Alfons Breitenbach: Das „wahrhaft goldene Athen“. Die Auseinandersetzung griechischer Kirchenväter mit der Metropole heidnisch-antiker Kultur. Berlin: Philo 2003 (Theophaneia 37). 352 S. Kt. Euro 59,80.

Die vorliegende Arbeit, eine an der Universität Trier im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften  angefertigte Dissertation, hat sich zum Ziel gesetzt, am Beispiel des Eusebius von Caesarea, der beiden Kappadokier Basilius von Caesarea und Gregor von Nazianz sowie des kaum bekannten mittelalterlichen athenischen Bischofs Michael von Chonai „das ambivalente Athenbild“ herauszuarbeiten, das  einerseits gekennzeichnet war von der Bewunderung dieser Stadt als einstiger unerreichbarer Kulturmetropole und Heimstätte geistiger Bildung, andererseits aber auch als Stadt götzendienerischer Scheinweisheit, im Vergleich zu der in christlicher Sicht Jerusalem als Symbol für das göttliche Heil und die wahre Weisheit zu gelten hatte. Da hierbei Athen weitgehend als Chiffre verstanden wird, ist der Verf. beinahe unbewußt auf ein wesentlich umfangreicheres Gebiet gelangt, das man als das Verhältnis der frühen Christen zur heidnischen Paideia insgesamt bezeichnen könnte. Schon hier sei festgestellt, daß man sich gewünscht hätte, er wäre öfter über die Erwähnung von Athen hinaus  zu dieser allgemeinen Thematik vorgestoßen. Verwundert ist man auch, daß B. erst mit Eusebius einsetzt, d.h. in konstantinischer Zeit, da doch bereits der erste greifbare Apologet Aristides aus Athen stammte, Origenes zweimal in Athen weilte und Justin neben Heraklit und Musonius den athenischen Philosophen Sokrates den alttestamentlichen Propheten an die Seite stellte, da in ihm ebenfalls der keimhafte Logos wirksam gewesen sei  und er damit im eigentlichen Sinn den Christen zugerechnet werden müsse. Auch das von Eusebius diskutierte Problem des höheren Alters der jüdischen Schriften, bes. des Moses, gegenüber den griechischen Philosophen wird erheblich früher aufgegriffen und war den Christen bereits in der jüdischen Apologetik vorgegeben.

Nach einigen einleitenden  Bemerkungen zur Problematik des Kulturbegriffes Athen in der Spätantike, der positiven und negativen Chiffre (letztere zurückgehend auf das paulinische Athenerlebnis in der Apostelgeschichte) und der unterschiedlichen Vermittlung dieser beiden Perspektiven (wo bereits schon manche Ergebnisse des Buches vorweggenommen werden) geht es im  zweiten Kapitel „Vom Loblied zum Sinnbild – Der Wandel des Athen – Repertoires“ um die klassischen Athen-Topoi. Angefangen vom Schiffskatalog der Ilias über die berühmten Leichenreden bzw. Panegyrici eines Thukydides, Lysias und Isokrates wird der Bogen geschlagen bis hin zu Aelius Aristides und weit in die Spätantike hinein, wo von den Heiden Julian Apostata, Eunapius und Libanius ebenso wie von dem Christen Gregor von Nazianz die bekannten Allgemeinplätze wiederholt werden, wie Erfindung der Künste und Wissenschaften,  von Handwerk und Ackerbau, Aufnahme von Fremden, freiheitlich – demokratische Gesinnung der Bewohner, Wißbegierde, aber auch schwer zu ertragende Geschwätzigkeit, intensiver Mythen- und Götterglaube u.ä. Ferner wird hier auf die bis heute spärliche Sekundärliteratur verwiesen, etwa auf die Studien von K. v. Morawski (1904), E. Pflugmacher (1909), O. Schröder (1914), aber auch die neueren  Arbeiten von H. Herter (1975) und den reichhaltigen RAC-Artikel „Athen“ von D. Lau (1985) und schließlich auf die Arbeit des Byzantinisten H. Hunger: Athen in Byzanz (1990) mit ihrem bezeichnenden Untertitel „Traum und Realität“, wo das überschwängliche Lob von Libanius und Himerius, von Asterius von Amaseia und des Dichters Pamprepius von Panopolis der anschaulichen Athen-Schilderung des Synesius von Kyrene gegenübergestellt wird, der die Stadt damals besuchte und aufs schwerste enttäuscht war. Insgesamt bemängelt B. zu Recht, daß bisher keinem einzigen griechischen Autor eine Einzelstudie über dieses Thema gewidmet wurde. Dies sei umso bedauerlicher, weil nur so die beiden unterschiedlichen Perspektiven in christlicher Sicht in aller Deutlichkeit analysiert werden könnten. Gerade unter dem Blickwinkel eines solchen Desiderats sieht der Verf. die Berechtigung für seine Arbeit, die sich somit in erster Linie als literarische Fallstudie zu vier christlichen Autoren versteht.

