das Argument gelten lassen kann.  Das chronologische Argument, daß nämlich bei dem um 380 geborenen Philippus von Side eine Benutzung der 444-449 verfaßten Kirchengeschichte Theodorets ausgeschlossen sein muß, vermag Hansen (LIV) befriedigend zu lösen. Zu berücksichtigen ist vielleicht auch die Möglichkeit, daß Theodoret und Philipp eine gemeinsame Quelle benutzt haben (die Polemik in III 16,10 stammt vom Kompilator, nicht aus der rhetorischen Kirchengeschichte). Auch ohne das Etikett „Philipp von Side“ bleiben die konsistenten Passagen des Anonymus aus dieser Quelle von größtem Wert für die Erforschung der kirchlichen Historiographie des fünften Jahrhunderts. Dies gilt für den aufgebauschten Bericht über die Erfolge Konstantins in der gallischen Großpräfektur[4] oder für die offenkundig nach dem Muster klassischer Historiographie frei komponierte, sprachlich äußerst komplexe Rede Konstantins vor dem Konzil von Nikaia[5] Besonders interessant sind die gegen Euseb von Nikomedeia polemisierenden Passagen (zusammengestellt in XLVIIIf.). Sie erscheinen als Gegenstück zu den Passagen im Kirchengeschichtswerk Philostorgs, die ganz auf die Verdienste des Euseb konzentriert sind und in denen Euseb sogar als „der Große“ bezeichnet wird.[6] Vielleicht ist hier eine Konstantinopolitaner Kontroverse des fünften Jahrhunderts um die historische Bedeutung dieser Figur zu greifen.

            Auf weitere Anregungen, die die neue Edition Hansens geben wird, darf man gespannt sein. Der Band wird jedenfalls notwendigerweise zum Grundbestand jeder kirchengeschichtlicher Bibliothek gehören.

Bruno Bleckmann, Düsseldorf
bleckmann@phil-fak.uni-duesseldorf.de



[1] Exemplarisch hervorzuheben sind H. Leppin: Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christl­iche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret. Göttingen 1996; M. Wallraff: Der Kirchenhistoriker Sokrates. Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung, Methode und Person. Göttingen 1997; B. Bäbler, H. G. Nesselrath (Hrsgg.): Die Welt des Sokrates von Konstantinople. Studien zu Politik, Religion und Kultur im späten 4. und frühen 5. Jh. n. Chr. zu Ehren von Christoph Schäublin. München /Leipzig 2001.

[2] Die Entdeckung geht auf A. Glas: Die Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia, die Vorlage für die beiden letzten Bücher der Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia, die Vorlage für die beiden letzten Bücher der Kirchengeschichte Rufins. Leipzig-Berlin 1914 zurück, vgl. Hansen, XLV. Das schwierige Problem, wie es sich genau mit den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Gelasios und Rufinus verhält, soll hier auf sich beruhen.

[3] F. Winkelmann: Untersuchungen zur Kirchengeschichte des Gelasios von Kaisareia. Berlin 1966.

[4] AKG I 4,2-5. Für Sau/rwn schlägt Hansen als naheliegende Verbesserung im Apparat Sauromatw=n vor.  Da die „Sauroi“ aber im Kontext mit wohlbekannten Franken und Germanen auftauchen und auch ansonsten eindeutig von den Verhältnissen in der gallischen Großpräfektur und an der Rheingrenze die Rede ist, wäre eher an  Suebi Sou/hboi zu denken. Angespielt wäre damit entweder in anachronistischer Weise auf die Sueben, die im Dezember 406 über die Rheingrenze gingen, oder auf die Alamannen, für die die Bezeichnung als Sueben im vierten und frühen fünften Jahrhundert gegen Hagen Keller, Alamannen und Sueben nach den Schriftquellen des 3. bis 7. Jahrhunderts, Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, 89-111 nicht völlig auszuschließen ist, vgl. B. Bleckmann: Die Alamannen im 3. Jahrhundert: Althistorische Bemerkungen zur Ersterwähnung und zur Ethnogenese. Museum Helveticum 59, 2002, 145-171, bes. 157, Anm. 46.

[5] AKG II 7. Vgl. dazu G. Hansen: Eine fingierte Ansprache Konstantins auf dem Konzil von Nikaia. Zeitschrift für antikes Christentum 2, 1998, 173-198.

[6] Philostorg. I 8 a p. 9 Bidez; I 9 p. 10 Bidez.


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