Michael Erler, Andreas Graeser (Hrsgg.): Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Spätantike. Eine Einführung. Darmstadt: Primus Verlag 2000. 235 S. Euro 29,90. ISBN 3-89678-178-2

 

Der hier anzuzeigende zweite Band der Sammlung „Philosophen des Altertums“ entstand unter der Verantwortung des Würzburger klassischen Philologen Michael Erler, der durch seine Arbeiten zur spätantiken Philosophie internationalen Ruf genießt. So darf der Benützer von vornherein überzeugt sein, einen Sammelband vorzufinden, der mit höchster Kompetenz zusammengestellt wurde. 

Einleitend skizziert Erler den Wandel der Periode in der fachwissenschaftlichen Bewertung. Galten Hellenismus und Spätantike bis vor einigen Jahrzehnten als Zeiten des Niedergangs und Verfalls und die Philosophie dieser Zeit als zu sehr praxisbezogen oder religiös beeinflußt, so wird jetzt, ähnlich wie in der Literaturwissenschaft, das Neue und eigenständige dieses Denkens diskutiert und herausgearbeitet. So zeigen die hellenistischen Philosophenschulen durchaus „Fortschritte in Physik, Logik oder Erkenntnistheorie“ (1 f.), jüngste zusammenfassende Darstellungen (Nachweise S. 2 Anm. 4) belegen das gesteigerte Interesse der Forschung an dieser Epoche und ihrer Fragestellungen. Aber auch die Neubewertung der Philosophie der Spätantike hat bereits in Sammelbänden wie dem von Fuhrer/Erler  ihren Niederschlag gefunden. Die Hauptanliegen und Hauptvertreter der hellenistischen (einschließlich der römischen) und spätantiken Philosophie werden knapp und präzise dargestellt, sodaß der Leser auf die folgenden Einzelbeiträge eingestimmt ist und grundlegende Voraussetzungen vermittelt bekommt.

Eröffnet wird die Reihe der Monographien mit Epikur, dargestellt von dem Erlanger Philosophen Maximilian Forschner. Unter dem Untertitel „Aufklärung und Gelassenheit“ gibt Forschner zunächst einen Überblick über Leben und Werk Epikurs einschließlich der Quellen. Die Lehre wird, nach Diogenes Laertios, dargestellt in den Unterkapiteln Kanonik, Physik und Ethik. In enger Beziehung zum Bericht des Diogenes (den man bei der Lektüre des Forschnerschen Textes stets zur Hand haben sollte) werden zunächst die Prinzipien der Erkenntnis entwickelt, deren Basis die Wahrnehmung ist, hinzu kommen Vorbegriffe und Empfindung. Forschner verweist in seinen gedrängten Ausführungen wiederholt auf die Epikur-Monographie von Malte Hossenfelder (München 1991), dessen breitere, durch Exempla angereicherte Darstellung man gerne zu vertiefenden Erläuterungen heranziehen wird. Die Physik, wir würden heute sagen, die Naturwissenschaften, über die Epikur sein Hauptwerk in 37 Büchern verfaßt hat, haben eine „aufklärende ... und ... befreiende Funktion“ (23). Forschner stellt Epikurs Naturlehre, innerhalb derer die Atomlehre von besonderem Interesse ist, anhand des Briefes an Herodot dar. Dazu gehören auch Theologie und Psychologie, deren primäre Funktion darin besteht, „die Furcht vor dem Tod und dem Jenseits zu beseitigen“ (28), da nach Epikurs Lehre die Seele mit dem Tod sich auflöst. In der Ethik schließlich, die wiederum nach dem Referat des Diogenes dargestellt ist, stellt Forschner deutlich heraus, daß es sich bei der Lustlehre Epikurs nicht um einen vulgären Hedonismus handelt, sondern sein Ziel „das Erleben des Lebens“ (31) sei. Die Theorien der Lust und des Schmerzes werden, ebenfalls eng an den Quellen, angemessen ausführlich diskutiert; daran angeschlossen sind „Epikurs Gedanken über Recht, Staat und Gesellschaft“ (34). Der Beitrag schließt mit Verweisen auf jüngste Literatur, aus denen klar ersichtlich wird, wie stark diese Philosophie gegenwärtig diskutiert wird. Nicht zuletzt in Hinblick auf die anschließenden Beiträge könnte man sich noch einen Abschnitt vorstellen, der die Position Epikurs im weiteren Gang der antiken Philosophie „verortet“, und was seine Atomlehre, aber auch seine Ethik betrifft, so wäre gerade an eine Einführung der Wunsch zu richten, ihre Bedeutung (und damit die des Lucretius) für die Entwicklung nicht nur des naturwissenschaftlichen Weltbildes wenigstens andeutungsweise auszuführen. Aber dafür gibt es ja zum Glück Erlers konzise Darstellung im neuen Ueberweg.

