Julius H. Schoeps,  Hiltrud Wallenborn (Hrsgg.): Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter. Darmstadt: Primus Verlag 2001, 312 S. DM 78,-- ISBN 3-89678-402-1

 

Auf 30 Seiten Einführung und anschließenden 250 Seiten Dokumentation mit 140 ausgewählten Quellenstücken, alle in deutscher Übersetzung, unternehmen es die Herausgeber, eine „Geschichte des europäischen Judentums“ zu skizzieren. Der Zeitraum der Dokumente des ersten Bandes reicht vom zweifelhaften Besuch Alexanders d. Gr. in Jerusalem (Josephus, ant. 11,8,3-5 = Nr. 11) bis zur Vertreibung der Juden aus bestimmten europäischen Staaten, die zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 1290 (England, Nr. 61), 1306 (Frankreich, Nr. 64) und 1492 (Iberische Halbinsel, Nr. 110) geschah. An diesen Enddaten, die über 200 Jahre auseinander liegen, wird die Problematik des Vorhabens klar: Es gibt nur in Ansätzen eine (gemeinsame) Geschichte der Juden in Europa nach dem Zusammenbruch des römischen Weltreiches, wo zumindest eine einheitliche Rechtsgrundlage bestand. Diese später wiederherzustellen bemühte sich zwar die Kirche (z.B. auf der 4. Lateransynode, vgl. Nr. 49), aber es mangelte an den Möglichkeiten, die Beschlüsse überall und konsequent durchzusetzen. Der Zustand des römischen Reiches wurde im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ und in den übrigen Nachfolgestaaten des weströmischen Reiches eben nicht wieder erreicht.

 

Der vorliegende Band ist der erste von fünf geplanten. Damit ist klar, dass der Schwerpunkt der Dokumentation nicht in Spätantike und Mittelalter liegen wird. Allerdings werden im ersten Band die Grundlagen gelegt, die im Wesentlichen bis zur Neuzeit gültig waren. Die Konzeption des Buches ist klar und eindeutig: Die Quellen sollen sprechen, sollen einen Zugang zur Ereignisgeschichte eröffnen, aber auch zu religiösen, geistigen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Der Leser braucht keine speziellen Vorkenntnisse mitzubringen; daher werden alle Texte in deutscher Übersetzung geboten und (notdürftig) kommentiert, wobei Fundstellen für den Originaltext immer mit angegeben werden. Größtenteils konnten die Herausgeber auf bereits vorhandene Übersetzungen zurückgreifen. Wo das nicht der Fall war, hat man selbst übersetzt; wer, bleibt unklar. Im Vorwort wird nur einer Frau Michal Kümper für die deutsche Version der Takkanot von Aragon v. J. 1354 gedankt.

 

Die jüdische Vor- und Frühgeschichte bis Alexander ist in der Einführung kurz und mit aller Vorsicht dargestellt; im Dokumententeil werden dazu 10 Quellentexte geboten, die die religiösen Grundlagen des Judentums zeigen sollen und bis auf eine Ausnahme (Lev. 23) alle der Übersetzung von Buber/Rosenzweig entnommen sind. Da es genügend Bibelübersetzungen gibt darf die Frage erlaubt sein, warum diese, die zwar sehr nahe am Hebräischen Text, aber alles andere als leicht verständlich ist. Des weiteren fällt auf, dass unter Nr. 4 („Die Offenbarung der Tora am Berg Sinai“) der Dekalog fehlt, wohl weil er allgemein bekannt ist? Die jüdischen Feste (Lev. 23) sind hingegen ausführlich dokumentiert.

 

Die weitere knappe Einleitung beschreibt nun die Geschichte dieses Judentums im Hellenismus, im römischen Reich sowie in den Nachfolgestaaten des ehemals weströmischen Herrschaftsbereiches, wobei jeweils auf zentrale Quellenstücke des Dokumentarteils verwiesen wird. Dabei versuchen die Autoren, wichtige verlaufs- oder geistesgeschichtliche Phänomene von jüdischer und nichtjüdischer Seite zu beleuchten. Dabei ist die inhaltliche Gliederung im Wesentlichen regional bestimmt, wenngleich Ungereimtheiten vorkommen, bes. in Teil II, wenn versucht wird, zwischen den unmittelbar von den Herrschern selbst verantworteten antijudaistischen Maßnahmen und den vom Volk verursachten zu unterscheiden (z. B. Nr. 61 und Nr. 99).

