Irmgard Männlein-Robert: Richard Sorabji, Emotion and Peace of Mind

Richard Sorabji: Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation. Oxford: Clarendon Press 2000 (The Gifford Lectures). 499 S. £ 30.00 ISBN 0-19-825005-3

Das neue Buch von Richard Sorabji (im folgenden S.), einem profunden Kenner der aristotelischen und auch der stoischen Philosophie, beschäftigt sich mit dem komplexen Thema der Entstehung und Bedeutung von Affekten in der antiken Philosophie. Der Autor wählt einen zunächst unhistorischen Zugang, indem er aus der Perspektive des modernen Menschen die antiken Theorien kritisch befragt, was sie für die gegenwärtige Diskussion zu leisten vermögen. Souverän präsentiert er einen teils philosophie–, zum Teil auch ideengeschichtlichen Grundriß der antiken Affektenlehre von den Vorsokratikern bis zu den christlichen Kirchenvätern. Bemerkenswert ist der Zuschnitt der Darstellung, die sich nicht auf die Untersuchung einzelner Affekte konzentriert, sondern vielmehr deren Gesamtheit im Rahmen verschiedener ethischer Grundlegungen behandelt. S. konzentriert sich vor allem auf die Protagonisten der stoischen Affektlehre (Chrysipp, Poseidonios und Seneca), die als erste ein stringentes System der Affekte, ihrer Entstehung und Bekämpfung, erstellt haben. Dabei werden Möglichkeiten der Therapierung bis hin zur modenen Psychotherapie aufgezeigt. Von besonderem Interesse sind S.s Ausblicke auf die Konsequenzen der stoischen Affektlehre für die entsprechenden ethisch-moralischen Vorstellungen des christlichen Abendlandes. Dabei zeigen sich mitunter einschneidende Veränderungen bei der Transponierung stoischer Elemente in den christlichen Kontext der Spätantike, zugleich erstaunt jedoch eine bisher ungeahnte Kontinuität der Auffassungen, vor allem bei den therapeutischen Maßnahmen der Affektbekämpfung.
Das Buch ist leserfreundlich strukturiert: Es umfaßt neben einer sehr allgemein gehaltenen Einleitung vier Großkapitel, die zentralen Fragestellungen zum Thema untergeordnet sind. Die systematisch aufeinander aufbauenden Großkapitel entsprechen in ihrer Abfolge einem vorwiegend philosophiehistorischen Durchgang; die große Vielzahl der jeweiligen thematisch konzipierten Unterkapitel erscheint dagegen nicht von derselben stringenten Systematik der Darstellung wie die Großkapitel, vielmehr durch assoziative Verbindungen geprägt. Verschiedene sehr ausführliche und gründlich erarbeitete Indizes (Sekundärliteratur, Namensindex antiker Philosophen mit Angaben zur Lebenszeit, Stellenindex, Schlagwort–und Namensindex) sowie ein Abkürzungsverzeichnis machen dieses Werk zu einem ausgesprochen lehrreichen Beitrag zur Geschichte der antiken Affektenlehre.