Keimpe Algra (Utrecht), durch seine Arbeiten zur Stoa bekannt, handelt über Chrysipp unter dem Untertitel „Systematik und Polemik in der frühen Stoa“. Noch mehr als bei Epikur muß sich die Darstellung an Sekundärquellen wie Diogenes Laertios oder Cicero orientieren, da die überreiche Produktion des Chrysippos (nach der unvollständigen Aufstellung des Diogenes 705 Buchrollen), in der er sich nach Cicero (fin. 1,6) „zu allen unterschiedlichen Aspekten der Philosophie geäußert hat“ (Algra S. 41), verloren ist,[1] wohl nicht zuletzt wegen ihrer Vernachlässigung der formalen Seite. Da v.a. in der Von Arminschen Fragmentsammlung nicht selten auch nicht ausdrücklich bezeugtes Material Chrysipp zugewiesen wird, hat es sich Algra zur Aufgabe gemacht, sich bei der vorliegenden Darstellung auf namentlich bezeugtes Material zu beschränken. Zunächst werden kurz Chrysipps Beiträge zur Erkenntnislehrer und Dialektik diskutiert, ferner seine Beiträge zu Sprachphilosophie, ausführlicher die zur Syllogistik, die als Aussagenlogik „im Wesentlichen ... als Schöpfung Chrysipps zu betrachten“ ist (47). Chrysipps Arbeiten zur Physik stellen eine Weiterentwicklung früherer stoischer Ansichten dar. Exemplarische zeigt das Algra an der Lehre von Ort und Raum und der Problematik der göttlichen Vorsehung. Die Lehre vom Raum beinhaltet auch eine Kritik an der Position Epikurs - und damit wird Forschners Darstellung S. 26f. ergänzt. Ein Verweis darauf wäre hilfreich, wie überhaupt das Buch durch derartige Verzahnungen noch an Brauchbarkeit gewinnen würde. Die Lehrer von Fatum und Willensfreiheit und vom höchsten Gut hat vielfachen Widerhall gefunden und gerne läßt man sich von Algra auch immer wieder auf die Bedeutung der Stoa im allgemeinen und Chrysipps im besonderen für die weitere Geschichte der Philosophie belehren (S. 47 zur Aussagenlogik, S. 50 zur Willensfreiheit, S. 53 zu den Paradoxa).