Unter diesem doppelseitigen Blickwinkel ist bereits für das dritte Kapitel über Eusebius von Caesarea der bezeichnende Untertitel „Athen – Leitbild und Feindbild“ gewählt.  Leider glaubt der Verf. hier den verehrten Leser erst allgemein mit der Chronik bzw. der Kirchengeschichte und der Praeparatio Evangelica vertraut machen zu müssen (Quellen, Aufbau, Besonderheiten usw.), ehe er ihn zum eigentlichen Thema führt. Dabei werden nunmehr die einschlägigen Synchronismen zunächst in den Xronikoi\ kano/nej zwischen Moses und dem athenischen Heros Kekrops in einer Reihe von Stellen (griechisch und in deutscher Übersetzung, was zu loben ist) aufgeführt, so daß der Chronist (aufgrund der Theorie weitgreifender Übernahmen) bis zu einem gewissen Grad das positive Athenbild mit den kulturellen Leistungen und Entwicklungen rezipieren kann (bei Kekrops Freiheit, Bildung usw.). Ob man allerdings aufgrund der kurzen Erwähnung von Solon, der Vertreibung des Tyrannen Hippias durch Harmodios und Aristogeiton oder des Areopags bereits von einer Hochschätzung der athenischen Demokratie durch den christlichen Geschichtsschreiber sprechen kann, ist doch stark zu bezweifeln. Daß Athen in der Kirchengeschichte des Eusebius so gut wie gar keine Rolle spielt, ist angesichts der unbedeutenden Christengemeinde dieser Stadt sehr wohl verständlich und sagt über die kulturelle Wertschätzung wenig aus. Freilich sollte man trotzdem nicht unterschlagen, daß Origenes bei seinen frühen Besuchen die Ordnung und den Frieden unter den Gläubigen der Stadt besonders hervorhebt. Sehr breit werden anschließend die zahlreichen Belege über Athen in den 15 Büchern der Praeparatio Evangelica kommentiert mit dem Erweis, daß bei allem Bedauern über das Festhalten am heidnischen Götterkult (sehr ausführlich werden hier die verschiedenen Formen heidnischer Theologie behandelt) die Annäherung an die wahre (=christliche) Philosophie vor allem bei Platon gewürdigt wird, aber auch bei Anaxagoras und Sokrates. Zwar wird den athenischen Philosophen vorgehalten, daß sie ihre  Kritik an dem überkommenen Vielgötterglauben nicht nachdrücklich genug vertreten hätten. Aber bei aller Schwäche und Ängstlichkeit fungierte bes. Platon in den Augen des Eusebius doch als Wegbereiter des wahren Logos und schuf so die Grundlage für eine mögliche griechische Identität der Christen, aber – so möchte man hinzufügen - doch wohl nur der gebildeten Christen. Sind mit dieser Sicht, so könnte man hier  wiederum fragen, jedoch nicht die früheren Apologeten vorangegangen, speziell Justin mit seiner Lehre vom Logos spermatikos?  Darauf sollte umso größerer Wert gelegt werden, da Eusebius seine „historiographische kulturgeschichtliche Konstruktion“, wie der Verf. formuliert, nur aus ihm vorliegenden Quellen schöpfte und die Stadt Athen wohl selbst überhaupt nicht gesehen hat?

