Martin Hose

München
 

Zwischen Tradition und Wandel: Die griechische Historiographie zwischen dem

Hellenismus und Byzanz.

Versuch eines Überblicks(1)
 

Zusammenfassung: Vor dem Hintergrund eines historischen und eines literarhistorischen, in der Latinistik entwickelten Periodisierungsmodells, das eine Epoche Kaiserzeit (Von Augustus bis zum 3. Jhdt.) und eine Epoche Spätantike (Von Diokletian bis zum 5. bzw. 6. Jhdt.) ansetzt, wird die griechische Historiographie betrachtet. Es zeigt sich, daß in dieser Gattung ein durch zwei markante Zäsuren begrenztes Kontinuum von ca. 50 n. Chr. bis zum 7. Jhdt. vorliegt. Für die griechische Historiographie ist mithin eine Unterteilung in die Abschnitte Kaiserzeit/Spätantike nicht sinnvoll.

Kurz vor dem Ende des 6. Jhdts. vollendete Euagrios aus Epiphaneia in Syrien seine Historia ekklesiastike, seine Kirchengeschichte in 6 Büchern. An den Schluß des 5. Buches (Kap. 24) stellte er eine Übersicht über die ihm voraus- und wohl auch vorliegende Geschichtsschreibung. Er teilte dabei in zwei Felder ein: Mythos, griechische und sonstige Geschichte, sowie römische Geschichte. Das erste Feld, so seine Position, sei behandelt durch Claudius Charax, Ephoros, Theopomp und zahllose andere. Die historiographische Auseinandersetzung mit Rom dagegen beschreibt er detaillierter: Es sei behandelt worden die Urgeschichte bis auf Pyrrhos von Dionys v. Halikarnass, die Folgezeit bis zum Fall Karthagos durch Polybios. Das habe auch Appian in anderer Disposition eukrinos dargestellt. Die Folgezeit bis Julius Cäsar finde sich bei Diodor, die Zeit bis Alexander Severus (222-235) bei Dio Cassius. Herodians Werk reiche bis Maximinus (238), das des Nikostratos von Trapezunt von Philippus Arabs (244) bis Valerian (260). Dexippos überschneide sich damit und reiche bis Claudius (270). Eusebius (übrigens nicht der bekannte Kirchenvater) verfaßte ein Werk von Octavian bis Carus (283); Ergänzungen böten Arrian und Asinius Quadratus. Für die Folgezeit bis Honorius (423) und Arcadius (408) sei Zosimus relevant, für das danach Kommende Priscus. All das biete auch das zweiteilige Geschichtswerk des Eustathios, das bis Anastasios (518) reiche, an das Prokop bis Justinian (565) anschließe. Hierauf wieder folge das Werk des Agathias und des Johannes von Epiphaneia, das bis zur Flucht des Chosrau (590) und dessen Rückführung (591) reiche.

Für Euagrios ergibt sich also eine relativ lückenlose Behandlung der römischen Geschichte von der Urzeit bis in die eigene Gegenwart durch folgende Autoren: Dionys v. Halikarnass, Polybios (ergänzt durch Appian), Diodor, Cassius Dio, Herodian, Nikostratos von Trapezunt, Dexippos und Eusebios (ergänzt durch Arrian und Asinius Quadratus), Zosimus, Priscus, Eusthatios, Prokop, Agathias und Johannes v. Epiphaneia. 17 Historiker für etwa 1000 Jahre also, und es scheint, daß für Euagrios ein gattungsgeschichtliches Kontinuum vorliegt, das von Polybios, dem frühesten, bis zu Agathias und Johannes, den eigenen Zeitgenossen, reicht. Ein solcher Befund ist durchaus wichtig, da er für das Epochenbewußtsein des Euagrios aussagekräftig ist. Wir sehen daran etwa, daß auch nach Justinian, der traditionellen Zäsur zwischen antiker und byzantinischer Literatur, griechische Literaten sich in einem Kontinuum mit dem, was wir als Antike betrachten, sahen. Ferner scheint ein solches Kontinuitätsbewußtsein speziell für die spätere antike Historiographie typisch. Bekanntlich bemüht sich im 4. Jhdt. der lateinisch schreibende Ammian um einen Anschluß an Tacitus, und Zosimos knüpft in seiner Historia nova an keinen Geringeren als Polybios an. Es fehlt damit in dieser Gattung das für ein eigenes Epochenbewußtsein zentrale Element des Negierens von Traditionen, ein Historiker des 5. Jhdts. dürfte also kaum der Meinung gewesen sein, er lebe in einer anderen Epoche als seine ‚klassischen' Vorbilder.

Freilich kann man sich nicht mit diesem Befund zufrieden geben. Wenn also die Historiker selbst keine Hinweise zur Periodisierung der kaiserzeitlichen Historiographie geben wollen -oder können, muß das Material gesichtet werden. Zunächst eine Vorbemerkung zum Umfang dieses Materials. Im Gegensatz zur Historiographie der klassischen und hellenistischen Zeit ist für die folgende Ära recht viel erhalten. Bereits der Umstand, daß von den 17 Historikern, die Euagrios nennt, 10 in z. T. erheblichen Teilen erhalten sind, spricht für sich. Hermann Strasburger(2) hat einmal den Umfang des Erhaltenen aus der vorkaiserzeitlichen Periode auf ca. 3500 Seiten geschätzt; hinzu kämen etwa 6500 Seiten Fragmente. Aus der Kaiserzeit seien dagegen ca. 13000 erhalten, dazu noch etwa 5000 Seiten an Fragmenten. Mein folgender Versuch einer Übersicht soll also dienen, einige Schneisen in diese 18000 Seiten zu schlagen und den großen Wald durch Parzellierung etwas übersichtlicher zu machen. Vorab noch zwei Einschränkungen: Gänzlich übergehen werde ich biographische Literatur, da sie zwar vom Gegenstandsbereich her historiographisch konstituiert ist, indes auch in der Antike als eigene Gattung erfaßt wurde. Nicht berücksichtigen werde ich außerdem auch Chroniken, da diese teilweise erheblich andere Überlieferungswege gegangen sind, als Inschrift etwa anderen Kommunikationssituationen entsprechen und andere Funktionen als historiographische Volltexte erfüllten(3).