Mit dem Untertitel „Philosophie zwischen Skepsis und Bekenntnis“ überschreibt der Marburger Klassische Philologe und ausgewiesene Cicero-Kenner Jürgen Leonhardt seinen Beitrag, dem es gelungen ist, auf 15 Seiten ein anschauliches Bild von der Bedeutung Ciceros für die Philosophie in Rom zu geben. Einleitend skizziert er die Bewertung Ciceros als Philosophen, die im Gegensatz zu Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit durch das berühmt-berüchtigte Dictum Mommsens bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein mit durchaus negativem Vorzeichen versehen war. Ausgehend von diesem Mißverständnis zeigt Leonhardt, wie Cicero gerechterweise eben nicht an den großen Philosophen zu messen, sondern aus seiner Zeit heraus zu verstehen ist, in der niemand mit einem neuen philosophischen System hervortrat (57). Die Zuordnung von Cieros philosophischen Schriften in zwei Lebensabschnitte des Redners (nach den Jahren 56 und 45) könnte den Anschein erwecken, als habe Philosophie erst damals für Cicero eine Rolle gespielt; seine Jugendschrift De Invention und seine frühen Reden lassen aber durchaus das Bild eines an griechischer Philosophie hoch gebildeten Menschen entstehen, dem die griechische Philosophie sein ganzes Leben hindurch eine willkommene Begleiterin war, auch wenn er das erst am Ende seine Lebens am Anfang des 5. Buches der Tusculanen in jenem bekannten Hymnus auf die Philosophia so einmalig und einprägsam formuliert hat. Während die umfangreiche bildungstheoretische Schrift De oratore nur kurze (und in Hinblick auf die besondere Bedeutung des dort entworfenen Rednerideals wohl allzu kurze) Erwähnung findet, wird De re publica ausführlicher gewürdigt. Mit Recht warnt Leonhardt davor, diese „zwischen philosophischer Reflexion und praktisch-politischem Bekenntnis“ angesiedelte Schrift im Lateinunterricht „allzu unbefangen als Dokument antiker Staatsphilosophie“ zu behandeln (60).[2] Was das philosophische Spätwerk betrifft, so schließ sich Leonhardt überzeugend an die These Hermann Strasburger an, der darin einen Aufruf gegen die Herrschaft Cäsars sah. Als besondere Leistung Cieros sieht Leonhardt die Tatsache, daß er mit Hilfe der erkenntnistheoretischen Grundlagen der skeptischen Akademie „ganze philosophische Systeme nacheinander auf den Prüfstand stellt. ... Ein solches Werk hatte zuvor niemand, auch nicht bei den Griechen, geschaffen“ (62). Wie Cicero im einzelnen vorgeht, zeigt Leonhardt am ausführlich Beispiel der Schrift De finibus, und er kommt zu dem Ergebnis (66): „Die von Fall zu Fall graduell differenzierte Offenhaltung des Urteils ist das entscheidende Merkmal von Cieros philosophischen Schriften.“ Die Rhetorik spielt dabei eine wichtige Rolle. Mit einem kurzen Ausblick auf die noch immer nicht hinreichend erforschte Wirkungsgeschichte schließt dieser gedankenreiche Beitrag.

Carlos Lévy (Sorbonne, Paris), schon durch seine gewichtige Untersuchung zu den Academica Ciceros (Cicero Academicus, Rom 1992), als hervorragender Kenner der späthellenistischen Philosophie ausgewiesen, bespricht unter dem Titel „Glaube und Philosophie“ das Werk Philons von Alexandria, das zunächst im Überblick vorgestellt wird. Lévy sieht im Werk Philons den „Konflikt zwischen zwei Identitäten“, nämlich der „des Juden, der von der Offenbarung überzeugt ist“, und der des „Rhetoren- und Philosophenschülers“ (75). Bekanntlich ist die allegorische Methode ein wichtiges Erklärungsprinzip Philons. An ausgewählten Beispielen zeigt Lévy, wie Philon diese Methode anwendet, um bei einem Text „den unsichtbaren Gehalt peinlich genau zu fassen und den sichtbaren Inhalt einwandfrei wiederzugeben“ (76). Dabei ist sein jüdischer Glaube deutlich der Philosophie übergeordnet (79). In den Abschnitten „Immanenz und Transzendenz“, „Skeptizismus und kulturelle Konflikte“ sowie „Der Mensch und seine Leidenschaften“ behandelt Lévy Philons Vorstellung vom Wesen Gottes, „der für den Menschen unaussprechlich und selbst für den scharfsinnigsten Verstand unmöglich zu begreifen bleibt“ ( 82), seine Vorstellung von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen (85: „Sich seiner Unfähigkeit zur Erkenntnis bewusst, muss der Mensch sich Gott anvertrauen, der alleine das Universum kennt“), sein Verhältnis zur weltlichen Bildung, die „nur durch ihre Ausrichtung auf die Tugend und Liebe Gottes einen Wert gewinnt“ (86) sowie sein Verhältnis zur stoischen Pathos-Lehre. In der Verknüpfung griechischen Denkens mit der Bibel hat Philon sicher, wie Lévy abschließend bemerkt, Pionierarbeit geleistet, doch ging seine Art jüdischen Denkens im Judentum der Rabbiner verloren (89).

