Neuere Arbeiten zur Völkerwanderung
1. Klaus Rosen: Die Völkerwanderung. München: Beck 2002 (C. H. Beck Wissen 2180). 128 S., 2 Karten. Euro 7,90. ISBN 3-406-47980-4
2. Malcolm Todd: Die Zeit der Völkerwanderung. Aus
dem Englischen übersetzt von Tanja Ohlsen und Astrid Tillmann. Stuttgart: Theiss 2002.
154 S., Karten, Abb. Euro 26,--. ISBN 3-8062-1723-8
3. Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. Stuttgart Berlin Köln: Kohlhammer 2002. 266 S., 3 Karten. Euro 28,--. ISBN 3-17-015566-0
Die in den Fachwissenschaften seit den
1960er Jahren angestoßene Diskussion über zentrale Fragen der mit dem Begriff
Völkerwanderung bezeichneten Geschehnisse und ihrer Folgen, insbesondere der
Ethnogenese dieser Völker in Auseinandersetzung mit der römisch geprägten
Welt der Spätantike, hat mittlerweile auch das interessierte weitere Publikum erreicht,
das häufig noch unter dem Eindruck veralteter Positionen zur Völkerwanderung steht, die
auf die Zeit vor der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Entsprechend willkommen sind
Veröffentlichungen renommierter Fachleute, die das Thema auf der Grundlage des aktuellen
Forschungsstandes für einen breiteren Leserkreis (und für Studienzwecke) aufbereiten.
Drei derartige Publikationen unterschiedlicher Provenienz sind hier zur Besprechung
ausgewählt, alle im Jahre 2002 erschienen, als auch die Fernsehserie über die
Völkerwanderung (Arte, ZDF) die Nachfrage nach Veröffentlichungen zu diesem Themenkreis
ansteigen ließ.
1. Klaus Rosen, Die Völkerwanderung
Vor der Lektüre des in der
Wissen-Reihe des Beck-Verlages erschienenen Büchleins über die
Völkerwanderung aus der Feder des Bonner Althistorikers Klaus Rosen mag man Zweifel
haben, ob es gelingen kann, dieses komplexe Thema für ein breiteres Publikum auf 120
Seiten vorzustellen, aber man legt es nachher doch mit dem zufriedenen Gefühl zur Seite,
bei aller Knappheit eine abgerundete Einführung erhalten zu haben. Dies betrifft nicht
allein die Ereignisgeschichte der Völkerwanderungszeit, sondern dafür sorgt vor allem
die Verknüpfung dieses Themas mit den Verstehensprozessen der (römischen) Zeitgenossen
und seiner Rezeption seit dem 18. Jahrhundert. Das Buch ist also geschickt komponiert und
stellt nicht zum ersten Mal Rosens Erzähltalent unter Beweis.
Rosen läßt sich nicht die Chance
entgehen, mit der Schilderung der Schlacht bei Adrianopel am 9. August 378 gleich beim
Einstieg einen erzählerischen Höhepunkt zu setzen, um den Leser durch ein Ereignis an
das Thema zu binden, das zum furiosen Auftakt der Völkerwanderung gehört und die
Zeitgenossen zu mehr oder minder pessimistischen Bewertungen der Zukunft des römischen
Reiches veranlaßte. Mit diesen an die Schlachtschilderung anschließenden Gedanken leitet
er über zu Auffassungen über das Phänomen der Völkerwanderung, die nicht nur die
Römer des 4. und 5. Jahrhunderts je nach Standpunkt und Interessenlage unterschiedlich
urteilen ließ, sondern durch politische Instrumentalisierung gerade auch die Epigonen
involviert(e) und Partei ergreifen ließ, je nachdem ob sie sich selber eher zu den Opfern
oder zu den Tätern zählten bzw. mit ihnen sympathisierten. So ordnet er die Katastrophe
von 378 in die Endzeiterwartungen der zeitgenössischen christlichen Publizistik ebenso
ein wie in das traditionelle Rombild der heidnischen Geschichtsschreibung eines Ammianus
Marcellinus, um danach Stimmen zu Wort kommen zu lassen, durch die er dem Rückblick auf
die Völkerwanderung Gedanken zu ihrem Entstehen gegenüberstellt und so an Quellen aus
Mittelalter (Paulus Diaconus) und Antike (vor allem aus Senecas Trostschrift an seine
Mutter Helvia, dial. XI 7) die Reflexion über das Phänomen vertieft. Der Verfasser der
Langobardengeschichte stellt neben dem Zerstörungswerk der Germanen auch das hierdurch
geschaffene Neue heraus, und Seneca kommt es am Beispiel der Kimbern vornehmlich auf
ein allgemeines Bild solcher Wanderzüge (22) an, die er mit Landsuche durch
Übervölkerung begründet.