Den breitesten Raum nimmt das vierte Kapitel ein, das überschrieben ist „Athen bei den drei grossen kappadokischen Kirchenvätern“ (wo allerdings der dritte, der jüngere Basiliusbruder Gregor von Nyssa, kaum in Betracht kommt, da er Athen so gut wie gar nicht erwähnt!). Wiederum mit einer Reihe von zweisprachig gebotenen Stellen bes. aus  or. 43, der berühmten Totenrede Gregors von Nazianz auf Basilios, und aus einer Reihe von Gedichten Gregors werden zunächst der regionale, soziale und familiäre Hintergrund, das Studium der beiden Freunde Basilios und Gregor in Athen, ihre Erwartungen und tatsächlichen Erlebnisse, aber auch die Gefahren (durch heidnische Kulte) besprochen. Das Fazit – wie stets in Zwischenergebnissen gut zusammengefaßt - lautet, daß für beide, allerdings rückblickend in einer gewissen Verklärung, die Studienzeit in dem hochangesehenen Bildungszentrum einen selbstverständlichen Lebensabschnitt darstellte, der wegen des gründlichen Rhetorikunterrichts nicht nur das Rüstzeug für den anschließenden Beruf bot (beide waren bekanntlich zunächst Rhetoriklehrer in ihrer Heimat), sondern auch tiefe Freundschaften begründete. Etwas seltsam mutet es allerdings an, wenn B. für den Ausdruck „die wahrhaft goldene Stadt Athen“  (Greg. Naz. 43, 14, 8) nach Vorlagen wie den reichen Goldvorkommen in Attika oder literarischen Vorbildern, z. B. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, Ausschau hält. Nicht zu vergessen ist auch, daß Gregor bei seiner Schilderung der gemeinsamen Studienzeit mit Basilius dessen grundlegende Offenheit für die antik – heidnische Bildung rühmt (und damit natürlich seine eigene) und diese von manchen engstirnigen Glaubensgefährten absetzt. Freilich hätte man gerne erfahren, wer damit eigentlich gemeint war, etwa die Mönche oder Bischofskollegen aus der Unterschicht, die aus der Not eine Tugend machten? Aber hatten nicht schon Clemens von Alexandrien und Origenes sich gegen manche Engstirnigkeit energisch zur Wehr gesetzt? Hier vermißt man die nötigen Informationen. Die Athenbilder bei den Kappadokiern, worum es im Folgenden geht, werden, bisweilen versehen mit etwas sonderbaren Überschriften wie „Strategische Autobiographie“, „Strategische Sentimentalität“, „Vitamin A: Athen in der Korrespondenz mit den zeitgenössischen Sophisten“, zunächst eingeführt mit der Feststellung, daß Basilius seinen Studienort nur einmal erwähnt habe und daraus eine gewisse Verachtung zu erschließen sei, weil er damit seine Hinwendung zu christlichen Ideen habe unterstreichen wollen, während man bei Gregor die positiven Aspekte, die er seinem Studienort immer wieder abgewinne, damit erklären könne, daß er die dort erworbenen Kenntnisse als wichtige Stütze  für eine glaubhafte Wiedergabe christlicher Lehren verwenden konnte (d.h. als Mittel zum Zweck). Aber bei Basilios sollte man sich hüten, aufgrund der einzigen, dazu noch negativen Erwähnung des Studiums in Athen auf eine grundsätzliche Distanz zur heidnischen Bildung zu schließen, da doch die Schrift  „An die Jugend“ eine ganz andere Sprache spricht.  Jene Hochschätzung muß doch ebenfalls während seiner Ausbildung an diesem für ihn angeblich so verabscheuenswerten gottlosen Ort grundgelegt worden sein. Das bedeutet, daß man stets den Kontext einer Stelle beachten und sich vor jeder Verabsolutierung einer einzigen Aussage zu hüten hat. Wenn Gregor voller Verärgerung die Unbildung vieler Bischofskollegen beklagt und damit sein Studium der klassischen Wissenschaften verteidigt, so bleibt doch nur der Schluß, daß für ihn ebenso wie für andere Angehörige der christlichen Oberschicht die heidnische Paideia ein Wert an sich war und daß man sich in diesen Kreisen auch nicht durch die Abqualifizierung der athenischen Philosophen in der Apostelgeschichte anläßlich des Paulusbesuches auf dem Areopag abschrecken ließ. Völlig zu Recht bezeichnet daher B. gelegentlich die Bildung dieser Leute „als Selbstempfehlung und Integration in den Kreis der gebildeten Oberschicht des Reiches“. Selbst wenn die beiden Kappadokier ihre christliche Philosophie, die sie in freundschaftlicher Weise als Studenten in der Bildungsmetropole Griechenlands pflegen, wiederholt mit der antik – heidnischen Weisheit konfrontieren, so darf nicht übersehen werden, daß sie hieraus  – und hier ist nicht nur Sokrates zu nennen – nicht nur  positive Vorbilder, sondern ganz persönlichen Nutzen bzw. innere Bereicherung gewonnen haben. Die Verdorbenheit Julians, die man lauthals beklagt, ist nach ihrer Ansicht im wesentlichen in dessen verstärkter Hinwendung zum alten Götterglauben zu suchen, etwa zu Leuten wie dem Scharlatan Maximus mit seinen seltsamen theurgischen Praktiken, während doch schon Platon und andere ernst zu nehmende Philosophen sich davon distanzierten. Gerne hätte man hier vom Verf. kurz erfahren, wie er die bekannte Karikatur des jungen Studenten Julian bei Gregor interpretieren möchte  (or. 5, 23 f.). Zu Recht wird im Folgenden von B. auch darauf verwiesen, daß das Exemplum der Apostelgeschichte, selbst wenn die dort genannten Stoiker und Epikureer nun weithin zu einem Schimpfwort wurden, durchaus nicht mit den antik- heidnischen Philosophen insgesamt gleichzusetzen sei, natürlich am allerwenigsten bei den Kappadokiern. Keine Rücksicht kennt man allerdings bei der Würdigung der kulturellen Leistungen Athens, wenn es neben einer allzu engen Verbindung mit dem Götterkult um unglaubwürdige Mythen der Frühzeit geht. Dabei werden die Gottheiten der Mysterienkulte besonders negativ charakterisiert, gewannen doch gerade die Fremden, welche Athen besuchten, daraus noch immer die nachhaltigsten Eindrücke. Aber auch hier ist deutlich zu scheiden zwischen den mythischen und historischen Exempla, die auch den gebildeten Christen ohne langes Überlegen in ihren Reden von den Lippen gingen, und der echten Verbindung mit dem verachteten Götterkult, der in dieser Zeit freilich schon ziemlich kraft- und bedeutungslos geworden war. Voll zuzustimmen ist allerdings dem abschließenden Satz des Verf., daß bei Gregor von Nazianz aus der Vielzahl von Belegen besonders in seinen Gedichten manches Inkonsequente und Widersprüchliche zu entdecken sei, je nachdem  welches Ziel er verfolgte. Ob nicht etwa die Gedichte über die rechte Wahl des Studienortes für seinen Neffen Nikobulos doch die wahre, stets gleichbleibende Meinung, gegründet auf einen „von Natur aus angelegten Wissensdurst“, widerspiegeln? Verdeckte damit die von einem Christen erwartete notwendige Distanz gegenüber der heidnischen Paideia ein stets vorhandenes grundlegendes Bedürfnis?