Die Zürcher Klassische Philologin Therese Fuhrer bespricht Seneca unter dem Aspekt der „Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit“. Diese Diskrepanz „zwischen dem in den Quellen dokumentierten Leben und der in den Schriften vorgetragenen Lehre“ (95) wird einleitend in einem biographischen Abschnitt eindringlich dargestellt, allerdings mit dem Ergebnis, daß sie für das Verständnis von Senecas Werk nicht entscheidend sei (ibid.). In seinem Zentrum stehen „die stoische Ethik und ihrer Definition des höchsten Ziels: der sittlichen Vollkommenheit, die wechselweise mit der Weisheit, dem glückseligen Leben oder dem höchsten Gut identifiziert wird“ (97), wobei „der Weise“ im Gegensatz zum Durchschnittsmenschen „ein theoretisches Konstrukt“, jedoch mit „klar umrissenen Konturen“ bleibt und als Richtschnur gelten kann (100). Daher kommt auch dem ethischen Fortschritt eine besondere Bedeutung zu, und zwar nicht als theoretischem Konstrukt, sondern als praktischer Konsequenz. Das zeigt sich am ausgeprägtesten in den Briefen an Lucilius, der „stellvertretend für eine bestimmte Leserschicht angesprochen ist“ (101). Das Ziel dieser Paränese ist erreicht, „wenn das Wissen die innere Haltung und das Wollen vollständig bestimmt“ (102). Dieses philosophische Wissen findet sich in der Physik mit ihren theologischen und kosmologischen Fragestellungen und in der Erklärung der Naturphänomene, die die Naturales quaestiones bieten, ebenso wie in der Ethik mit den Wissensbereichen der Güter-, Affekten- und Pflichtenlehre. Ausgeklammert bleibt die Frage, inwieweit auch Senecas Tragödien in dieses Grundkonzept einzuordnen sind. Mit einem kurzen Ausblick auf die Nachwirkung des Philosophen Seneca schließt der Beitrag, der weniger um die Darstellung der einzelnen Schriften als vielmehr um ein Bild vom Philosophen und seinem Dogma bemüht ist, und dieses Bild ist in sich schlüssig und überzeugend.

 

Franco Ferrari (Universität Salerno) handelt über Plutarch („Platonismus und Tradition“). Nach einem Überblick über das umfangreiche Werk Plutarchs und seine vielfältigen Themen zeigt Ferrari, wie der Platonismus für Plutarch die Grundlage einer Synthese von Philosophie und Naturwissenschaften, Religion und Mythologie, Geschichte und Politik darstellte (110). Seine Schriften zur platonischen Überlieferungsgeschichte sind verloren, aber die Grundgedanken des Inhalts sind zu rekonstruieren. Demnach sah Plutarch einen insgesamt einheitlichen Verlauf des Platonismus, in den auch der akademische Skeptizismus sowie Xenokrates und Aristoteles integrierbar waren, während Stoizismus und Epikureismus ausgeschlossen bleiben. Die Integration von Religion und Mythos in dieses System zeigt Ferrari am Beispiel der Schrift De E apud Delphos auf. Zu den eigenen Lehrmeinungen Plutarchs rechnet er dessen Vorstellung von einer vorkosmischen Seele als Ursache der Unordnung und des Übels, die in die Weltseele wie in die Einzelseelen Eingang gefunden hat, wobei aber das Gute gegenüber dem Bösen dominiert (118). Davon ausgehend gibt Ferrari eine allgemeine Beschreibung der Physik und Metaphysik Plutarchs (119-123). In seiner Seelenlehre übernimmt Plutarch die Dreiteilung Platons, von Aristoteles die Unterscheidung zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden. Höchste Tugend ist die Weisheit, die zur Angleichung an Gott führt.

 

Unter das Zitat „Werde so, wie die Philosophie dich haben will“ stellt Joachim Dalfen (Universität Salzburg) seine Darstellung Marc Aurels. Nach einem kurzen biographischen Abriß werden sein „Selbstbetrachtungen“ vorgestellt, ein Buch, das der Kaiser nur für sich selbst geschrieben hat und in dem er nur das schreibt, was ihm persönlich wichtig war (131). Dazu gehört die Bestimmung des eigenen Standortes im Kosmos, der geschaffen ist von der Vernunft bzw. der Natur des Ganzen (133), fernerhin die Bestimmung des Menschen, seines Körpers, seiner Seele und seines Geistes und die Erörterungen über Schicksal und Tod, Tugenden und Glück, die Dalfen mit zahlreichen Textverweisen darstellt, so daß man gut tut, den Originaltext stets bei der Lektüre zur Hand zu haben.

 

Als „Denker ohne Position“ charakterisiert Hansueli Flückiger (Universität Fribourg) den Skeptiker Sextus Empiricus in seinem Beitrag, der im Gegensatz zu den bisher vorgestellten auf gliedernde Zwischenüberschriften verzichtet. Ausgehend von der Kritik an den Dogmatikern werden die Fragestellungen des Pyrrhoneers dargelegt, seine Erörterung der skeptischen Philosophie, seine Frage nach der Wahrheit, nach den Prinzipien der Naturphilosophie und nach der Ethik sowie seine Auseinandersetzung mit den Kritikern des Skeptizismus. Sextus sieht sich als Therapeut mit dem Ziel der Ataraxie, ohne allerdings eine feste Position zu vertreten.