Wichtig ist der Hinweis, daß schon die
Antike unterschiedliche Ansichten über die Ethnogenese germanischer und anderer Stämme
kannte, hat doch die Einschätzung des Tacitus, Germaniae populos nullis aliis aliarum
nationum conubiis infectos propriam et sinceram et tantum sui similem gentem extitisse
(Germ. 4), nahezu in der gesamten Neuzeit durch falsches Kontinuitätsdenken politische
Wunschvorstellungen in Deutschland beflügelt und eine auch unheilvolle Rolle im
Selbstverständnis der Deutschen gespielt. [1] Die Ideologisierung des
Germanen-Begriffs hatte letztlich auch die politische Instrumentalisierung der
Völkerwanderung zur Konsequenz, die zur Begründung deutschen
Sonderbewußtseins herhalten mußte. Der von Rosen an signifikanten Beispielen
vorgeführte genaue Blick auf diverse Aussagen in den Quellen (z.B. zur historischen
Einordnung der Völkerwanderung in vergleichbare Migrationsbewegungen und zum
Zustandekommen von Ethnien durch Völkervermischung) hilft ebenso wie die
Begriffsgeschichte (Invasion der Barbaren versus Völkerwanderung)
das Phänomen zu objektivieren, zu relativieren und damit zu entideologisieren.
Nach dem Einstand mit der Schlacht bei
Adrianopel und der Bereitstellung des Rüstzeugs für einen möglichst ideologiefreien
Zugang zur Völkerwanderung enthält der Mittelteil die chronologische Darstellung des
spannungsreichen Verhältnisses zwischen dem römischen Reich und seinen germanischen
Nachbarn von der Vorgeschichte, die den Zeitraum zwischen den Zügen der Kimbern und
Teutonen und den Auseinandersetzungen mit den Goten im Vorfeld des Ereignisses von 378
umfaßt, über die Zäsuren der Eroberung Roms durch Alarichs Westgoten (410) und der
Abschaffung des weströmischen Kaisertums durch Odoaker (476) bis zur Etablierung
autonomer Germanenreiche in Nordafrika, Gallien, Spanien und Italien, deren jüngstes die
Langobarden in dem durch Justinians jahrzehntelangen Gotenkrieg ausgebluteten Italien
einrichteten. Während in der Vorgeschichte (37-56) der Darstellungsrhythmus noch durch
die Einbeziehung von Quellen und Erläuterungen zu Voraussetzungen römischen Denkens und
Handelns beeinflußt wird, diktieren in den folgenden Kapiteln (57-96) dichte Sequenzen
von Daten und Fakten an diversen Schauplätzen den Fortgang.
Mit der Beschreibung der
Wirkungszusammenhänge, die letztlich zur Kapitulation des (west-)römischen Reiches vor
den Germanen führten, findet Rosen zu dem langsameren Takt seiner Darstellung zurück,
der sie so lesenswert macht: historische Phänomene durch die Interpretation
entscheidender Quellenstellen zu deuten und deren ideologische Überformung davon
abzusetzen und in ihr eigenes Regelsystem einzuordnen. Das Ende aktiver Germanenpolitik im
römischen Reich sieht er in der Schwäche eines Kaisertums von principes pueri und
principes clausi begründet, die nicht mehr aktiv im Felde standen, sondern auf
Heermeister angewiesen waren, die ihre eigenen Interessen verfolgten, so daß die
Macht einzelner Stammeskönige dank ihrer neuen, Römer und Germanen umfassenden
Territorialherrschaft (109) mehr und mehr in den Vordergrund trat.
Das Schlußkapitel greift mit dem
Verhältnis von Völkerwanderung und deutschem Sonderbewußtsein den Faden wieder auf, den
Rosen zu Beginn bis zum Überblick über die Geschichte des Begriffes
Völkerwanderung geführt hat, und zeigt durch die französischen und
deutschen Beispiele für den politischen Mißbrauch der Völkerwanderung seit dem 18.
