Therese Fuhrer und Michael Erler (Hrsg.), Zur Rezeption der hellenistischen Ethik in der Philosophie der Spätantike. Akten der 1. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 22.-25. September 1997 in Trier, hrsg. v. Th.F. u. M.E. in Zusammenarbeit mit Karin Schlapbach, Stuttgart 1999 (Philosophie der Antike. Veröffentlichungen der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung, hrsg. v. Wolfgang Kullmann in Verbindung mit Jochen Althoff und Georg Wöhrle, Band 9).

 

Der vorliegende Band hebt sich aus der in den letzten Jahren wachsenden Zahl der Publikationen zur Spätantike und namentlich zur spätantiken Philosophie schon durch die Originalität des behandelten Themas hervor, das eine Forschungslücke schließt. Denn während man sich bisher mehr auf den spätantiken Platonismus und Aristotelismus und um die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden konzentriert hatte, nimmt dieser Sammelband, der auf eine internationale Tagung in Trier zurückgeht, die Rezeption der hellenistischen Philosophenschulen in der Spätantike ins Visier. Die Beiträge von Wissenschaftlern verschiedener europäischer Nationen, die als Spezialisten für die Spätantike gelten können, bieten sowohl einzeln als auch in der Zusammenstellung einen echten Forschungsfortschritt. Die Herausgeber Therese Fuhrer und Michael Erler stellen in ihrer konzisen Einführung den Zusammenhang mit der Trierer Konferenz her und informieren auch über die (wenigen) Vorträge, die nicht in den Tagungsband aufgenommen werden konnten.

 

Die Artikel widmen sich dem Thema vor allem unter zwei Grundaspekten. Einmal geht es um die Rezeption der hellenistischen Philosophie im spätantiken Platonismus. So weist Dominic J. O'Meara (Epicurus Neoplatonicus, 83-91) nach, daß der Neuplatonismus bei aller Ablehnung Epikurs doch zumindest einige Gedanken im Sinne einer Vorstufe eigener Auffassungen positiv zu würdigen vermochte und entsprechende Bemühungen des Damaskios und Simplikios schon bei Plotin ihr Vorbild hatten. Rainer Thiel (Stoische Ethik und neuplatonische Tugendlehre. Zur Verortung der stoischen Ethik im neuplatonischen System in Simplikios’ Kommentar zu Epiktets Enchiridion, 93-103) analysiert präzise, wie Simplikios in seinem Kommentar zu Epiktets Encheiridion den Wert der stoischen Ethik bestimmt: die Befolgung des dort Gesagten sei Voraussetzung für den eigentlichen philosophischen Aufstieg. Auch hier erscheint hellenistische Philosophie also als propädeutische Vorstufe, wobei Simplikios - wie Thiel zu Recht hervorhebt - freilich immer auch die Differenzen zwischen Epiktet und neuplatonischen Auffassungen benennt, was er zu seiner Zeit bereits in einer zurückhaltenden, unpolemischen Form tun kann. Von einer anderen Seite her kommt Michael Erler (Philosophie als Therapie — Hellenistische Philosophie als praeparatio philosophica im Platonismus der Spätantike, 105-22) - auch gestützt auf die Forschungen des Ehepaars Hadot - für Simplikios' Kommentar zu demselben Ergebnis (115: "eine gleichsam verschriftlichte Form schulmäßiger Vorbereitung auf das platonische Philosophiestudium") und gewinnt hieraus für Boethius' Consolatio Philosophiae eine überzeugende Erklärung für das Phänomen, daß stoisches Gedankengut in den ersten drei Büchern eine deutliche Rolle spielt, um danach in den Hintergrund zu treten. Indem Erler Boethius' Schrift in den Kontext platonischer Schulpraxis des allmählichen Aufsteigens zur Erkenntnis rückt, vermag er verständlich zu machen, was der rein literarische Vergleich mit anderer Konsolationsliteratur nicht zu erklären vermochte. In der ersten Werkhälfte geht es darum, den noch ganz im irdischen Leben gefangenen Boethius erst einmal innerweltlich auf die richtige Bahn zu bringen, vor allem, seine Vorstellungen zu reinigen, und hierbei kann auch auf die hellenistische Philosophie zurückgegriffen werden, insoweit sie als Vorbereitung auf die im platonischen Sinne eigentliche Philosophie dienen kann, weswegen Erler diese Funktion als "praeparatio platonica" bezeichnet. Neben dieser Aneignung hellenistischen philosophischen Gutes als propädeutischer Vorübung gibt es aber naturgemäß auch Felder, in denen eine Abgrenzung unvermeidlich ist. So ordnen Jan Opsomer und Carlos Steel (Evil without a Cause. Proclus’ Doctrine on the Origin of Evil, and ist Antecedents in Hellenistic Philosophy, 229-60) in einem gemeinsam verfaßten Beitrag Proklos' Theorie über die Entstehung des Bösen (insbesondere aus De Malorum Subsistentia) in die komplexe Geschichte der Behandlung dieses Problems von Platon über Aristoteles und die hellenistischen Philosophenschulen (wie sie etwa in Ciceros De Natura Deorum greifbar ist) bis hin zu kaiserzeitlichen und spätantiken Autoren wie Plutarch und Plotin ein und beschreiben sie in Abgrenzung zu den von anderen antiken Autoren vertretenen Positionen mit bisher noch nicht erreichter Differenziertheit.