Das erste Großkapitel widmet S. der Frage, ob es sich bei Leidenschaften/Affekten (pathos bzw. affectus)[1] um vernunftmäßige Urteile, um rein irrrationale oder um physische Kräfte handelt. Bei seiner philosophiegeschichtlichen Darlegung von den Vorsokratikern bis Plotin zeigt sich, daß zunächst übereinstimmend die Affekte dem kognitiven Bereich zugeordnet werden. Während bereits Platon einen Affekt wie die Furcht als kognitiv einstuft,[2] aber keine weitere Charakterisierung von Affekten vornimmt, legt Aristoteles eine differenzierte Behandlung dieses Themas vor, die in ihrer Abhängigkeit vom Kontext der Rhetorik und Poetik bewertet werden muß. Anders als die Stoiker, die sich mit Aristoteles’ Darlegungen zum Affekt kritisch auseinandersetzen, beschäftigt sich dieser nicht nur mit der ‚Beruhigung‘ (Katharsis), sondern auch mit der Erzeugung von Affekten und untersucht emotionale Wechselwirkungen von Personen, aber auch Zusammenhänge zwischen den einzelnen Emotionen. Ein folgenreiches System der als Vernunfturteile postulierten Affekte wird freilich zuerst vom Stoiker Chrysipp entwickelt, der den vier generischen Affekten (Trauer, Lust, Furcht, Begierde) alle anderen Affekte als species unterordnet. Jeder Affekt besteht aus zwei Urteilen: a) dem Urteil, ob etwas gut oder schlecht ist und b) der Reaktion darauf. Eine Erscheinung (phantasia) wird also erst durch die Zustimmung (synkatáthesis; assensio) der Vernunft in ein Urteil umgesetzt, das sich in Form eines Affekts manifestiert. Bei einem Affekt handelt es sich also um eine falsche und daher negative Vernunftentscheidung. Erst Seneca nimmt eine bedeutende Modifizierung dieses allgemein–stoischen Konzepts vor, indem er die Affektlehren Zenons und Chrysipps miteinander kombiniert. Demnach setzt das vor dem eigentlichen Affekt wirksame ‚Vorstadium‘ des Affekts (nec adfectus sed principia proludentia adfectibus; dial. 4, 2, 5), der sich anhand physischer Merkmale wie Zittern oder Blässe manifestierende ‚erste Andrang‘ (próte hormé primus motus), unfreiwillig ein, während erst die zweite Bewegung des Affektes vom Willen genehmigt ist und die dritte Bewegung ein gänzlich unkontrolliertes Stadium darstellt. Für eine Therapie ist also die Unterscheidung von vernunftkontrolliertem und unfreiwilligem Affekt von maßgeblicher Bedeutung. Verdienstvoll ist der nachdrückliche Hinweis von S. auf die in der Forschung oft nicht hinreichend beachtete, innerhalb der Stoa jedoch intensiv diskutierte und mit Blick auf die Spätantike folgenreiche Bewertung der ‚ersten Bewegungen‘, die sich als physische oder als geistige Reaktionen klassifizieren lassen. Da sie jedoch spontane Reaktionen auf eine Erscheinung noch ohne Urteil sind, handelt es sich – nach S. und gegen die Auffassung z.B. Inwoods[3] – bei diesen ‚propátheiai‘ noch nicht um Affekte im eigentlichen Sinn. Bei dieser wichtigen Differenzierung zeichnet sich nicht nur eine innerstoische Diskussion, sondern vor allem auch eine Reaktion auf die Katharsis–Lehre des Aristoteles ab, die durch die neue stoische Konzeption ersetzt werden sollte. In diesem Kontext spielt, wie S. zu Recht herausstreicht, Poseidonios eine besonders wichtige Rolle. Galen, der die Darlegungen des Poseidonios zu diesem Thema referiert, weist nachdrücklich auf dessen Kongruenz mit Platon hin. Dabei postuliert Poseidonios – nach Galen – wie Platon zwei irrationale Teile bzw. Potenzen in der Seele, den muthaften (thymoeidés) und den begehrlichen Teil (epithymetikón). Überdies übernimmt er auch platonische Begrifflichkeiten sowie das Bild von den beiden Pferden mit Wagenlenker, das die seelischen Kräfte symbolisiert. Aufschlußreich und verdienstvoll ist S.s Berücksichtigung des Zitatkontextes: Denn es zeigt sich, daß Galen, der gegen Chrysipp polemische Argumente vorbringt, Platon deutlich den Vorzug gibt. Daraus ergibt sich die – allerdings von S. nicht klar formulierte – Konsequenz, daß Galen Poseidonios und seine Stellung in der innerstoischen Diskussion demonstrativ für seine eigenen – platonisierenden – Darlegungen funktionalisiert hat. Poseidonios selbst relativiert Chrysipps rein intellektualistische Auffassung der Affekte. Urteile allein seien nicht ausreichend, um Affekte zu erklären. Während das Urteil bleibt, kann der Affekt vergehen. Umgekehrt ist ein Urteil ohne Vorstellungskraft für einen Affekt nicht ausreichend. Somit sei es nicht immer notwendig am Entstehen von Affekten beteiligt, wie sich auch mit Blick auf Kinder und Tiere, die nach Chrysipp keine eigentliche ratio haben, zeige. Am Beispiel der Musik zeigt er das Entstehen von Emotionen und Affekten auf, die ohne jede Vernunfteinwirkung erklärbar sind. Außer Poseidonios erheben auch die Mittelplatoniker und vor allem der kaiserzeitliche Aristoteliker Aspasios Einwände gegen Chrysipp. Sie definieren die Affekte als ‚Annahmen‘ (hypolépseis), die durch eine bloße Erscheinung, ganz ohne Zustimmung, ausgelöst werden können. Ausführlich referiert S. die intensive Beschäftigung des Aspasios mit der Frage, wieviele generische Affekte es gebe.
Ausgesprochen interessant ist S.s Kapitel zur Hirnforschung und den Grenzen der kognitiven stoischen Therapie gegen Affekte. Dabei stützt sich S. auf neueste neurophysiologische Forschungen, vor allem die Arbeiten Josephs Le Doux zu diesem Thema[4]. Während nach der traditionellen Auffassung in der Hirnforschung immer die Priorität des rationalen Gedankens vor den physischen Reaktionen des corpus amygdaloideum postuliert wurde, das im limbischen Systems des Gehirns das neuronale Substrat für Emotionen und für Motivation darstellt, betonte Le Doux die Möglichkeit der umgekehrten Reihenfolge. Seine Versuche zeigten, daß die Übermittlung von Reizen der Außenwelt schneller in die Amygdala als bis in die kortikalen (i.e. kognitiven) Teile des Gehirns gelangt. Erst wenn sie dort angekommen sind, kann etwas als Gefahr identifiziert oder aber ‚Entwarnung‘ gegeben werden. Vor dem Hintergrund dieser neuen physiologischen Erkenntnisse sind auch die stoischen ‚propátheiai‘ besser zu verstehen. In Übereinstimmung mit der bereits bei Poseidonios erkennbaren Tendenz wird die Rolle der Kognition im Rahmen der Affektlehre zunehmend fraglicher. Daher stellt S. im folgenden die der stoischen kognitiven Therapie immanenten Probleme vor: Kinder, die nach stoischer Auffassung bis zum Alter von 14 Jahren keine ratio haben, werden in der Affektlehre nicht berücksichtigt, während dagegen Philosophen wie Platon, Galen, Antiochos und Plutarch durchaus Konzepte der Emotionen und Affekte bei Kindern im Rahmen von deren Erziehung formulierten. Weiterhin beschäftigt sich die stoische kognitive Therapie immer nur mit den eigenen Affekten, niemals mit deren Wirkung auf andere. Der deutlichste Unterschied zwischen der modernen kognitiven Therapie und stoischen liegt darin, daß die moderne Therapierung sich nur auf ungewollte Emotionen erstreckt, die stoische Therapie dagegen alle Affekte zu beseitigen sucht.