Auffallend kurz ist der Beitrag über Plotin („Die Heimkehr der Seele“) von Dominic J. O’Meara (Universität Fribourg). Das Denken Plotins und seiner Nachfolger wird zu Recht als die „führende philosophische Bewegung der Spätantike“ verstanden (160). Leben, Wirken und Herausgabe seiner Schriften durch Porphyrios sind knapp skizziert. Ausgehend von Platons Timaios wird Plotins Vorstellung von Seele und Körper sowie dem Einen dargestellt. Ausführlicher ist Plotins Auffassung von der Entstehung des Geistes aus dem Einen und die der Seele aus dem Geist erörtert. „Welterkenntnis ist auch Selbsterkenntnis“, d.h. der Mensch „entdeckt seine eigene Natur als wirksame Seele im Körper“ (167), die sich aber selbst an die Materie, an das Böse verlieren kann, jedoch „durch die Erfahrung und Liebe der Schönheit den Weg zurück zum göttlichen Geist“ findet (168). Die Philosophie hilft ihr dabei. „Durch die Philosophie kommt die Seele zum Geist, zur Erkenntnis und dadurch zur Einigung mit dem Einen“ (169). Kritisch bleibt anzumerken, daß im Kontext der übrigen Beiträge Plotin angesichts seiner Bedeutung wohl kaum hinreichend ausführlich gewürdigt ist.

Christoph Horn (Gießen) deutet Augustinus unter dem Aspekt „Antike Philosophie in christlicher Interpretation“. Entschieden wird Augustinus als Philosoph, nicht als Theologe im modernen Sinne verstanden. In einem ersten Abschnitt wird Augustinus’ teleologische Ethik entwickelt. Teleologisch ist diese Ethik insofern, als im Menschen „eine Strebenstendenz angelegt“ ist, „die erst in ihrem abschließenden Ziel, dem Glück, zur Ruhe kommt“ (172). Dieses Glück ist Gott. Diese Glückstendenz hält Augustinus nach Horn „für regelrecht beweisbar, und zwar im Sinne einer cartesischen, also selbstevidenten und endgültigen Gewissheit“ (175), erläutert anhand der Kernstelle civ. 11,26. Das ist ebenso eine philosophiegeschichtliche Innovation wie Augustins Willenstheorie, die genauer besprochen wird (177-183). Abgeschlossen wird der Augustinus-Beitrag mit einer Darlegung seiner Güterlehre, die auf der Unterscheidung von uti und frui beruht und einer Diskussion des civitas-Begriffs. Somit führt Horn zu zentralen Begriffen und Vorstellungen des Augustinischen Denkens, die freilich wiederum nur einen Teil des unerschöpflichen Reichtums dieses Denkers erschließen. Die knappe Auswahlbibliographie beschränkt sich auf die Nennung einiger Übersetzungen.