Zweites Grundthema ist die Rezeption in der spätantiken christlichen Literatur (Erlers Artikel zu Boethius' Consolatio gehört klar in den anderen Kontext, weil er gerade nachweist, daß Boethius' Vorgehen schulphilosophisch zu erklären ist). Sabine Föllinger (Aggression und Adaptation: Zur Rolle philosophischer Theorien in Arnobius’ apologetischer Argumentation, 13-31) zeigt, wie sich in Arnobius' apologetischer Schrift Adversus Nationes, die in einer Art Diatribenstil ständig gegen imaginierte Gegner argumentiert, nahezu jede denkbare Form möglicher Epikur- und Stoarezeption findet. Insgesamt verwendet Arnobius deren Philosopheme in einer völlig freien, ganz dem eigenen rhetorischen Argument verpflichteten Form. Er verwendet ihre Gedankengänge, wo sie ihm nützlich sind, attackiert sie, wo dies nicht der Fall ist, vertritt aber letztlich immer eine eigenständige Position. Jochen Althoff (Zur Epikurrezeption bei Laktanz, 33-53) demonstriert, wie Laktanz sich kritisch mit einem populären Epikureismus auseinandersetzt und damit offensichtlich dazu beigetragen hat, diese zu seiner Zeit noch einflußreiche philosophische Richtung in den Hintergrund treten zu lassen. Christoph Riedweg (Mit Stoa und Platon gegen die Christen: Philosophische Argumentationsstrukturen in Julians Contra Galilaeos, 55-81) untersucht, inwiefern sich Julian in Contra Galilaeos umgekehrt stoischer und platonischer Argumente gegen das Christentum bedient. Ihm gelingt es dabei durch die Berücksichtigung zahlreicher Quellen aus dem spätantiken Christen-, Juden- und Heidentum, ein sehr differenziertes und lebendiges Bild des damaligen intellektuellen wie sozialen und politischen Lebens zu zeichnen, das zugleich faszinierende Bezüge zur modernen multikulturellen Gesellschaft bietet. Carolin Oser-Grote (Virtus Romana und Virtus Christiana. Die Rezeption und Transformation eines römischen Wertebegriffs bei Prudentius, 213-28) befragt in ihrem Beitrag auf der Basis einer kundigen Übersicht über die Forschung zu den Quellen von Prudentius' Psychomachia den Text konsequent nach der Funktion, die Anspielungen an Vergil, Ovid, usw. bei Prudentius haben. Dabei ergibt sich ein christliches Tugendkonzept mit klar stoischer Färbung. Karla Pollmann (Zwei Konzepte von Fiktionalität in der Philosophie des Hellenismus und in der Spätantike, 261-78) untersucht das Weiterwirken vor allem des stoischen Zeichen- und Fiktionalitätskonzepts in der Spätantike in Abgrenzung von platonisch-aristotelischen Ansätzen gerade auch unter dem Aspekt der vielfältig bestehenden, schwer klassifizierbaren Mischformen zumal in der christlichen Literatur, die oft keiner bestimmten Schule verpflichtet ist.