 

Ausgangspunkt ist Judäa-Palästina in hellenistischer und römischer Zeit. Daran anschließend folgen Zeugnisse zur religiösen Situation des damaligen Judentums, neben innerjüdischen Texten auch die Bibelübersetzung der Septuaginta anhand des Aristeasbriefes, sowie zur Lage der Juden im römischen Reich. An Rechtsbestimmungen aus dem Codex Theodosianus (Nr. 35) sind Gesetze zu folgender Problematik aufgenommen: Dekurionen, Übertritte (zum Judentum und Christentum), Heiratsverbote, Sklaven, Purimfest, Schutz des Sabbats und Verbot des öffentlichen Dienstes. Relevante Verordnungen für die weitere Geschichte fehlen allerdings: Garantie autonomer Preise (Cod. Theod. 16,8,10 = Cod. Iust. 1,9,3), in eine Staatssteuer umgewandelte Patriarchensteuer (Cod. Theod. 16,8,14), Zuständigkeit der Gerichte (Cod. Iust. 1,5,21), Verbindlichkeit christlicher Feiertage für alle Bewohner (Cod. Theod. 15,5,5 = Cod. Iust. 3,12,6), erbrechtliche Bestimmungen (Cod. Theod. 16,8,28) und Verbot des Synagogenneubaus (Nov. Theod. 3,6). Auf solche Regelungen griffen die Nachfolgestaaten des (west)römischen Reiches (positiv oder negativ) zurück.

 

Umrahmt wird das Kapitel durch Dokumente aus „heidnischer“ (Strabon, Tacitus und Julian = Nr. 37-39) und „christlicher“ Sicht auf das Judentum: Paulus, Röm. 11 (Nr. 40, aber nicht z. B. Gal. 4,21ff), der Brief an Diognet (Nr. 41), Meliton von Sardes (Vom Passa 87ff. = Nr. 42) und Augustinus (civ. Dei 18, 45f. = Nr. 43). Damit ist eine rechtliche und pastorale Situation erreicht, die weitgehend für die Folgezeit bestimmend blieb, vermischt allerdings in gewissen Schüben mit Zwangstaufen, Verfolgung, Ermordung und Ausweisung.

 

Die Herausgeber unterscheiden in Teil II die „Juden in Mittel- und Westeuropa bis 1350" von den „Juden auf der Iberischen Halbinsel bis zur Ausweisung von 1492" in Teil III. Aus Skandinavien liegen wohl keine Zeugnisse vor? Über Byzanz wird sich vielleicht in einem der folgenden Bände etwas finden? Im vorliegenden Band ist in Nr. 128 lediglich der Bericht des Benjamin ben Jona über die Juden Konstantinopels abgedruckt. Ein Übersichtsplan über das Gesamtwerk fehlt leider.

 

Teil II gliedert sich in einen 1. Abschnitt, der mehr der Verlaufsgeschichte gewidmet ist: Kirchenrecht und Päpste, Franken, das Heilige Römische Reich sowie England, Frankreich und Polen. Generell lässt sich feststellen, dass die partikularen Kräfte, die regionalen Machthaber, eher judenfeindlich eingestellt waren, während die Zentralgewalt (Kirche, Papst, König, Kaiser) die Rolle des Schutzherrn der Juden übernimmt, teils nur für bestimmte Juden, teils für die im jeweiligen Machtbereich lebenden Juden generell. Auf Einzelheiten muss hier verzichtet werden. Bemerkenswert ist die „Erfindung“ der kaiserlichen Kammerknechtschaft, einer Kombination von augustinischer Theologie (Nr. 43) und Rechtsbestimmungen des Sachsenspiegels (Nr. 54), wonach Titus die Juden versklavte und die deutschen Kaiser als Rechtsnachfolger der römischen die Rolle des Herrn übernommen haben. Von hier ergibt sich einmal, dass Juden nie für sich selbst, sondern immer nur für ihren Herrn erwerben (so bes. Thomas v. Aquin, Nr. 89), aber auch ein Handel mit Juden, die man z.B. verpfänden konnte, wie es Karl IV. tat (Nr. 56). Kaiser Friedrich II, der sich dieser Konstruktion auch bediente, verbot allerdings den Vorwurf des Ritualmordes aufgrund der Blutvorschriften im Judentum (Nr. 55).