Der Herausgeber Michael Erler ist zugleich ein ausgewiesener Proklos-Kenner. Ihm verdanken wir die Darstellung des letzten großen Vertreters der Akademie. Proklos verkörpert wie kaum ein anderer griechischer Philosoph der Spätantike jenes janusgesichtige Element, das Ernst Kornemann als Charakteristikum dieser aufregenden Epoche genannt hat. Proklos wird nicht so sehr als originaler Denker verstanden, sondern als einer der spätantiken Philosophen, „deren Eigenständigkeit sich gerade im Umgang mit Platons Vorgaben erweist“ (191). Nach einem Überblick über Leben und Werk, in dem die enzyklopädische Gelehrsamkeit des Proklos sichtbaren Ausdruck findet, skizziert Erler das universale System des Neuplatonikers, ausgehend von dem Urgrund des Einen, das nur durch Negation zu beschreiben ist. Die kausalen Beziehungen der Wirklichkeit sind bestimmt durch das „Grundgesetz der proklischen Ontologie“, der „Trias von Verharren, Heraustreten und Rückkehr“ (197), letztlich der menschlichen Seele zu ihrem Ursprung, wozu die Hinwendung auf sich selbst die Voraussetzung darstellt. Ein Prozeß der Bewußtwerdung muß ausgelöst werden, eine geistige Übung, verbunden mit religiöse Praktiken, denn „man kann sich dem göttlichen Einen nur durch überrationale Schau annähern“ (200). Unter der Überschrift „Vorsehung und Theodizee“ wird das für die Spätantike so drängende Problem, woher das Böse in die Welt gekommen und wie es mit Gottes Gerechtigkeit vereinbar sei, diskutiert. Proklos hat der Frage drei Monographien gewidmet und eine von anderen Platonikern abweichende, durchaus eigene Lösung gefunden; er weist dem Bösen „eine nur uneigentliche, parasitäre Existenz“ zu (201). Das ausgeprägte religiöse Element in der Philosophie des Proklos („Philosophie als Rettung der Seele“) wird in Parallele zum Christentum als besonderes Phänomen der Spätantike gewürdigt (202ff.). In diesem Kontext haben auch die Hymnen ihren Platz, verstanden als „Meditationstexte“, die „dem Betenden helfen, sich die Weltordnung zu vergegenwärtigen“ (204): „Hymnus und Interpretation rücken eng zusammen ... Interpretieren wird zum Gottesdienst“ (206).

Der allzu früh verstorbene Platonismus-Forscher Matthias Baltes würdigt Leben und Werk des letzten großen antiken Denkers lateinischer Sprache, des Staatsmanns und Philosophen Boethius. Die philosophischen Anschauungen des Aniciers sind am eigenständigsten in seiner letzten Schrift, der Philosophiae consolatio zu finden (Baltes hält sie für unvollendet), der der Hauptteil des Beitrags gewidmet ist. Zuvor gibt Baltes einen kurzen Überblick über die Arbeiten des Boethius zur Aristotelischen Logik, während die Anschauungen über Naturphilosophie und Ethik aus der Consolatio gewonnen werden,[3] die sicher sein wirkungsmächtigstes Werk ist.

Die Herausgeber haben einen Sammelband vorgelegt, dessen je individuelle Beiträge in der Mehrheit besonders bedeutsame Aspekte im Werk der besprochenen Philosophen aufzeigen. Nicht selten beruhen diese Akzentuierungen auf jüngsten Forschungen und Interpretationen, sodaß sich der Band überzeugend von anderen Philosophiegeschichten vergleichbaren Umfangs unterscheidet.[4]

 

Joachim Gruber, Erlangen
joachim.gruber@nefkom.net

 

 



[1] Natürlich der stoischen Philosophie. Cicero schreibt quid enim est a Chrysippo praetermissum in Stoicis.

[2] Die viel diskutierte Frage, inwieweit Ciceros Schrift eine geistige Vorbereitung auf den augusteischen Prinzipat bedeute, wird mit Hinweis auf Heinzes Aufsatz von 1924 als erledigt angesehen. Doch dürfte darüber das letzte Wort noch nicht gesprochen sein, insbesondere wenn man Ciceros Ausführungen in der Pompeiana dazunimmt.

[3] Dabei kann sich Baltes auf seine früheren Darlegung in Vigiliae Christianae 34, 1980, 313ff. stützen.

[4] Bedauerlich ist nur, daß die griechischen Begriffe in Umschrift gegeben werden. Das führt zu Zitaten, bei denen der Sprachunkundige nicht mehr zwischen griechischen und lateinischen Termini unterscheiden kann; z.B. S. 26 „pa-renklisis, clinamen bzw. Declinatio, dazu noch mit fehlerhaften Trennung. Es überrascht immer wieder, wie leichtfertig in der Altertumswissenschaft nicht einmal mehr der Versuch gemacht wird, die griechische Terminologie in ihrer originalsprachlichen Form einzuführen; Transkriptionen könnten ja hilfsweise hinzutreten. Auf jeden Fall sollten sie aber mit den korrekten Akzenten versehen sein. Problematisch ist auch die Wiedergabe der originalen Namensformen, wenn sie als griechisch-lateinische Zwitter erscheinen (S. 39 „Zenon von Kitium“ statt griechisch „Zenon von Kition“ oder rein lateinisch „Zeno von Citium“). Die RE trägt den korrekten Titel „Realencyclopädie“ (nicht „Realenzyklopädie“). Die Auswahlbibliographien sind nicht selten sehr knapp gehalten .