Eine gewisse Verbindung zwischen dem Bereich der Schulphilosophie und dem der christlichen Autoren bildet die Gestalt des Augustinus, der nicht leicht einem der beiden zuzuschlagen ist. Gleich fünf Beiträge beschäftigen sich daher mit dem besonders komplexen Problem von dessen Verhältnis zur hellenistischen Philosophie. Maria Dettetini (Ai limiti della materia, tra neoplatonismo e cristianesimo. Per una lettura del De musica di Agostino di Ippona, 123-38) analysiert den Zahlbegriff in Augustinus' De Musica und weist nach, daß Augustinus' Auffassung von den verschiedenen Arten von Zahl und ihren Funktionen in der Schöpfung gerade nicht traditionell römisch und damit auch nicht mehr stoisch (auch nicht im Sinne des eklektizistischen Stoizismus eines Cicero) ist, wobei aber dennoch eine gewisse Nähe zu Cicero in der sorgfältigen Art des Vorgehens bleibt. Karin Schlapbach (Ciceronisches und Neuplatonisches in den Proömien von Augustin, Contra Academicos 1 und 2, 139-51) zeigt in einer vorsichtig argumentierenden Studie, daß Augustin in Contra Academicos auch an Stellen, an denen er augenscheinlich an Cicero anknüpft, in seinem grundlegenden Gedankengang platonisch bestimmt ist. Demgegenüber vertritt Sabine Harwardt (Die Glücksfrage der Stoa in Augustins De beata vita: Übernahme und Anwendung stoischer Argumentationsmuster, 153-71) die These, daß Augustins Darstellung der Frage, wie der Mensch zum wahren Glück gelange, in De Beata Vita stoisch beeinflußt sei (prokopé-Lehre), wobei sie einräumt, daß angesichts der Quellenlage weder bestimmte stoische Vorbilder benennbar sind noch ausgeschlossen werden kann, daß uns stoisch anmutendes Gedankengut in Wahrheit platonisch war. Christoph Horn (Augustinus über Tugend, Moralität und das höchste Gut, 173-90) führt den schlüssigen Nachweis, daß entgegen in der Forschung vertretenen Thesen Augustins Tugendkonzeption in allen wesentlichen Elementen neuplatonisch geprägt ist und damit nicht von dem ethischen Rationalismus der griechischen philosophischen Tradition abweicht. Auch die Betonung des Gnadenaspekts beim späteren Augustinus bringt ihn nicht in Gegensatz zum Neuplatonismus, und er ist auch in der mittelalterlichen Tradition nicht irrationalistisch verstanden worden. Therese Fuhrer (Zum wahrnehmungs-theoretischen Hintergrund von Augustins Glaubensbegriff, 191-211) befragt den augustinischen Glaubensbegriff auf seinen erkenntnistheoretischen Hintergrund, wobei sie deutliche Bezüge zur stoischen adsensio-Theorie herausarbeitet. Fuhrer hebt dabei selbst die zentralen Unterschiede zwischen Augustinus' Auslegung des credere und originär stoischen Auffassungen von synkatáthesis hervor, so daß man den stoischen Einfluß weniger in der zentralen Konzeption, die platonisch bleibt, als vielmehr in einem bewußten Anknüpfen an den dem römischen Leser bereits vertrauten erkenntnistheoretischen Begriff der adsensio erblicken kann.