Jahrhundert, wozu sie bis zum Dienst im Sinne der vulgärdarwinistischen
Vorstellungen des Dritten Reiches eingesetzt werden konnte. Die Zeit nach 1945 hat
mit alten Germanenbildern aufgeräumt; an die Stelle eines einzigen, in sich
geschlossenen ... germanischen Volkes tritt eine Vielfalt von Völkern im
Werden. [2]
Dieser eine neue Auffassung zur Ethnogenese germanischer Stämme eröffnende Zugang
beeinflußt auch ein um Ideologiefreiheit bemühtes Verständnis der Völkerwanderung, das
zu vertiefen die kommentierte Bibliographie am Schluß des Buches erleichtert. Rosens
Publikation bietet nicht nur eine Einführung in die Ereignisgeschichte der
Völkerwanderung, sondern ordnet diese auch in Rezeptionszusammenhänge ein, die man
durchschauen muß, um dem Phänomen gerecht werden zu können.
2. Malcolm Todd, Die Zeit der
Völkerwanderung
Aus einem ganz anderen Blickwinkel
geschrieben als Rosens Büchlein ist das in englischer Sprache 2001 unter dem Titel
Migrants and Invaders. The Movements of Peoples in the Ancient World
veröffentlichte Buch des britischen Archäologen Malcolm Todd. Sein Inhalt geht weit
über das hinaus, was man unter Völkerwanderung im engeren Sinne versteht,
also die Zeit vom Beginn der Auswirkungen des Hunnensturms auf das Wanderverhalten
weiterer Stämme im östlichen und mittleren Europa ab etwa 375 bis zur Einwanderung der
Langobarden nach Italien 568, selbst dann noch, wenn man als Vorspiel zur Völkerwanderung
Marc Aurels Markomannenkrieg oder gar die Züge der Kimbern und Teutonen am Ende des 2.
Jahrhunderts v. Chr. einbezieht. Die Stämme und Ereignisse, die Todd für sein
Völkerwanderungspanorama berücksichtigt, reichen von den Zügen der Kelten seit dem 5.
Jahrhundert v. Chr. über die Kontakte zwischen römischem Reich und Germanen von der
augusteischen Germanienpolitik bis Marc Aurels Markomannenkrieg, die Wanderungen der
asiatischen Steppenvölker (Skythen, Sarmaten und Hsiung-nu, deren Verbindung mit den
Hunnen inzwischen in Frage gestellt wird), die Alemannen und Franken an der Nordwestgrenze
des römischen Reiches, die Besiedlung Britanniens durch germanische Verbände bis zu den
Ereignissen, die die Völkerwanderungszeit im engeren Sinne umfassen, wie sie auch Rosen
behandelt, an die Todd aber noch die Züge der slavischen Stämme, die Entstehung der
Bajuwaren und das Auftreten der Bulgaren anschließt, so daß er letztlich
Völkerwanderungen über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrtausend verfolgt.
Todd geht in der Einleitung seiner
Darstellung von Gedanken über die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten
Völkerverschiebungen und die nach Beendigung des Kalten Krieges einsetzenden
Migrationsbewegungen aus dem östlichen Europa aus, bettet das Thema kurz in die deutsche
Nationalstaatsproblematik des 19. Jahrhunderts [3] und das Dritte Reich ein und
spricht das seit einiger Zeit vieldiskutierte Thema der Ethnogenese der am
Völkerwanderungsgeschehen Beteiligten an, für die in der Antike mit Bezeichnungen wie gentes,
nationes oder populi Vorstellungen von fest umrissenen
Bevölkerungseinheiten geprägt wurden, die so nicht existierten. In Todds Darstellung
spielt aber die ideengeschichtliche Komponente des Begriffs der Völkerwanderung und der
mit ihr verbundenen Ereignisse weiter keine Rolle, weil er die Völkerwanderung im engeren
Sinne in einen viel größeren Zusammenhang stellt, dem der englische Titel des Buches
weit besser entspricht als der eigentlich andere Erwartungen weckende deutsche, Todd zudem
als Brite von der ideologisch befrachteten Debatte früherer Zeiten nicht so tangiert ist
wie ein Deutscher oder Franzose und weil für ihn als Archäologen weniger die antiken
Schriften (und damit die spezifisch römische Sicht des Geschehens) als die materiellen
Hinterlassenschaften der Völkerwanderungszeit die Quellengrundlage bilden.