Im Zentrum des zweiten Großkapitels stehen vor allem die Formen der stoischen Affekttherapie. In kritischer Auseinandersetzung mit Bernard Williams, welcher der stoischen Philosophie jeglichen therapeutischen Wert abspricht, legt S. die unterschiedlichen Auffassungen von Stoikern hinsichtlich der Frage vor, ob die stoische (Affekt-)Therapie auch ohne gründliche Kenntnisses der philosophischen Grundlagen der Stoa, anwendbar sei. Während Seneca die Komplementarität von philosophischer Überzeugung und wirksamer Therapie betont, stellt Chrysipp diese auch Therapiewilligen frei, die sich nicht der stoischen Hairesis zurechnen oder aber in deren komplexes System noch nicht eingedrungen sind. Die Affekttherapie gehört systematisch zum Bereich der Ethik, mit der das Curriculum der stoischen Lehre eröffnet wird. Somit ist nach Chrysipp eine Therapierung ohne philosophisches Fundament möglich, hat dann freilich nur eingeschränkte Einsatzmöglichkeiten. Treffend ist der von S. gezogene Vergleich mit Yoga, der leider nicht näher ausgeführt wird. Wie nämlich in der westlichen Welt Yoga zumeist auf den Hatha Yoga (Körperhaltungen) reduziert wird, der auch ohne philosophische oder meditative Grundlagen (vgl. aber Jnana Yoga und Raja Yoga) erfolgreich sein kann, so ist auch die erfolgreiche Anwendung der stoischen kognitiven Therapie ohne große philosophische Vorbildung möglich.
Als stoisches Ideal fungiert die völlige Freiheit von (schlechten) Affekten, Apatheia. Um diese zu erreichen, muß der stoische Adept zahlreiche in der Gesellschaft verankerte Werte uminterpretieren, indem er sie als irrelevante indifferentia einstuft und dadurch innere Freiheit gewinnt. S. wendet sich persönlich gegen die Indifferenzlehre der Stoiker und führt ein fiktives Frage- und Antwortspiel mit Stoikern vor, in dem er Vor- und Nachteile der völligen Beseitigung von Emotionen und Affekten aufzeigt. In der Schlußfolgerung erweist sich Apatheia als günstig für dignitas und tranquillitas, schlecht aber im Hinblick auf familiäre Gefühlsbindungen. Ein langer philosophiegeschichtlicher Abriß von Anaxagoras bis hin zu den christlichen Philosophen, die Christus nach dem Modell des stoischen Weisen modellieren wollen, zur Tradition der Mäßigung von Affekten (moderatio) und deren völliger Auslöschung (apatheia) erhellt den doxographischen Hintergrund.
Wesentlich interessanter dagegen gestaltet sich S.s. Versuch, die Funktionsweise antiker Exerzitien zu rekonstruieren. Im Zentrum steht Chrysipps nur für Erwachsene und somit rein intellektualistische Psychotherapie, die nicht nur auf die Zukunft bezogene, prospektive, sondern auch retrospektive Übungen einschließt. Die kognitive stoische Affekttherapie kann sich somit auf alle drei Zeitstufen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen. Profunde und aufschlußreiche Überlegungen des Autors von ‚Time, Creation and the Continuum‘[5] zur zeitlichen Dimension der Therapie mit literarischen Beispielen (z.B. Ovids Ars und Remedia als Beispiele für präventive bzw. retrospektive Übungen oder Plotins Konzept vom außerzeitlichen Glück) erhellen diesen sonst knapp behandelten Aspekt. In diesen Kontext gehören freilich auch die für die gegenwärtige Diskussion richtungweisenden Studien Pierre Hadots zur Rolle der Philosophie als Therapie, als beständige Einübung innerer Haltungen, die S. leider nur eines kurzen Hinweises würdigt[6]. Derartige Übungen lassen sich mitunter in ganz unterschiedliche philosophische ‚Schulen‘ integrieren; so finden sich beim Platoniker Plutarch einge der – ursprünglich pythagoreischen – stoischen Übungen wie die Selbstbefragung und das Ziehen einer Tagesbilanz. Zu recht weist S. auf die in allen philosophischen Richtungen etablierte Praxis des ‚Umetikettierens‘, der Integration ursprünglich fremder Elemente in den Kanon der eigenen Übungen hin. Wiederholt zieht S. den Vergleich mit den Aristotelikern (v.a. Theophrast), die nicht Affekttherapie, sondern an deren Stelle Katharsis im Sinne einer zielgerichteten Affekterregung propagieren, deren Intensität entsprechend homöopathischer Heilmethoden eine erträgliche Modifizierung ursprünglich starker Affekte bewirken soll. In diesem Kontext formuliert S. die durchaus plausible Hypothese, wonach Senecas Diskussion über die ‚ersten Bewegungen‘ eine – bisher unbemerkte – Reaktion auf Aristoteles’ Katharsislehre darstellt. Vorgeführt werden hier Einwände gegen die Theorie der Katharsis, die nicht bei allen anwendbar sei.
Einen wichtigen Abschnitt bilden S.s. Ausführungen zu Galen und Alexander von Aphrodisias, die sich vom seelisch–geistigen Affektkonzept der bisher genannten philosophischen Richtungen dadurch distanzieren, daß sie Gefühle und Affekte durchwegs auf physiologische Ursachen zurückführen. So erklärt Galen (Quod animi mores) eine Emotion durch den körperlichen Zustand bedingt, der sich durch eine bestimmte Mischung von warm, kalt, flüssig und fest auszeichne. Seine Auffassung geht auf die These von der Seele als einer ‚harmonischen Mischung‘ zurück, die in Platons Phaidon zwar genannt, dort aber verworfen wird. Zumindest der sterbliche Teil der Seele ist, nach Galen, den Gesetzen des Körpers unterworfen. Die Ansicht Galens als Provokation nicht nur für die zeitgenössische, vor allem platonisch geprägte, sondern auch für die islamische Philosophie bietet interessante Ausblicke.