Ich möchte im folgenden zunächst eine Zweiteilung des Materials vornehmen, die bereits in ähnlicher Form bei Jacoby vorliegt, eine Teilung der Historiographie in 'Lokalgeschichte' und in 'Nichtlokalgeschichte'. Für beide Bereiche läßt sich zunächst eine Zäsur feststellen, die den Abschnitt 'Kaiserzeit' in der Gattungsgeschichte zum 'Hellenismus' hin abgrenzt. Diese Zäsur liegt etwa in augusteischer Zeit.
 

A

Beginnen wir mit der Nichtlokalgeschichte. Hier lassen sich folgende Beobachtungen machen:
 

a) Nur bis in Cäsarische Zeit sind griechische historische Monographien nachweisbar, die ein bestimmtes zeitgeschichtliches Thema zum Inhalt haben, und zwar sind dies im einzelnen: Caecilius v. Kaleakte (FGrHist183), Über die Sklavenkriege, Archias (186), Kimbernkriege, Mithridateskriege des Lucullus, Theophanes v. Mytilene (188), Kriege des Pompeius, Hypsikrates v. Amisos (190), Geschichte Cäsars, Sokrates v. Rhodos (192), Über den Bürgerkrieg.

Derartige Schriften sind in der Folgezeit verschwunden. Die Erklärung scheint einfach: Galten sie doch römischen Granden (so bei Theophanes und Archias), deren politische Ziele sie unterstützen sollten. Mit dem Prinzipat ist hierfür kein Raum mehr.
 

b) Es tritt ein Bruch ein bei der Beschäftigung mit der römischen Geschichte insgesamt. Das Geschichtswerk des Polybios hatte kanonischen Rang erhalten. Es begann mit dem 1. Punischen Krieg (damit hatte Polybios ja selbst den Anschluß an Timaios von Tauromenion gesucht) und endete im Kern mit dem Fall Karthagos. Poseidonios (87) schloß mit seinen Historien hier an und kam in seiner Darstellung etwa bis 86 v. Chr. Strabon versuchte am Ende des 1.v. Jhdts. Poseidonios zu ersetzen. Seine Hypomnemata historika, 47 Bücher, setzten nach einer Art von Vorspann von 4 Büchern (dort wurde die Zeit wohl von 336 bis 146 zusammengefaßt) mit Buch 5 im Jahr 145 ein und führten die Geschichte bis 27 v. Chr. (Ende der Bürgerkriege) weiter. Die Römische Archäologie des Dionys v. Halikarnass in 20 Büchern, erschienen 7. v. Chr., überlagerte Timaios und stellte die römische Geschichte von den Anfängen bis zum 1. Punischen Krieg dar. Nach diesen drei Werken aber folgt keine Historiographie im Anschluß an Polybios mehr.
 

c) Das 1. Jhdt. v. Chr. ist die Zeit großer Synthesen, auch in der lateinischen Historiographie übrigens, für die ich Livius und Pompeius Trogus nennen will. Livius faßt die römische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zusammen, Pompeius Trogus bietet einen universalhistorischen Entwurf, der getragen ist vom Konzept der Abfolge von Weltreichen. Dieses Konzept liegt auch bei einigen griechischen Synthesen zugrunde: Nikolaos von Damaskus (90) schrieb eine Universalgeschichte (historia katholiké) in 144 Büchern, die sich inhaltlich vom assyrischen Reich bis zur Geschichte um die Zeitenwende erstreckten; hierbei scheint die Abfolge der Hegemonien: Assur, Medien, Persien bis Rom strukturierend fungiert zu haben. Nach den Überresten vergleichbar war das Werk des Bion (89), 9 Bücher Musen (das Vorbild Herodot ist evident), ähnlich wohl auch die Basilei'" des Timagenes (88), die mit der mythischen Urzeit begannen und mit Cäsar endeten.

Modifiziert erscheint der Translationsgedanke auch bei Diodor in seiner 40 Bücher umfassenden Historischen Bibliothek. Allerdings ist es bei ihm nicht die Weitergabe der Hegemonie, sondern die der menschlichen Zivilisation, die den leitenden Gedanken im Referat der Geschichte vom Anfang der Menschheit bis zum gallischen Feldzug Cäsars ausmacht und unter Cäsar einen Höhepunkt der Kultur erreicht sieht.

Im 1. Jhdt. n. Chr. werden keine neuen Universalgeschichten mehr vorgelegt. Der Bedarf nach derartigen weltdeutenden Synthesen war gedeckt.
 

d) Eine griechische Historiographie, die griechische Geschichte zum Gegenstand hat, erlischt im 1. Jhdt. v. Chr. Seleukiden- und Ptolemäergeschichte erledigen sich als aktuelles Thema mit der römischen Eroberung, weiter zurückliegende Bereiche wie Alexander- und Diadochengeschichte verebben mit dem Späthellenismus.
 