Enttäuschend ist das Buch aber eher aus
anderen Gründen. Todd entschuldigt sich gleich zu Beginn dafür, sein Inhalt sei aus
einer Vorlesungsreihe erwachsen (Einleitung, S. 7), und man merkt diesen Ursprung der
Darstellung immer wieder deutlich an. Dabei mag man noch darüber hinwegsehen, daß der
Einstieg mit den Migrationen des 20. Jahrhunderts und der Ideologisierung der
Völkerwanderung im 19. und 20. Jahrhundert anders als bei Rosen nicht zu
einer eingehenderen argumentativen Auseinandersetzung mit dem Völkerwanderungsthema
führt. Gravierender sind die Schwächen im Aufbau des Buches, zu denen mancherlei auf
assoziative Gedankenreihung zurückzuführende Inkonsequenzen und Wiederholungen
beitragen, wie sie für eine Vorlesung vielleicht noch hinzunehmen sind: So geht Todd
bereits im Kontext mit dem Einfall germanischer Völker in Gallien Anfang des 5.
Jahrhunderts auf die Vandalen ein (77), um das Ganze, in umfassendere Zusammenhänge
eingebettet, andernorts zu wiederholen (98), und behandelt die Kimbern und Teutonen etwas
versteckt im Kelten-Kapitel im Anschluß an das keltische Noricum (27-29), um sich danach
den Kelten auf dem Balkan zuzuwenden. Vollends peinlich ist es, wenn dieselben
Sachverhalte zweimal kurz hintereinander abgehandelt werden, wie der Übertritt der Goten
auf die römische Donauseite 376 n. Chr. (105f.) und der Weg der Sueben und anderer
Stämme vom Rheinübergang Ende 406 bis zur Ankunft in Spanien 409 (120f.).
Zahlreich eingestreute, teilweise skurril
wirkende Platitüden und Banalitäten wie Sein Vater war während der großen
Rheinüberquerung getötet worden, so dass Geiserich bei der Invasion in Afrika schon in
den besten Jahren war (99) oder Der Adel in Rom mochte zwar die Hände ringen
angesichts der Veränderungen in ihrer (sic!) Welt, aber Zweifel daran konnten sie (sic!)
nicht haben (104) weisen nicht nur auf Schwächen in der Argumentationsfolge hin,
sondern auch auf die problematische Übersetzungsqualität. Die Bandbreite der Symptome
reicht von Grammatikfehlern (s.o.) über stilistische Mängel wie Wiederholungen im
Ausdruck und unpassende Metaphern bis zu einer allzu engen Orientierung an englischer
Diktion. Dadurch wirkt der Stil oft unbeholfen, steif und hölzern, möglicherweise mit
der Absicht lebendiger Sprachgestaltung eingesetzten Lockerheiten im Ausdruck fehlt die
Aussagequalität, was sich mit besonderer Nonchalance bei den Antwortversuchen auf die
Motive der großen Wanderbewegungen bemerkbar macht (143f.). Todds Empfehlung, einen
guten historischen Atlas während der Lektüre zur Hand zu haben (7), hätten auch
die Übersetzerinnen befolgen sollen: Flüsse tragen falsche Artikel (die Ister, 22f.; die
Lech, 138), werden unmittelbar nebeneinander deutsch und ungarisch (Drau und Lajta, 93)
oder portugiesisch und lateinisch (Douro und Tagus, 122) benannt, bei geographischen
Bezeichnungen, für die es eingängige deutsche Namen gibt, bleibt es bei englischer bzw.
lateinischer Terminologie (Azow-See, 22; Silesia, 97), anderes ist falsch übersetzt
(westliche baltische Inseln, 40) und nicht verstanden (Felder von
Katalanien, 78, richtig jedoch 94).
Die Qualität der (schwarzweißen)
Abbildungen und Karten läßt zum Teil zu wünschen übrig. Es wäre sinnvoll gewesen,
wenn der Archäologe über die Darstellung der Ereignisgeschichte hinaus die abgebildeten
Fundstücke eingehender in die Besprechung archäologischer Befundzusammenhänge hätte
einfließen lassen. Auch der Anhang (Literaturauswahl und Register) weist Mängel auf.