Das dritte Großkapitel behandelt emotionale Konflikte und deren Erklärung in den unterschiedlichen Philosophenschulen. Dabei wird der unmittelbare Zusammenhang zwischen den entsprechenden Seelenkonzepten und den daraus resultierenden Spannungen zwischen Affekt und Vernunft klar nachgezeichnet. Lösungsangebote von besonderem Interesse für diese Problematik stehen mit Origenes’ Theorie von den zwei Willen im Menschen, dem Willen des Geistes und dem (niederen) der Seele, sowie der davon abweichenden Lehre des Augustinus von den zwei Willen (geistigem – fleischlichem Willen) zur Verfügung. Eine neue Ebene der Diskussion um den Willen wird bei Augustinus auch insofern erreicht, als er einen bei allen Handlungen beteiligten, ubiquitären Willen postuliert. Auch S. involviert sich in diese Diskussion, indem er die einzelnen Aspekte des gesamten augustinischen Konzeptes zwar lobt, dieses Konzept aber als ganzes für problematisch hält. Weiterhin stellt S. die vor allem im Lateinischen interessanten terminologischen Veränderungen in diesem Kontext vor, so den Gebrauch der ursprünglich lukrezischen, dann auch ciceronischen Wendung libera voluntas.

Im vierten Großkapitel wird die Transformation der paganen Affektlehre durch christliche Philosophen behandelt. Die Ausführungen S.s konzentrieren sich dabei wiederum auf die Diskussion um völlige oder gemäßigte Affektfreiheit (Apathie oder Metriopathie). Dabei erleben die stoischen ‚ersten Bewegungen‘ eine bedeutende Transformierung und fallen nun in den Bereich der ‚propátheia‘ bzw. propassio. Sie werden zum Schlüssel der Erläuterung problematischer Bibelstellen, wie z.B. dem Weinen Jesu. Dieses läßt sich somit auf Jesu menschliche Natur zurückzuführen, während seine göttliche keine Affekte kennt. Dankenswert ist S.s Hinweis auf den klaren Bericht Didymus’ des Blinden über die noch nicht als Sünde geltende propassio. Einen neuen Ansatz entwickelt Origenes, der die ‚ersten Bewegungen‘ als ‚schlechte Gedanken‘, als herausfordernde incitamenta versteht, denen man widerstehen müsse. Daneben finden sich auf paganer wie christlicher Seite (Clemens von Alexandrien; Porphyrios) die Dämonen als Verursacher der ‚schlechten Gedanken‘. Besonders interessant ist der Abschnitt über Euagrios von Pontos (4. Jh. n.Chr.), der mit einer kurzen Biographie des Euagrios sowie einer Skizze der Tradition der kappadokischen Kirchenväter eingeleitet wird. In seinem ‚Lógos praktikós‘ erstellt Euagrios eine Liste mit acht generischen Versuchungen bzw. Sünden (logismoí) – eine Vorstufe der späteren sieben Erbsünden. Diese Logismoi werden mit den ‚ersten Bewegungen‘ der Stoiker gleichgesetzt, sind also nicht selbst Affekte. Da sie mitunter von Dämonen injiziert werden, bietet er spezielle Gegenmaßnahmen gegen diese an. Für Euagrios besteht im Falle einer Affekterregung die Sünde allein in der Zustimmung (der Vernunft). Um das Ziel der Affektfreiheit zu erreichen, entwickelt er eine bemerkenswerte psychologische Technik, indem er den einen schlechten Gedanken gegen einen anderen ausspielt. Anders als die Stoiker setzt Euagrios also die einzelnen Affekte in Bezug zueinander und untersucht deren Wechselwirkung. Neben dem stoischen Element, der Adaption der ‚ersten Bewegungen‘, finden sich bei Euagrios aber auch platonische Züge, wenn er die Seele in einen rationalen und einen emotionalen Teil untergliedert. Folgenreich ist in diesem Kontext Augustinus’ Diskussion der frühen Stadien der Versuchung, die ähnlich den ‚ersten Bewegungen‘ bzw. propassiones verhandelt wird. Die entscheidende Rolle spielt dabei die ‚Zustimmung‘, ohne die eine Versuchung nicht zur Sünde werden kann. Zu den ‚niederen Sünden‘ gehört demnach die sola cogitationis delectatio, die durch ein Gebet wie das Vaterunser kompensiert werden kann. Zu Recht betont S., daß Augustinus wesentliche Züge seiner Affektlehre einer Passage aus den Noctes Atticae des Aulus Gellius verdankt[7]. Gellius schildert dort Angst (timere) und Blässe (pallescere) eines stoischen Weisen während eines Seesturms. Dieser rechtfertigt sein Verhalten unter Berufung auf eine Passage aus Epiktets Diatriben. In der Paraphrase, die Gellius auf den Epiktettext folgen läßt, findet sich statt pallescere jedoch pavescere, ein ambivalenter Ausdruck für Nervosität. Während Zittern und Blässe als ‚erste Bewegungen‘ gelten, ist Angst ein Affekt. Die fehlende Differenzierung bei Gellius hat mit Blick auf die Rezeption durch Augustinus Konsequenzen: Indem Augustinus einen primus motus für einen echten Affekt hält, setzt er also pavor mit metus und timor gleich. Er vollzieht jedoch eine andere Art der Differenzierung, wenn er Verlangen und Lust, die in der stoischen Lehre durch die Zustimmung gebilligte tatsächliche Affekte sind, der Zustimmung vorausgehen läßt und sie somit nur als Vorstufen zu Affekten klassifiziert.
Ein Ausblick auf die christliche Sicht der stoischen Apatheia zeigt, daß bei Liebe und Mitleid Zugeständnisse gemacht werden. Originell ist wiederum der Ansatz des Augustinus, der in seinen Ausführungen zum Thema ‚Liebe‘ den Unterschied zwischen fleischlichem und geistigem Willen geltend macht. Er plädiert jedoch für moderatio, nicht für die gänzliche Ausrottung von Emotionen, wendet sich jedoch streng gegen Lust und Stolz. Zum Schluß widmet sich S. noch der Debatte um Sexualmoral zwischen Augustinus und dem Pelagianer Julian, Bischof von Eclanum. Während Augustinus die Ehe nur unter den drei Aspekten ‚Kinder, Treue, Sakrament‘ akzeptiert und Lust als abzulehnenden Ungehorsam gegen den maßgeblichen Willen interpretiert, stellt Julian die Lust auf eine Stufe mit anderen physischen Bedürfnissen wie Hunger und Schlaf. Dabei trifft er freilich eine wichtige Unterscheidung zwischen dem Befehl (imperium) und der Übereinstimmung mit dem Willen (consensus): Nicht alle physischen Bewegungen unterstehen somit dem Kommando des Willens, haben aber dessen Zustimmung. Obgleich, so S., Julian in dieser Diskussion die besseren philosophischen Argumente hatte, ist mit Blick auf die Sexualmoral des Abendlandes die politische Schlacht von Augustinus gewonnen worden.