B
 

Die Lokalgeschichte ist ein komplizierteres Feld. Jacoby nahm für seine Sammlung eine Dreiteilung der Fragmentmasse vor: 1. Ethnographie allgemein; 2. Historiker zu einzelnen griechischen Städten und Landschaften; 3. Geschichtsschreiber der Barbarenländer(4). Diese Einteilung ist aus Jacobys Konzept von der Entwicklung der griechischen Historiographie erwachsen(5). Sie ist buchstäblich sinnvoll für die ältere, d. h. klassische und hellenistische Zeit. Denn natürlich ist die Kategorie 'Barbarenländer' für die Kaiserzeit ganz unpassend. Dennoch ist Jacobys Zusammenstellung auch für die hier verfolgte Fragestellung brauchbar. Sie zeigt etwa folgendes: In hellenistischer Zeit blüht die Historiographie zu einzelnen griechischen Städten (erinnert sei an Athen) sowie die Ethnographie, die im Gefolge des Alexanderzuges zahlreiche Schriften zu den neu erschlossenen Regionen hervorbrachte: Babyloniaka, Phoinikika, Aithiopika (wir erinnern uns hier natürlich an Romantitel, doch die Fragmente weisen in der Tat nichtfiktionale Literatur aus), Arabika, Indika, Judaika. Im 1. Jhdt. v. Chr. ist dieses zuvor umfängliche Schrifttum weitgehend erloschen.

Betrachtet man die Verteilung der behandelten Bereiche bzw. die Titel der Werke, die noch im 1. Jhdt. v. und im 1. Jhdt. n. Chr. entstehen, läßt sich ein gewisser Zusammenhang mit historischen Faktoren nicht übersehen: Einerseits Amphion von Thespiai (387), Über das Musenheiligtum auf dem Helikon, Lysimachides (366), Über die attischen Monate, ferner einige Quellen des Pausanias(6); andererseits Domitios Kallistratos (433) und Memnon von Herakleia (434), Geschichte Herakleias. Zwei Tendenzen also: Im griechischen Kernraum wird die Lokalhistorie zunehmend antiquarisch (was übrigens gut zu den musealen Gefühlen paßt, die die Römer in der gleichen Zeit dem klassischen Griechenland entgegenbrachten); an der Peripherie, also dem Raum, der durchaus bisweilen noch in Auseinandersetzungen verwickelt werden konnte, setzt sich eine lokale 'Ereignishistorie' fort.

Auch in der Lokalgeschichte stehen am Ende des 1. Jhdts. v. Chr. Synthesen, freilich weniger derart, daß in einem Werk verschiedene Bereiche zusammengebracht werden, sondern derart, daß ein Autor über verschiedene Bereiche schreibt. Bezeugt sind: Teukros v. Kyzikos (274), wohl 100-50, mit Schriften über Byzanz, Mithridates (5 B.), Tyros (5 B.), Arabika (5 B.), Jüdische Geschichte; ferner Juba v. Mauretanien (275), 50 v. Chr. - 23 n. Chr., Schriften über Arabien, Assyrien, Libyen. Die wichtigste Erscheinung ist Alexander Polyhistor aus Milet (278), 80-35, ein Schüler des Krates mit römischem Bürgerrecht. Sein umfangreiches Werk enthielt Schriften über Ägypten, Bithynien, das Schwarze Meer, Illyrien, Indien, die Juden, Italien, Karien, Zypern, Libyen, Lykien, einen Periplus Lykiens, Paphlagonien, Rom (5 B.), Phrygien, Chaldaika u.v.m. Es gibt kaum einen Bereich griechischer Lokalgeschichte, den er nicht behandelt hat. Durch ihn wurde die große hellenistische Lokalgeschichtsschreibung noch einmal zusammengefaßt.

Auch in der Lokalgeschichte setzt mit der augusteischen Zeit eine Unterbrechung ein. Allerdings gibt es einige Ausnahmen, die z. T. höchst individuell sind wie etwa die griechischen Geschichtswerke des späteren Kaisers Claudius (276) über Etrusker und Karthager. Die weiteren Ausnahmen betreffen drei Bereiche: Ägypten, die Juden und die Parther.

Im Falle Ägyptens setzt sich die Textsorte Aigyptiaka vom Hellenismus in die Kaiserzeit äußerlich bruchlos fort: So sind bezeugt Aigyptiaka aus der Feder des Apion von Oasis (616), 1. Jhdt. n. Chr., 5 B.; von Asklepiades von Mardes (617), augusteische Zeit; Chairemon v. Ale-

xandria (618), 30/60 n. Chr. im 1. Jhdt. n. Chr., verfaßte Aigyptiake historia und Hieroglyphika, Hermaios (620) und Lysimachos (621), beide wohl im 1. Jhdt. n. Chor., Werke über Ägypten. Hinzu treten kulturhistorische Schriften über ägyptische Bauwerke(7), über das Museion (Aristonikos, 633, julisch/claudische Zeit) oder sogar alexandrinische Sprichwörter (Seleukos v. Alexandria, 341, ein Zeitgenosse des Tiberius).