Zumindest in einer deutschen Buchpublikation hätte die konsequente Aufnahme der
Originalausgaben von Werken deutschsprachiger Wissenschaftler den Vorzug vor englischen
Übersetzungen (wie z. B. bei Hans-Joachim Diesner und Herwig Wolfram) verdient. Sinnvoll
wäre umgekehrt auch die Aufnahme deutscher Ausgaben fremdsprachiger Werke, sofern
vorhanden, anstelle der Originalausgaben, zumal in einem Buch, das sich nicht in erster
Linie an ein Fachpublikum wendet und Anregungen zur Vertiefung des Themas bieten will.
Manches fehlt auch einfach wie z.B. Literatur zu den kleinasiatischen Galatern; weder die
alte Untersuchung Felix Stähelins noch die neue Synthese Karl Strobels [4]
sind aufgenommen.
Die Anlage dieses Buches, eine wenig
glanzvolle Übersetzung und durch beides bedingte Fehler und Ungereimtheiten, Banalitäten
und Unzulänglichkeiten bringen ein Ergebnis zustande, an dem der Verfasser, die
Übersetzerinnen und der Verlag ihren je eigenen Anteil zu verantworten haben. Könnte
effiziente Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten derartige Ergebnisse nicht vermeiden
helfen?
3. Walter Pohl, Die Völkerwanderung
Von abermals anderem Zuschnitt ist die von
Walter Pohl dargebotene Völkerwanderungssynthese. Der Wiener Mediävist, einer der besten
Kenner des Völkerwanderungsgeschehens und seiner Zusammenhänge, hat eine abgerundete,
auf zahlreichen eigenen Detailuntersuchungen [5] beruhende, kenntnisreiche
Darstellung auf neuestem Forschungsstand vorgelegt, gut geeignet für den Studienbedarf
und die weiterführende Orientierung. Zwischen Ursprungsmythos und Untergang bzw.
Integration in die autochthone Bevölkerung und Kultur spannt er den Bogen seiner
Darstellung der Völkerwanderungsverbände und berücksichtigt dabei ihre Kontakte zum
römischem Reich und den in der Vergangenheit oft zu eindimensional gesehenen Prozeß der
Ethnogenese sich ständig neu zusammensetzender wandernder Einheiten.
Pohl beginnt mit einem Problemaufriß
unter der Überschrift Völkerwanderung, Ethnogenese, Umwandlung der römischen
Welt: Modelle für den Wandel Europas am Beginn des Mittelalters (13-39). Hier geht
er auf die Begriffe Völker und Wanderungen ein, auf
Völker, die sich keineswegs monokausal als eine Gruppe von
Menschen mit gemeinsamer Abstammung, Sprache und Kultur, erkennbar an Tracht und
Bewaffnung, verbunden durch Recht und Tradition (17), definieren lassen, einer
Auffassung, wie sie im 19. Jahrhundert bestimmend und in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts in den Dienst germanischer Rassenideologie gestellt wurde. Pohl ordnet die
Forschung der letzten Jahrzehnte von Reinhard Wenskus bis Herwig Wolfram [6]
dem differenzierter gewordenen Bild von der Polyethnie der Verbände bzw.