S.s Buch bietet einen sehr lehrreichen und profunden Überblick über antike Affekttheorien und -therapien. Die kohärente und stringente Form der Darstellung wird dabei jedoch leider durch viele repetitive Passagen, welche die Genese dieses Buches aus den Gifford–Lectures erkennen lassen, etwas beeinträchtigt[8]. Der gelehrte Autor ist um Abwechslung in der Darstellungsform bemüht, wie z.B. seine fiktive Wechselrede mit den Stoikern (s.o.) zeigt. Sehr verdienstvoll ist seine gründliche philologische Bearbeitung der stets in der englischen Übersetzung präsentierten zentralen Primärstellen, deren Kontext er, wie z.B. im Falle Galens, für die Interpretation mit heranzieht und so überzeugende philosophische Ergebnisse gewinnt. Er bedient sich eines gewandten und klaren, gelegentlich etwas wortreichen Stils. Die sehr umfassende und gründlich recherchierte Bibliographie am Ende des Bandes gibt den aktuellen Stand der Forschung wieder.

Irmgard Männlein-Robert, Würzburg

[1] Zur Bedeutung der unterschiedlichen griechischen und lateinischen Termini siehe ergänzend zur Bibliographie von S.: Craemer–Ruegenberg, I., Begrifflich–systematische Bestimmung von Gefühlen. Beiträge aus der antiken Tradition, in: Zur Philosophie der Gefühle (hrsg. v. H. Fink–Eitel u. G. Lohmann), Frankfurt a.M. 1993, 20–32, v.a. 20 f. und den immer noch lesenswerten Beitrag von Vögtle, A., Art. <Affekt>, in: RAC 1 (1950) 160–173, v.a. 160 f.

[2] Plat. La. 198 B; Prt. 358 D; Lg. 644 C–D.

[3] Inwood, B., Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, v.a.175–181.

[4] Le Doux, J., The Emotional Brain, New York 1996; London 1998.

[5] London, Ithaca/ N.Y. 1983.

[6] V.a. Hadot, P., Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981 u. 1987 = ders., Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991.

[7] Gell. 19, 1, 15–21.

[8] Vgl. z.B. S. 284 u. (“Porphyry married a widow ...”) mit S. 276 o.; Wiederholung derselben Zitate, vgl. z.B. S. 160 und S. 150.


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