Die Andauer der historiographischen Auseinandersetzung mit Ägypten läßt sich natürlich mit dem relativ langen Bestand des ptolemäischen Reiches verbinden. Indes zeigt sich in den Fragmenten eine andere, nicht auf die Ptolemäer weisende Tendenz, die eigentlich ägyptischen, prägriechischen Aspekte zu betonen. Dies korrespondiert mit dem starken Interesse für Ägypten am Beginn der Kaiserzeit. Germanicus besuchte - befehlswidrig - aber neugierig das Land, Caligula und Nero ließen sich von ägyptischen theologisch-monarchischen Konzepten inspirieren. Auch außerhalb des Kaiserhauses war das Land interessant, der Posten des Stadthalters gar seit Gallus nicht nur wichtig, sondern auch hochbegehrt. Plinius d. Ä. berichtet etwa in der Naturalis historia 19,3 von gleichsam Rekordversuchen der neuen Präfekten bei der Überfahrt von Italien nach Alexandria (Rekordhalter war übrigens ein gewisser Balbillus mit 6 Tagen).

Angesichts der politischen Großwetterlage ist das fortwährende Interesse an Parthika nicht verwunderlich (bezeugt sind: Apollodoros v. Artemita, 779, 1. Jhdt. v. Chr., mindestens 4 B., Isidor v. Charax, 781, augusteische Zeit, Beschreibung Parthiens).

Auch die im 1. und Beginn des 2. Jhdts. n. Chr. gut vertretene Beschäftigung mit jüdischer Geschichte (Damokritos, 730; Nikolaos, 731; Justus v. Tiberias, 734; besonders natürlich Josephus, Bellum Judaicum, Antiquitates, Antonius Julianus, 735) ist gewiß eng verbunden mit den jüdischen Aufständen. Ebenso wenig verwunderlich ist, daß diese Textsorte in der 2. Hälfte des 2. Jhdts. ganz ausstirbt.
 

C
 

Im 1. Jhdt. n. Chr. zeigt sich sodann eine große Lücke in der Historiographie - in beiden Bereichen. Mit Beginn des 2. Jhdts. treten sie wieder auf. Die Gründe für diese 'Lücke' lassen sich, wie mir scheint, wiederum in den historischen Konstellationen finden. Wilamowitz führte das Fehlen von neuer Historiographie auf den Klassizismus zurück, der sich für uns etwa mit Dionys v. Halikarnass verbindet: ....man las die historischen Klassiker und schwor auf ihre Worte(8). Diese Erklärung ist zunächst überraschend, aber nicht falsch. Natürlich spielte die Historie in verschiedenen Bereichen des Bildungswesens eine Rolle, aber nicht als "Schulfach" im heutigen Sinn, sondern als Bereich des rhetorischen Unterrichts, aus dem die Kenntnisse für Deklamationen und stilistische Anregungen geschöpft wurden. Da die Deklamationsthemen nicht über die Alexanderzeit hinausreichten, bestand in dieser Hinsicht von der Schule aus gesehen kein Bedarf nach "neuer"Historiographie. Hinzu kommt freilich etwas weiteres; der allgemeine kulturelle Niedergang des griechischen Volkes in den Jahrhunderten 1 a. Chr. und I p. Chr., gern apostrophiert zu Beginn unseres Jhdts.(9), ist kein zwangsläufiger Prozeß der Kulturgeschichte gewesen, sondern Ausdruck der höchst wechselvollen Geschicke der griechischen Welt im 1. Jhdt. v. Chr., in dem Mithridates- und Bürgerkriege (zu erinnern ist nur an die Lage der Schlachtfelder: Pharsalos, Philippi, Actium), zudem die römische republikanische Provinzverwaltung, in der bekanntlich zur Entlastung der staatlichen Institutionen die Steuereintreibung privatisiert worden war, für eine erhebliche materielle Schwächung des Ostens gesorgt hatten. Die entsprechenden, auf Abhilfe zielenden Maßnahmen der Kaiser seit Augustus wurden erst im Laufe des 1. Jhdts. n. Chr. wirksam, gezielte Förderung zunächst Griechenlands (Nero), etwa durch von Rom aus finanzierte Lehrstühle, sowie die zunehmende Einbeziehung griechischer Eliten in die Reichsverwaltung markierten eine längere Entwicklung bis zur Mitte des 2. Jhdts. In den Kontext dieser Erholung oder Konsolidierung des Griechentums seit der 2. Hälfte des 1. Jhdts. gehört auch die Wiederbelebung der Historiographie im 2. Jhdt. Betrachten wir auch hier wiederum die beiden großen Bereiche getrennt:

Formal betrachtet profiliert sich vom 2. Jhdt. an wiederum die Gesamtdarstellung(10). Im lateinischen Bereich sei an Florus oder Granius Licinianus erinnert, die einen zwar verkürzten, aber auch konzeptionell modifizierten Livius boten. In griechischer Sprache ragen heraus die in großen Teilen erhaltenen Werke des Appian (entstanden um die Mitte des 2. Jhdts.) und des Cassius Dio (entstanden im frühen 3. Jhdt.). Fragmentarisch kenntlich sind daneben noch einige weitere Werke: Kephalion (93) aus Hadrianischer Zeit, der Freigelassene Hadrians Phlegon von Tralles (257), Chryseros (96), der Nomenclator Marc Aurels, Claudius Charax (103) um die Mitte des 2. Jhdts. und Asinius Quadratus (Mitte des 3. Jhdts). Aus meiner Sicht wird mit diesen Werken eine Neubestimmung der Geschichte aus der Perspektive einer Gegenwart heraus vollzogen, die sich durch die zweisprachige Reichskultur auszeichnet und in der die provinzialen Eliten gleichberechtigt neben der römisch-italischen Aristokratie stehen und in der ein Ausgleich zwischen dem einst eroberten Staat und Rom erreicht ist. Den gerade genannten Autoren ist gemeinsam, daß sich in ihnen Rom und die griechische Welt verbinden, auch in Gestalt von Verbindungen zwischen griechischer Herkunft und Karriere im Imperium.