Völker der Völkerwanderungszeit zu, bei der Aspekte der Selbstklassifizierung, wie sie
in anderem Zusammenhang von Ernest Rénan formuliert worden sind, ebenso eine Rolle
spielen wie solche der Fremdwahrnehmung und wo im komplizierten Doppelspiel Ethnien aus
Abstammungsgemeinschaften und zugleich aus eigentlich fremdstämmigen Anschlüssen
entstanden sind, für die ethnische Identität nicht Schicksal, sondern ihre
Leistung (22) ausmacht. Dieser Erklärungsansatz im Kontext mit den als
Wanderungen bezeichneten Bevölkerungsverschiebungen hilft die
Prozeßhaftigkeit des Geschehens in den Kontakten zwischen größeren und kleineren
wandernden Gruppen und vor allem die Einwirkung durch das römische Reich und
seine Kultur hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungen, nicht zuletzt durch den
Bedarf an Soldaten, zu verstehen, so daß Pohl resümiert: Es waren nicht Völker,
die sich auf Wanderschaft begaben, um Rom zu erobern, eher umgekehrt: Die Kämpfe um die
Macht im Imperium erforderten große Zusammenschlüsse, deren Erfolg ihren ethnischen
Zusammenhalt verstärkte (30). Die Völker veränderten und gewannen ihr
Profil letztlich also weitgehend vor dem römischen Hintergrund. So plädiert
Pohl dafür, weniger die Konkurrenz zwischen den neuen bzw. sich erneuernden Völkern und
Rom zu betonen, die schließlich zum sog. Fall, zum Untergang Roms
geführt habe, als vielmehr die Symbiose von Rom(anen) und Barbaren, von der beide Seiten
in einem jahrhundertelangen Lernprozeß (37) auch profitierten,
so daß er zu dem wohlbegründeten Schluß kommt, die Absetzung des Kaisers Romulus
Augustulus durch den Heermeister Odoaker im Jahre 476 bezeichne weniger den Fall
Roms als eine kurzfristige Konsolidierung der politischen Verhältnisse (34), bis
Justinians Gotenkrieg den schärfsten Bruch mit der antiken Tradition in Italien
brachte (37); denn dieser Einschnitt untergrub hier die antike Ordnung
(150) und war doch wie manches andere beinahe mehr innerrömisch bedingt als durch
Anstöße von Völkerwanderungsverbänden, deren Integration in die römische Lebenswelt
längst große Fortschritte gemacht hatte.
Unter diesen Prämissen untersucht Pohl
sodann in sechs Einzelkapiteln den Weg der (West-)Goten, Vandalen, Hunnen, Ostgoten,
Franken und Langobarden von ihren Ursprüngen, soweit diese überhaupt faßbar sind, bis
zur Niederlassung auf römischem Reichsboden und ihrem daraus sich ergebenden Schicksal,
bei den Hunnen bis zur Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Jahre 451 und ihrem Los
nach Attilas Tod. Kleinere Völkerwanderungsverbände werden dabei an passender Stelle
mitbehandelt, so die Völker an der Donau im Zusammenhang mit den Hunnen nach Attilas Tod
453, die Burgunder und die Alemannen im Frankenkapitel, die Awaren im Anschluß an die
Ausführungen über die Langobarden. Lediglich für Pohls Übergang von den Vandalen zu
den Sachsen und Angeln in Britannien (86f.) ergeben sich auch äußerlich kaum
Anknüpfungspunkte. Um den Eindruck festgefügter Völker zu vermeiden, stellt Pohl die
Kapitel seines Buches unter die Überschrift von Leitpersonen, deren Handeln zur
ethnischen Identitätsstiftung in den von ihnen geführten Verbänden Entscheidendes
beitrug: Alarich I., Geiserich, Attila, Theoderich, Chlodwig und Alboin markieren Höhe-
und Wendepunkte, um die Pohl die Einheiten und die Vielfalt der Völkerwanderung
gruppiert.
Das Schlußkapitel zieht ein Resümee aus
den entworfenen Einzelbildern, in denen immer auch das den einzelnen
Völkerwanderungsverbänden Gemeinsame herausgestellt ist, insbesondere in, mit und
gegenüber dem römischen Reich, dessen Welt sich nicht zuletzt unter diesem Eindruck
allmählich veränderte: Doch waren die hier entstandenen Reiche in vieler Hinsicht
viel mehr Teil der spätrömischen Welt als aus herkömmlicher Sicht angenommen
wurde (220). Die Auffassungen über Kontinuitäten, allmähliche Übergänge und ihr
Verhältnis zueinander sind nach wie vor im Fluß. Pohl weist nachhaltig darauf hin, daß
die so festgefügt erscheinende Auffassung von Germanen auf der einen und Roms
altersschwachem Reich auf der anderen Seite keineswegs nur wegen der Erfahrungen mit dem
ideologischen Mißbrauch eine eigentlich falsche Alternative ist, sich vielmehr aus einem
neuen Zugang zu lebendiger Auseinandersetzung zwischen Parteien und Partnern ein zwar in
vielem komplexeres, aber doch der differenzierten Transformation der (spät)römischen
Welt gerechter werdendes Bild gewinnen läßt, das weniger von klar abgrenzbaren Ethnien
als von anderen sozialen Grenzen bestimmt ist: zwischen Christen und Heiden,
zwischen guten und schlechten Königen, Bischöfen oder
Aristokraten, zwischen Untertanen des Königs und Fremden oder Feinden (220). Mit
neuzeitlichem Denken in Nationen wird man der Völkerwanderung nicht gerecht von
dieser Prämisse aus erklärt Pohl das Völkerwanderungsgeschehen und eröffnet den Zugang
zu einem neuen Verständnis dieser Zeit, durch das mehr Fragen aufgeworfen als gelöst
werden. Publikationen wie das von Pohl hier entworfene Gesamtbild können dazu beitragen,
daß auch einer interessierten Öffentlichkeit die dazu benötigten Verständnisgrundlagen
bereitgestellt werden, die anhand der beigegebenen Bibliographie (225-254) leicht zu
vertiefen sind.