 

Aus England, wo unter Richard I. das „Große Schatzamt“ zur Kontrolle der jüdischen Forderungen, Einkünfte, Vermögen und Schulden eingerichtet wird (Nr. 58), ist die erste Ritualmordbeschuldigung 1144 aus Norwich bekannt. In Frankreich stellt sich die Situation der Juden weniger gleichmäßig (zum Schlechten hin) dar, weil hier die Zentralgewalt mal schwächer, mal stärker war. Besonders erwähnt werden soll hier nur das Zinsverbot Ludwigs des Heiligen (Nr. 63). Die endgültige Ausweisung 1394 unter Karl VI. betraf im Übrigen nicht die Provence und die päpstlichen Enklaven Avignon und Venaissin. Für Polen gibt es mit dem „Statut von Kalisch“ von 1264 (Nr. 65) eindeutige Regelungen zum Zusammenleben von Juden und Christen: Beide Gruppen sollen getrennt sein, man feiert nicht miteinander, und auch sonst waren zu enge Kontakte zu vermeiden, und bei „gemischten“ Wohngebieten wurden die Wohnungen getauscht. Bemerkenswert sind in Abschnitt 2 die Zeugnisse zur jüdischen Religion, zur Gemeindestruktur und zu den beruflichen Tätigkeiten aus jüdischer Sicht (Nr. 67-85), denen in Abschnitt 3 die christliche Seite (Zwangstaufen, rückfällige Juden, Pogrome) mit einzelnen jüdischen Reaktionen gegenübergestellt wird (Nr. 86-100).

 

Auch Teil III unterscheidet zunächst einen mehr verlaufsgeschichtlichen 1. Abschnitt: Westgoten, muslimische Reiche (allerdings mit zwei Zeugnissen, dem „Vertrag Omars“ = Nr. 104 und zur Kleiderordnung des Maghreb = Nr. 105, letztere nur wegen der Almohaden-Herrschaft auch in Spanien abgedruckt, die beide mit „Europa“ nichts zu tun haben!) und christliche Königreiche. Dem folgt dann in Abschnitt 2 ein Kapitel zur Religiosität und Mystik (Kabbala). Hier seien hervorgehoben Auszüge aus Dichtungen und Traktaten des Jehuda ben Samuel ha-Levi (Nr. 111; 119-123; 127), des Maimonides (Nr. 112; 113), des Buches Bahir (etwa „Glanz“, aus Südfrankreich = Nr. 115; 116) und des Buches Sohar (etwa „Lichtglanz“ = Nr. 117; 118). Die Dokumente enden mit Zeugnissen zum Umgang mit „Conversos“ (Nr. 138-140). Hier findet sich der „missing link“ zur modernen Rassentheorie, insofern die Spanier mit Gesetzen über die „Reinheit des Blutes“ sich von Juden und Conversos absetzten. Das entsprechende Zeugnis Nr. 139 enthält aber nur das Verbot öffentlicher Ämter und öffentlicher und privater „Pfründe“ für solche Conversos, mit denen sie Macht über Altchristen ausüben können. Einen konkreten Hinweis auf die „Reinheit des Blutes“ findet sich hier, entgegen der Ankündigung in der Überschrift, leider nicht!

 

Insgesamt darf man den Herausgebern bescheinigen, dass sie wohl zu allen relevanten Fragen des Judentums einschlägige Quellen gefunden haben. Besonders hervorzuheben ist die Heranziehung innerjüdischer Zeugnisse. Wenn man, wie der Rezensent, selbst jüngst ein Studienbuch zum Judentum (in der Spätantike) verfasst hat (Karl Leo Noethlichs: Die Juden im christlichen Imperium Romanum [4.–6. Jahrhundert]. Berlin: Akademie Verlag 2001; vgl. Plekos 3, 2001), weiß man, dass man es keinem völlig recht machen kann. Hier muss man Kompromisse schließen. Anhand der gesammelten Quellen lässt sich durchaus ein Bild des „europäischen Judentums“ bis zum Mittelalter im Überblick gewinnen. Für eine detailliertere Betrachtung einzelner Regionen allerdings ist das Netz zu grobmaschig.

 

K. L. Noethlichs, Aachen