Formal gesehen bricht die Linie der Gesamtdarstellungen um die Mitte des 3. Jhdts. keineswegs ab. Zwei größere Werke sind noch kenntlich: Eusebios (nicht der bekannte!, Nr. 101) verfaßte ein Werk von Augustus bis zum Tode des Carus (273), über das wir durch Euagrios wissen, und Dexippos (100), der etwa zwischen 210 und 270 lebte, eine Chronike historia in 12 Büchern, die - unter Benutzung verschiedener Datierungssysteme - von der Urgeschichte bis ca. 270 reichte. Beide scheinen im Zuschnitt den vorausgehenden Gesamtdarstellungen des 2. Jhdts. zu entsprechen. Doch liegt m. E. ein Unterschied in der Stellung der Verfasser: Dexippos (über Eusebios wissen wir nichts) ist fest mit Athen verbunden, er war hier Archon basileus, Archon eponymos, Priester, und unter seiner Führung wehrten attische Einheiten 267 die Heruler von Athen ab. Eine deutliche Verbindung mit Rom läßt sich hingegen nicht mehr herstellen. Karriere im Imperium scheint Dexippos nicht angestrebt zu haben.

Im 4. und frühen 5. Jhdt. kann ich keine Gesamtdarstellungen mehr erkennen. Aufgenommen wird diese Form erst wieder durch Zosimos (425-518), dessen Historia nea in 6 Büchern von Augustus bis 410 reicht, bei freilich sehr summarischer Darstellung der hohen Kaiserzeit in Buch 1 (hier würde ich übrigens gern eine Parallele zu Ammian sehen) und einem deutlichen Schwerpunkt in den Jhdt. 3-5. Ferner gehört hierher der in Fragmenten nur undeutlich erkennbare Petros Patrikios (geb. um 500 in Thessalonike), der vielleicht mit dem 2. Triumvirat begann. Beide Historiker gehören an den Hof von Konstantinopel. Eine Art Schlußpunkt bildet die Chronographia des Johannes Malalas am Ende des 6. Jhdts. Ihr Gegenstand ist die Zeit von den Ägyptern bis etwa 570, eine Darstellung, die deutlich von der Absicht getragen ist, die heilsgeschichtlichen Dimensionen des Christentums in der Geschichte zu demonstrieren. Hier wird eine Möglichkeit der Historiographie eröffnet, die später byzantinische sog. Mönchschroniken (die freilich, wie Hans Georg Beck gezeigt hat(11), keine sind) aufgreifen.

Auch für die anderen Formen der Geschichtsschreibung beginnt mit dem 2. Jhdt. ein Neuansatz. Da ist zunächst die zeitgeschichtliche Monographie, die sich im 2. Jhdt. an jeweils regierenden Kaisern orientiert und ihre Kriege darstellt. Man kann den Beginn hier etwa in den verschiedenen Autoren über den Partherkrieg des Verus (Nr. 203-210) sehen. Es schließen sich an Werke über Septimius Severus von Antipater von Hierapolis (211), über Galen von Ephoros d. J. (212), über Konstantin von Praxagoras v. Athen (219), Bemarchios v. Kaisarea (220), Eustochios v. Kappadokien, oder über Julian Apostata von Oreibasios (221), Kyllenios (222), Chorobutus (224), Magnus v. Karrhai (225) und Eutychianus v. Kappadokien (226). Derartige Monographien scheinen einen apologetisch-panegyrischen Zug als Gemeinsamkeit aufgewiesen zu haben, sie scheinen ferner stets von Personen am Hof des jeweiligen Kaisers zu stammen. Das Amt Ab epistulis war hierfür prädestiniert (man vergleiche bereits Sueton). Dies jedenfalls legt die Parodie auf Existenzen wie Antipatros (211 T 3) in der Historia Augusta 30, 18, 3 nahe. Der Gebrauchswert dieser Schriften zu Propagandazwecken war gewiß hoch, ihre Haltbarkeit entsprechend gering. Kaum zufällig ist keine dieser Schriften über den Rang einer Quelle für zusammenfassende Werke hinausgelangt, kaum zufällig gelangte keine in den Rang einer 'klassischen Schrift' in einen Kanon, wie ihn etwa Euagrios präsentiert. Diesen Schritt vollzog die Kaisergeschichte Herodians, die die Zeit von 180 bis 238 in 6 Büchern beschreibt, wobei ein Verfallsmodell zugrunde liegt, nach dem der letzte dargestellt Kaiser nicht einen historischen Kulminationspunkt verkörpert, sondern vor der in Buch 1 exponierten Modellgestalt Marc Aurel höchst negativ wirkt.

Zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt bildet sich in der Zeitgeschichtsschreibung die Gewohnheit aus, vor der Regierungszeit des aktuellen Kaisers abzubrechen(12). Dieses Prinzip konkretisiert sich in einer Reihe von Geschichtswerken, die insgesamt so etwas wie eine historia perpetua ausbilden. Da ist zunächst Eunapios von Sardes (349 bis nach 404), dessen Katholika syggrammata sich bewußt als Historia meta Dexippon geben. In 14 Büchern wurde hier (vielleicht in zwei Ausgaben) die Zeit von 270 bis 404 behandelt. Wie auch in den Sophistenviten ist eine christenfeindliche Tendenz erkennbar. Auf Eunapios folgen der Dichter und Diplomat Olympiodor v. Theben (Ägypten), der in 22 Büchern die Zeit von 407- 425 behandelte, dann der Diplomat Priskos v. Pannium (Thrakien), 8 Bücher, Zeit 411-474 (Tod Leons), dann Malchos v. Philadelphia (Syrien), der Byzantiaka in mindestens 7 Büchern verfaßte, die der Zeit von Konstantin bis Zenon (d. h. bis 491) galten, wobei im Zentrum der Bereich 473-491 stand(13), dann Candidus der Isaurier, der in 3 Büchern die Geschichte der Kaiser Leon und Zenon des Isauriers beschrieb, dann Petros Patrikios, der wohl unter Justinus I, d. h. 518-527, ein Werk bis zum 12. Regierungsjahr des Kaisers Anastasios, d. h. 491-503, schrieb. Hierauf folgt der wohl am Ende des 5. Jhdts. geborene und nach 562 gestorbene Prokop von Kaisareia, der ein Geschichtswerk in 8 Büchern verfaßte, Bella genannt: und zwar über die Perserkriege (2 B.), die Vandalenkriege (2 B.) und die Gotenkriege (3 B.) sowie ein Buch über die Ereignisse bis 554. An ihn schließt der vielseitige Literat Agathias an (ca. 536-582). In 5 Büchern beschrieb er die Herrschaft Justinians 552-558. Diesen wiederum setzt fort Menander Protektor, geboren um die Mitte des 6. Jhdts. in Byzanz. Sein Werk galt dem Zeitraum 558-582. An Menander schließt an Theophanes v. Byzanz mit 10 B. über die Ereignisse 566-581, an diesen Johannes v. Epiphaneia in Syrien mit einem Werk zu den Jahren 572-592/3. Der letzte in der Reihe ist Theophylaktos Simokattes aus Ägypten, kaiserlicher Sekretär und Präfekt unter Heraklios (610-640). In 8 Büchern stellt er die Geschichte des Kaisers Maurikios (582-602) dar. Nach Theophylaktos folgt bis zum 9. Jhdt. keine zeitgeschichtliche Historiographie mehr(14).

Die hier genannten Historiker von Eunapios bis Theophylaktos weisen - mit einer Ausnahme - eine Gemeinsamkeit auf: Sie sind dem klassischen Stil verpflichtet, sie meiden deshalb Termini, die nicht bei klassischen Autoren belegt sind. Das ist recht hinderlich für die Schilderung fremder Völker (etwa der Hunnen) oder des Christentums. Als Beispiel sei die Schwierigkeit vorgeführt, die Theophylaktos (3, 1, 4) mit dem Begriff Ostern hat. Die Ausnahme von diesem Klassizismus bildet der Isaurier Candidus, der auch Neologismen und poetische Ausdrücke verwendet. Bezeichnenderweise nimmt er auch häufig auf das Christentum Bezug.
 

Im 4. Jhdt. haben die historiographischen Formen einen Zuwachs zu verzeichnen. Eusebios v. Kaisareia (~ 263-339) verfaßte zu Beginn des 4. Jhdts. eine ekklèsiastikè historía, die in der letzten Fassung aus 10 Büchern bestand und eine Geschichte des Christentums von Jesus bis zu Konstantins Sieg über Licinius (324) darstellte; die Zielsetzung ist zunächst apologetisch, das Christentum soll verteidigt und seine göttliche Stiftung in der Geschichte sichtbar gemacht werden. Stilistisch liegt ein Bruch vor gegenüber der traditionellen Historiographie: Eusebios sammelt Material: Akten und Literatur werden zitiert, weil das Beweisziel erreicht werden soll.

Durch Aufgreifen dieser Form entstand die Gattung 'Kirchengeschichte', wobei sich die Zielsetzung zunehmend verschob: spätestens mit dem 5. Jhdt. geht es um die Verteidigung bestimmter christlicher Glaubensansichten (Athanasianer, Arianer).

Folgende Werke sind erhalten oder über Fragmente in Umrissen erkennbar:

- Gelasius (395): Fortsetzung des Eusebius (verloren)

- Philippos v. Side: (publiziert bis 439) 36 Bücher (verloren)

- Philostorgios (425- ca. 433): 12 Bücher, die sich bis 425 erstrecken;

arianischer Standpunkt. (verloren)

- Sokrates (ca. 380-439): 7 Bücher, 305-439

- Sozomenos (439 u. 450): 9 Bücher 324-425

- Theodoret (449/50): 5 Bücher 325-428

Um 530 verfaßte Theodoros Anagnostes zu Sokrates, Sozomenos und Theodoret eine 4-Bücher-Zusammenschau, Historia Tripartita, die er um zwei eigene Bücher fortsetzte und so die Darstellung bis 527 führte. Dieses Werk wurde im 7. oder 8. Jhdt. epitomiert, woraus Auszüge bei griechischen Chronographen erhalten sind.

- Gelasius von Kyzikos: 3 Bücher, Geschichte der Ostkirche seit Konstantin (verloren)

- Johannes Diakrinomenos (512/518): 10 Bücher Kirchengeschichte 429-518 (verloren)

- Basilius d. Kilikier: 3 Bücher, 450-540 (verloren)

- Zacharias Rhetor (ca. 553 als Bischof von Mytilene): Auszüge einer vielleicht als Kirchengeschichte einzustufenden Schrift über die Zeit von 450 bis 491 sind erhalten in einer anonymer syrischer Weltchronik

- Johannes v. Ephesos: Kirchengeschichte in 3 Teilen à 6 Büchern, von Julius Cäsar bis 585, der 3. Teil (571-585) ist in einer syrischen Version erhalten

- Euagrios Scholastikos ( 600): 6 Bücher, 431-594.