Ein dritter wichtiger Aspekt der Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike, der in mehreren Beiträgen eine Rolle spielt, wird abschließend von Ulrich Eigler (Strukturen und Voraussetzungen zum Erhalt von philosophischem Wissen in der Spätantike, 279-93) separat behandelt. Ganz typisch zumal für spätantike Autoren, soweit sie primär grammatisch und rhetorisch geschult sind, ist eine Art Allgemeinbildung, zu der auch ein bestimmtes Bild von philosophischen Schulen und deren Thesen gehört, ohne daß dahinter eigene Lektüre oder überhaupt eine präzise Quelle stünde. Dabei ist oft für uns gar nicht mehr mit letzter Sicherheit entscheidbar, welche Texte wem noch zugänglich waren.

Am Ende stehen biographische Kurzinformationen zu den Autoren und ein ausführliches Stellenregister, das den Nutzen des gelungenen und auch buchtechnisch schön ausgestatteten Bandes noch erhöht.

Im jetzigen Rahmen ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem oder mehreren einzelnen Beiträgen oder gar mit einzelnen Thesen naturgemäß weder möglich noch sinnvoll. Wenigstens zwei grundsätzliche Bemerkungen seien aber gemacht: Die Autoren des Bandes geben sich größtenteils viel Mühe, beim Nachzeichnen der Rezeptionsstränge sehr vorsichtig zu verfahren. Als Kenner der spätantiken Philosophie und Kultur wissen sie um die Art und Weise, wie in dieser Epoche vieles zu allgemeinem Bildungsgut geworden ist und keiner bestimmten philosophischen Richtung (mehr) zugerechnet werden kann. Trotz allem sind mir verschiedentlich gerade bei der Zuweisung von Philosophemen zur Stoa Zweifel geblieben, denn erstens gestattet es die Quellenlage für die hellenistische Philosophie ja nicht immer, mit der nötigen Sicherheit auszuschließen, daß für uns erstmals bei einem stoischen Autor Belegtes nicht doch in Wahrheit aus der Akademie stammte (mir persönlich erscheint die Stoa wesentlich als eine Umgestalterin ererbten Gedankenguts, deren Fähigkeit zur "creatio ex nihilo" gering war). Und zweitens mögen manche Begriffe, die in der Spätantike von nahezu jedermann verwendet werden, unzweifelhaft auf stoische Autoren wie Chrysipp zurückgehen. Den Nachweis zu führen, daß sie bei dem jeweiligen spätantiken Autor wirklich in einem genuin stoischen Sinn verwendet werden, scheint mir aber ein schwieriges Geschäft, bei dem wir uns zu oft schon nach dem Nachweis verbaler Anklänge ausruhen.

Ein weiteres Grundproblem der Arbeit an der Philosophie der Spätantike bleibt, daß dabei immer ein bestimmtes Bild von der Philosophie Platons, Aristoteles' wie auch der hellenistischen Philosophen vorausgesetzt werden muß. Im Falle der letzteren kommt erschwerend hinzu, daß die spätantiken Autoren oft zugleich unsere Hauptquelle für die hellenistischen Philosophen sind, so daß die Gefahr von Zirkelschlüssen in die Nähe rückt. Auch hier ist die Forschung noch sehr im Fluß, es besteht kein Konsens darüber, was genuine Lehrmeinungen Platons oder Aristoteles' sind, wodurch noch schwerer abgrenzbar wird, was nun wirklich Innovationen beispielsweise Chrysipps sind und worin sie genau bestehen. Vor diesem Hintergrund ist dann noch schwerer zu bestimmen, was in der Spätantike wirklich Rezeption hellenistischer Philosophie ist. Die meisten Artikel des Bandes gehen aber im vollen Bewußtsein dieser Schwierigkeiten wie gesagt sehr umsichtig zu Werke und hüten sich vor vorschnellen doxographischen Zuweisungen.

Insgesamt ist auf diese Weise eine Analyse der Bedeutung der hellenistischen Philosophie für die Spätantike entstanden, die meines Wissens in der Forschung bisher nicht ihresgleichen kennt. Jeder an der Philosophie dieser Epoche Interessierte wird an diesem Werk nicht vorbeikommen und den Herausgebern wie den Autoren für die anregenden und lehrreichen Beiträge zu Dank verpflichtet sein.

Wolfgang Bernard, Rostock