Als ein Nachklang aus dem dunklen mittelalterlichen Griechenland kann das abschließende  fünfte Kapitel über den bereits genannten athenischen Bischof Michael aus Choniai gelten, über den es nur wenige wissenschaftliche Studien gibt. Dieser zeichnet in seiner Antrittsrede als Oberhirte der damals völlig verarmten Gemeinde das romantische Bild einer längst vergangenen Glanzzeit, das er beim Besuch eines hohen Beamten aus der Hauptstadt noch einmal wiederholt, aber bewegend ist doch der Kontrast mit der Unbildung der jetzigen Bewohner und ihrer wirtschaftlichen Not in „diesem großem Trümmerhaufen“, die er als Entschuldigung für das jetzige bäuerische Wesen dafür anführt. Freilich hätte man hier gerne etwas über den historischen Hintergrund  erfahren, etwa über die Folgen der Eroberung der Hauptstadt durch die Venezianer und der von ihnen getäuschten Kreuzfahrer im Jahre 1204, in deren Verlauf der Bischof auch seine attische Gemeinde zu Gunsten eines fränkischen Herrn und eines neuen lateinischen Erzbischofs verlassen mußte. Bei dem Appell an die einstige Größe mit den Formeln des klassischen Athenlobs wird man allerdings den Verdacht nicht los, daß hier manche Topoi auch über das jetzige Kontrastbild eingeflossen sind und manches unbesehen übernommen wurde, so daß man  vorsichtig sein sollte, diese Äußerungen als zuverlässige Quelle einzuschätzen.

Vielleicht sollte man am Ende daran erinnern, daß gerade die Schrift des Basilios „An die Jugend“ für das positive Verhältnis zur Chiffre Athen, d.h. insgesamt zur antik-heidnischen Paideia, bereits im byzantinischen Mittelalter außerordentlich befruchtend wirkte, aber auch in der italienischen Renaissance durch frühe Übersetzungen etwa gegenüber engstirnigen Hardlinern wie Savonarola ihre segensreiche Wirkung nicht verfehlte, ja selbst noch im Frankreich des 19. Jh. als ehrwürdiges Zeugnis gegen geistige Enge und Intoleranz  verwendet wurde. So könnte man zum Lob der Kappadokier damit schließen, daß ihre Offenheit dazu beigetragen hat, daß noch heute in der Erziehung der Jugend den studia humaniora kein geringerer Rang zugewiesen wird wie den sacrae scripturae. Hierfür einen wichtigen Beitrag geleistet zu haben, darin liegt ein wesentliches Verdienst dieses sorgfältig angelegten, auch äußerlich ansprechenden  Buches.

Richard Klein, Wendelstein
rikle@t-online.de


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