Nach Euagrios findet sich keine griechische Kirchengeschichte mehr bis zum 14. Jhdt.
 

D
 

Weitere Formen der Historiographie finden ebenfalls im 2. Jhdt. eine Aufnahme. Dies sind zunächst Darstellungen zur klassischen griechischen Geschichte: Kephalion [93] schreibt unter Hadrian ein - formal an Herodot angelehntes Werk (d. h. in ionischem Dialekt, in 9 Büchern mit dem Titel Mousai), das den Zeitraum von Ninos bis Alexander behandelt, Jason v. Argos [94], ein nach Plutarch lebender grammatikós, eine griechische Archäologie in 4 Büchern, die bis zur Einnahme Athens durch Antipater 322 v. Chr. reichen. Von einem ansonsten unbekannten Aristodemos [104] besitzen wir ein Fragment aus einem Werk, das mindestens die Zeit zwischen den Perserkriegen u. dem Peloponnesischen Krieg behandelte und auf Herodot und Thukydides basierte.

Derartige Historiographie könnte nun zunächst vor dem Hintergrund der Schule und ihrer Erfordernisse gesehen und als durch diese ausgelöst betrachtet werden. Es wäre jedoch ein Fehlschluß, die Bedürfnisse der Schule als wichtigesten Faktor für die Entstehung derart konzipierter Geschichtswerke zu sehen, da im 2. Jhdt. ebenfalls Werke erhalten sind, die den Rahmen der Schule überschreiten. Dabei handelt es sich nicht allein um die Wiederaufnahme der Alexandergeschichte, für die Arrian (nach Dion v. Prusa und seinen Reden [151]) steht, sondern auch um die Diadochengeschichte (ebenfalls Arrian [156](15) und Athenaios [166]). Mindestens bis um die 2. Hälfte des 3. Jhdts. läßt sich ein Interesse an diesen Stoffen erkennen, denn hierher gehören Athenaios wie auch Dexippos [100], der Arrians Diadochengeschichte bearbeitete. Mit dieser auf die rein griechische Tradition konzentrierten Historiographie ist die im 2. Jhdt. wieder aufblühende Lokalgeschichte verzahnt, und hier zeigt sich auch, wie problematisch Jacobys Kategorien sein können: Im 2. Jhdt. verfaßte etwa Kriton der Pierote [277] eine Schrift Über das Reich der Makedonen, der Sophist Poseidonios v. Olbia [279] eine Geschichte Attikas in 4 Büchern, Arrian eine Bithynische Geschichte in 8 Büchern, Demosthenes der Bithynier eine ähnliche Schrift in 10 Büchern [699], Telephos v. Pergamon [505] ein Werk über die pergamenischen Könige in 5 Büchern.

Doch geht die Produktion über Bücher zu den alten politischen Einheiten der Diadochenstaaten bzw. der griechischen Polis hinaus: Karika (auch Apollonios v. Aphrodisias, 740), Lydiaka (Leon v. Alabanda, 278), Aithiopika (Markellos 671), Galatika (Eratosthenes v. Kyrene, 745) sind bezeugt - diese Schriften weisen darauf, wie sich seit den Adoptivkaisern die ursprünglich noch römische angelegten 'Verwaltungseinheiten' als kulturelle Zusammenhänge zu verstehen beginnen. Es liegt nahe, bei diesen wie auch bei den zahlreichen anderen 'Regionalgeschichten' oder Stadtgeschichten, etwa über Kreta (Antenor [463], Kilikien (Xenophon v. Samos [540a]), Lakonien/Sparta (Aristokrates [551], Pausanias [592]), in den zahlreichen kulturhistorischen Schriften, etwa über spartanische Feste [592], das koinovn der Makedonen [639], athenische Adelsfamilien [345], das Musenheiligtum auf dem Helikon [387] die Tendenz zu erkennen, daß hiermit - unter den gewandelten politischen Bedingungen der hohen Kaiserzeit - eine kulturelle Identität stabilisiert werden sollte, eine Identität, die z. B. durch die politische Sogkraft der 'Romanisierung' gefährdet scheinen mochte. Doch das ist sicherlich nur ein Aspekt für diese Produktion. Der Befund ist vielschichtiger. Mir scheint folgendes wichtig: Mit dem 2. Jhdt. setzt sich die griechische Literatur fort, die sich mit Rom und Italien befaßt, Land, Geschichte und Bücher einem griechischen Publikum schildert, wie es auch für den Hellenismus charakteristisch ist. [FGrHist 825, 826, 857, 635, 837, 832]. Bis ins 4. Jhdt. finden sich derartige Schriften.

Ferner wird in der Kaiserzeit eine hellenistische Tendenz fortgesetzt: Städte und Regionen des Orients streben danach, ihre Verbindung mit der griechischen Kultur zu konstituieren teils, indem sie qua interpretatio Graeca ihre Geschichte in den Rahmen der griechischen Geschichte - die den Mythos einschließt - stellen, so etwa die Literatur über Phönizien, in der es keinen Bruch im 1. Jhdt. gibt (Philon v. Byblos, 54-142, Phönizische Geschichte)(16), teils, indem Anschluß an den Mythos gesucht wird, über Herakles, Perseus u.a.m. als Stadtgründer über aitiologisch-etymologische Spekulationen erscheinen(17).

