Erich S. Gruen: Diaspora. Jews amidst Greeks and Romans. Cambridge, MA/London: Harvard University Press 2002. 386 S. ISBN 0-674-00750-6

 

Die jüdische Diaspora ist seit vielen Jahren eines der intensiv erforschten und kontrovers diskutierten Themenfelder in der Alten Geschichte.[1] Nun hat mit Erich S. Gruen erneut ein Forscher eine Monographie zum Thema vorgelegt, der vielfach für seine innovativen Werke und Interpretationen bekannt ist.

Das neue Werk des in Berkeley lehrenden Gruen beschäftigt sich unter dem Titel „Diaspora. Jews amidst Greeks and Romans“ mit der jüdischen Diaspora in der hellenistisch-römischen Welt im Zeitraum von 323 v.Chr. bis 70 n.Chr., d.h. der Periode zwischen den Eroberungen Alexanders des Großen und der Zerstörung des Jüdischen Tempels in Jerusalem durch die Römer. Während der Beginn dieser Zeitspanne mit der Einbeziehung des jüdischen Mutterlandes das Alexanderreich klar und kaum anders zu wählen ist, zeigt sich gerade in der Festlegung des Endpunktes der von Gruen untersuchten Epoche bereits ein wesentlicher Kern seines Ansatzes: Gruen will der meist vorliegenden Konzentration auf die Diaspora erst nach der Tempelzerstörung entgegentreten, suggeriere diese doch eine ganz andere Entstehungsgeschichte und Ausgangslage der jüdischen Diaspora und ihrer Umweltbedingungen. Insbesondere für die Zeit zwischen der griechisch-makedonischen Eroberung und dem Jüdischen Krieg – immerhin ein Zeitraum von rund 400 Jahren - aber sei die freie Entscheidung der Juden, in der Diaspora unter Griechen und Römern zu leben, besonders nachweisbar (S. 3ff.). Diese Vorzüge, die ein Großteil der Juden in einem Leben außerhalb Judaeas sah, stehen auch im Mittelpunkt der Untersuchung.

Daß es ein grundsätzlich positiver Blick ist, den Gruen auf die Diaspora wirft, ist ihm bewußt und auch intendiert (S. vii), und so stellt er sich entschieden gegen jene dichotomischen Forschungsansätze, die für die Juden in einer heidnischen, hellenistisch-römischen Umwelt nur zwei Alternativen sehen: Assimilation oder vollkommene Abgrenzung von der sie umgebenen Lebenswelt. Dagegen wird ein Modell gesetzt, daß gerade die Einrichtung und Entwicklung der eigenen Kultur unter den Diaspora-Bedingungen als wesentlich für die Interpretation antiker jüdischer Identität ansieht - und grundsätzlich als ein überaus erfolgreiches Projekt bewertet (S. 8).

Um diese These zu untermauern, nähert sich Gruen der jüdischen Diaspora auf zwei Hauptwegen. In einem ersten Hauptteil sollen die realen Lebensumstände der Juden in verschiedenen Regionen und Zentren untersucht werden. Im Mittelpunkt steht ihre rechtlich und faktische Situation, ihre eigenen Institutionen und ihre zu rekonstruierende „Überlebensstrategie“ in der griechisch-römischen Umwelt. Der zweite Hauptteil dagegen beschäftigt sich mit eigenen jüdischen „Konzepten“ des Lebens in der Diaspora – ein Phänomen, das in signifikanter Weise in expliziter Form fehlt und das Gruen daher anhand der überlieferten jüdischen Diasporaliteratur zu rekonstruieren versucht.

Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich somit mit den Realitäten der jüdischen Diasporaexistenz. Gruen behandelt hier in separaten Kapiteln drei Zentren der jüdischen Siedlung: Rom (S. 15-53), Alexandria (S. 54-83) und das Gebiet der römischen Provinz Asia (S. 84-104). Diese Auswahl erscheint zwar etwas verkürzt, ist aber freilich durch die Quellenlage bedingt. Die einzelnen Kapitel untersuchen hier sorgfältig und äußerst kenntnisreich die überlieferten Nachrichten über die jeweiligen jüdischen Gemeinden. Im Vordergrund steht dabei immer auch die Einordnung in den weiteren historischen Kontext. Der erste Quellenbeleg über eine stadtrömische jüdische Gemeinde – bezeichnenderweise deren Ausweisung 139 v.Chr. – steht so eindeutig im Zusammenhang mit der allgemeinen Abwehr fremder Sitten  und Gebräuche; die heftigen judenfeindlichen Ausfälle Ciceros in Pro Flacco (Cic. Flacc. 66-69) werden zweifellos richtig einerseits mit der Gerichtssituation verbunden, andererseits in den weiteren Kontext der allgemeinen ciceronischen Vorurteile gegen etwa die Einwohner der Provinz Asia eingebunden. Auch die aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert bekannten Vertreibungen der jüdischen Gemeinden werden so als keineswegs singuläre und außergewöhnliche Vorkommnisse betrachtet. Die Vertreibung unter Tiberius verlief parallel zum Vorgehen auch gegen andere „fremde“ Religionen, Claudius dagegen verfolgte das Propagandaziel, sich in der Öffentlichkeit auch durch eine Betonung der traditionell römischen Religion von Caligula abzusetzen. Die Vertreibung der Juden aus Rom unter seiner Herrschaft findet daher ihre Entsprechung im Verbot des Druidenkultes in Gallien. Dieser grundsätzlich so hervorragende Ansatz Gruens, die Geschichte der Diaspora weder von der übrigen historischen Entwicklung abzukoppeln noch sie als reine Aneinanderreihung von Konflikten mit der griechisch-römischen Umwelt zu begreifen, erscheint in der Interpretation jedoch teilweise als zu dominierend. Die bekannten gewaltsamen Auseinandersetzungen in Alexandria um das Jahr 38 n.Chr. werden so von Gruen nicht als griechisch-jüdischer Konflikt interpretiert, sondern maßgeblich auf die ägyptische Judenfeindlichkeit zurückgeführt. Zweifellos ist Gruens These zuzustimmen, die Ausweisungen aus Rom wie die einzelnen gewaltsamen Eskalationen seien stets als Folge ganz spezieller Anlässe oder als Reaktionen auf tatsächliche oder auch nur postulierte Krisensituationen zu verstehen; der diesen Ereignissen zugrundeliegende Konflikt und die nicht zu verallgemeinernde, aber dennoch präsente Judenfeindschaft der paganen Umwelt erscheinen hier jedoch als teilweise zu stark nivelliert.

An die nach regionalen Schwerpunkten organisierten Kapitel schließt sich als letzter Abschnitt des ersten Hauptteils die Behandlung der vielfältigen jüdischen Institutionen und Organisationsformen an (S.105-132). Angesichts der disparaten und sich lokal so stark unterscheidenden Quellen ist Gruen in seiner Rekonstruktion der Synagogenstrukturen und der weiteren Formen jüdischer Selbstorganisation vorsichtig genug, um nicht allgemein geltende Regeln und generelle Erscheinungsformen zu postulieren. In einem geographische organisierten Überblick über die bekannten Strukturen jüdischer Institutionen im östlichen Mittelmeerraum zeigt er im Gegenteil gerade die Vielfältigkeit des organisierten jüdischen Lebens in der Diaspora auf. Dazu widerspricht er der oftmals aufgestellten „Gleichsetzung“ der Synagoge mit den römischen collegia und zeigt darüber hinaus, daß die Synagoge nicht das einzige Zentrum des öffentlichen Lebens in der Diaspora war. Auch die allgegenwärtigen paganen Religionen hielten die Juden nicht davon ab, am kulturellen Leben ihrer Umwelt teilzunehmen.