Zusammenfassung
Diese drei Neuerscheinungen zur
Völkerwanderung richten sich allesamt weniger an ein Fachpublikum als an eine
interessierte Öffentlichkeit. Sie repräsentieren dabei unterschiedliche Ausgangspunkte
und Zugänge zu einem Thema, das unter Fachleuten seit einigen Jahrzehnten, als Reinhard
Wenskus und vor allem Herwig Wolfram es mit neuen Fragestellungen konfrontiert haben,
intensiv erforscht wird, und tragen dazu bei, die interessanten Ergebnisse dieser
Forschungen und die dabei offengebliebenen Fragen einem Publikum auch jenseits der
Fachgrenzen bekannt zu machen. Arbeiten dieser Art sind bei einem Thema wie der
Völkerwanderung nicht nur erwünscht, sondern geradezu notwendig, weil es in der
Vergangenheit aus gegenwartsbezogenen Interessen im Dienst der Tagespolitik in einer
solchen Weise nationalisiert und popularisiert worden ist, daß es nicht leicht zu sein
scheint, angesichts festgefügt wirkender alter Ansichten in der Öffentlichkeit die in
der Wissenschaft inzwischen vollzogene Revision dieses Bildes zu vermitteln.
Der Althistoriker Rosen und der Mediävist
Pohl tragen auf je eigene Weise dazu positiv bei, der eine, indem er mit Hilfe der
Sensibilisierung für die subjektive Sichtweise der Quellen objektivere Maßstäbe für
die Beurteilungen sucht, die die Völkerwanderung in der Vergangenheit leicht zum
Spielball politischer Interessen werden ließen, der andere, indem er den für die
Völkerwanderungsverbände wissenschaftlich längst allgemein rezipierten ethnographischen
Ansatz Wolframs in ein neues Gesamtbild des Völkerwanderungsgeschehens integriert, beide,
indem sie das Verhältnis zwischen den wandernden Völkern und dem römischen
Reich im Lichte dieser Erkenntnisse neu bewerten. Rosens Büchlein ist für einen ersten
Zugang zum Thema gut geeignet, Pohls ausführlichere Darstellung bezieht auch aktuelle
Forschungsfragen, darunter archäologische, expressis verbis ein, so daß man auf das
mängelbehaftete Buch des Archäologen Todd getrost verzichten kann.
Ulrich Lambrecht, Bornheim-Sechtem
lambre@uni-koblenz.de
[1] Näheres bei Walter Pohl, Die Germanen, München 2000 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 57), S. 1-10.
[2] Pohl, Germanen S. 2.
[3] Österreich-Ungarn in diesem Zusammenhang allerdings als Nationalstaat zu bezeichnen (10), wird der Problematik des Vielvölkerstaates ebenso wenig gerecht wie der Lage seiner Nachfolgestaaten.
[4] Felix Stähelin, Geschichte der kleinasiatischen Galater, 2. Aufl. Leipzig 1907, Nachdruck Osnabrück 1973. Karl Strobel, Die Galater. Geschichte und Eigenart der keltischen Staatenbildung auf dem Boden des hellenistischen Kleinasien, Bd. 1, Berlin 1996.
[5] Die Bibliographie des Buches (225-254) enthält allein 30 eigene einschlägige Veröffentlichungen Pohls (243-245).
[6] Reinhard
Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes,
Köln-Wien 1961, 2. Aufl. 1977. Herwig Wolfram, Geschichte der Goten. Von den Anfängen
bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, München 1979;
Titel ab 3. Aufl. 1990: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts.
Entwurf einer historischen Ethnographie, 4. Aufl. 2001.