Im 4. Jhdt. gibt es eine literarisch neue Form der Lokalgeschichte. Bezeugt sind zahlreiche Werke mit dem Titel Patriá ('Herkunft') von Städten: zu Kyzikos [474], Thasos, Berytos, Nikaia [282], Oasis [641] - ob hier lediglich ein neuer Terminus für ktisis - Literatur geprägt wurde, weiß ich nicht.

Ferner erscheinen im 4. Jhdt. auch die Bereiche des Ostens in der Lokalgeschichtsschreibung, die eine Art 'Entwicklungsrückstand' auf anderen Gebieten hatten, weil sie schwerer erreichbar waren: Kappadokien und Isaurien: um 350 schreibt etwa Eustochios eine Archäologie Kappadokiens, am Ende des 5. Jhdts. figurieren gleich drei Verfasser von Isaurika [283, 748, 749] - hier ist daran zu erinnern, daß etwa gleichzeitig mit Zenon ein Isaurier Kaiser ist. Im 6. Jhdt. bricht nach meinem Wissensstand die Lokalgeschichte ab.
 
 
 
 

Soweit diese Übersicht zur Historiographie zwischen Hellenismus und Byzanz. Bündelt man nun die Daten, die ich skizziert haben, läßt sich folgendes festhalten:

Zwei große Zäsuren grenzen die Historiographie der Kaiserzeit ab:

- eine Zäsur im 1. Jhdt. n. Chr. trennt die späthellenistische Historiographie von der Kaiserzeit,

- eine weitere Zäsur im 6./7. Jhdt. trennt sie von der klassischen Byzantinischen Historiographie.

Dies gilt für die gesamte historiographische Produktion. Historiographie der Kaiserzeit bedeutet also Literatur vom 2. bis zum 6. Jhdt. Innerhalb dieses Zeitraums lassen sich gewisse Schwerpunkte erkennen:

a) eine 'Neuorientierung' im 2. Jhdt.: Gesamtdarstellung und Wiederaufleben der Lokal- geschichte

b) eine Phase der aktuellen 'Ereignisgeschichte' im 3. Jhdt., aus der eine Traditionskette der Zeitgeschichte entsteht., die bis ins 7. Jhdt. weitergeführt wird und den Schwerpunkt allmählich von Rom nach Byzanz verlagert.

c) Neuansätze im 4. Jhdt.: Kirchengeschichte
                                        Patriá - Literatur

Es scheint hierbei kein radikaler Traditionsbruch vorzuliegen, wie er die lateinische Spätantike auszeichnet. Es fehlen in der griechischen Literatur 'Kurzfassungen' wie Eutrop(18) Festus etc. Das griechische Bildungswesen blieb also im 3. Jhdt. im wesentlichen intakt - Kennzeichen hierfür ist der klassizistische Stil, der von Dio bis Theophylaktos durchgehalten wird.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

1. Neuere Gesamtdarstellungen zur Historiographie insbesondere der Kaiserzeit liegen vor von St. Rebenich, Historical Prose, in: St. E. Porter (Hrsg.), Handbook of Classical Rhetorik in the Hellenistic Period 330 B. C. - A. D. 400, Leiden 1997, 265 - 337; sowie von H. Hofmann (s. Anm. 3), deren Fragestellungen sich aber von der hier vorliegenden unterscheiden.

2. Umblick im Trümmerfeld der griechischen Geschichtsschreibung, in: Historiographia antiqua, Festschrift W. Peremans, Leuven 1977, 3-52.

3. Siehe zu Chronik und Biographie H. Hofmann, Die Geschichtsschreibung, in: L. J. Engels, H. Hofmann (Hrsgg.), Spätantike (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd.4), Wiesbaden 1997, 403-467, hier 418-428 bzw. 436-457.

4. Siehe Vorrede zu Dritter Teil A, S. 6.

5. Über die Entwicklung der griechischen Historiographie und den Plan einer neuen Sammlung der griechischen Historikerfragmente, in: F. J., Abhandlungen zur griechischen Geschichtschreibung, Leiden 1956, 16-64 (zuerst 1909), hier 26.

6. Vgl. FGrHist 347-351

7. Vgl. FGrHist 653-655.

8. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, in: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache (Die Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. VIII), Leipzig; Berlin, 3. Aufl. 1912, 229.

9. So Jacoby, Entwicklung 46 Anm. 85.

10. Siehe dazu Verf., Erneuerung der Vergangenheit, Stuttgart; Leipzig 1994.

11. H.-G. Beck, Zur byzantinischen "Mönchschronik", in C. Bauer, L. Boehm etc. (Hrsgg.), Speculum historiale, Freiburg; München 1965, 188-197.

12. Vgl. Fr. Rühl, Wann schrieb Zosimos?, RhM 46, 1891, 146/7.

13. Zu Eunap, Olympiodor, Priskos und Malchos siehe R. C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire, 2 Bde., Liverpool 1981/1983.

14. Siehe zu diesem Bereich insgesamt H. Hunger, Die hochsprachliche profane Literatur der Byzantiner, Bd. 1, München 1978, 279-330.

15. Vgl. auch den Anonymus FGrHist 533.2, der im ionischen Dialekt über die Belagerung durch Antigonos schreibt

16. Vgl. FGrHist 785-793, die eine Tradition bis 2. Jhdt. dokumentieren.

17. Siehe dazu T. Scheer, Mythische Vorväter, München 1993.

18. Dies gilt trotz der Übersetzung Eutrops ins Griechische, FGrHist 750.
 

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