Der zweite Hauptteil des Werkes unter dem Titel „Jewish Constructs of Diaspora Life“ beschäftigt sich im wesentlichen mit der in der Diaspora entstandenen Literatur. Da die Diasporajuden selbst offenbar keine eigenständige Theorie entwickelten, mit der sie ihr Leben außerhalb des Mutterlandes begründeten, bedient sich Gruen der sorgfältigen Analyse der überlieferten Texte, um sich einen Einblick in die Mentalität und das Selbstverständnis der Diasporajuden zu verschaffen. Die wichtigsten literarischen Zeugnisse der jüdischen Diaspora aus der Zeit des Zweiten Tempels werden hier unter der Überschrift „Historical Fiction“ (Bücher Esther, Tobit, Judith, Susanna und das Zweite Makkabäerbuch, S.136-181) und „Biblical Recreations“ (Testament Abrahams, Testament Jobs und Artapanus, S.182-212) auf ihren Charakter und ihre Spezifika untersucht. Als ein gemeinsames Kennzeichen aller untersuchten Quellen macht Gruen dabei – neben ihrer hohen literarischen Qualität - den ihnen innewohnenden Witz aus, der dem Bild einer in der paganen Umgebung trauernden und hoffnungslosen Gemeinde eindeutig widerspricht. Dieser meist subtile Humor muß somit als eines der bedeutendsten Hilfsmittel der Diasporajuden angesehen werden, auch mit den Schwierigkeiten ihrer Situation umzugehen (S.135).

So reizvoll dieser Ansatz insgesamt auch ist, erscheint doch gerade die antike Definition von Humor zu ungewiß, als daß sich eine eindeutige Einordnung literarischer Merkmale wie der Übertreibung eindeutig in das humorvolle Genre nachvollziehen ließe. Dennoch offenbart Gruen auch in diesen Kapiteln einen lesenswerten Zugang und eine profunde Untersuchung der literarischen Überlieferung.

Die letzten Kapitel schließlich widmen sich dem Bild, das die Diasporaliteratur von den Griechen und der hellenistischen Kultur zeichnet (S. 213-231), sowie dem Verhältnis der Diasporajuden zum Land Israel und Jerusalem (S. 232-252). Auch hier zeigt Gruen überzeugend die Integration der jüdischen Minderheit in ihre Umwelt, die einen Teil ihres Selbstverständnisses  ausmachte und mit ihrer jüdischen Identität und Religion dennoch keineswegs in Konflikt stand. Eine umfangreiche Bibliographie und ein Register schließen das Werk ab.

Erich Gruen hat mit seiner neuen Monographie einen innovativen und zur Diskussion anregenden Zugang zur jüdischen Diaspora zur Zeit des Zweiten Tempels vorgelegt. Das deutlich formulierte Hauptziel, das Leben in der Diaspora als grundsätzliche positive und erfolgreiche Erfahrung zu interpretieren, ist ansprechend, auch wenn die vorhandenen und eskalierenden Konflikte zwischen Juden und heidnischen Nachbarn zuweilen zu stark nivelliert wirken.  Doch gerade die Anregung zur Diskussion ist – dem Autor selbst zufolge – sein höchstes Anliegen – ein Anliegen (S. viii), der ihm mit seinem anregendem und äußerst lesenswerten Werk eindeutig gelungen ist.

 

Julia Wilker, Berlin
Julia.Wilker@web.de



[1] Vgl. z.B. Wilhelm Cornelis van Unnik: Das Selbstverständnis der jüdischen Diaspora in der hellenistisch-römischen Zeit. Leiden/Köln 1993; John M.G. Barclay: Jews in the Mediterranean Diaspora. From Alexander to Trajan (323 BCE – 117 CE). Edinburgh 1996;  Leonard C. Rutgers: The Hidden Heritage of Diaspora Judaism. Leuven 1998; John R. Bartlett (Hrsg.): Jews in the Hellenistic and Rom,an Cities. London/New York 2002.