Frank Wittchow: Exemplarisches
Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote (Beiträge zur
Altertumskunde, Bd. 144). München, Leipzig: K. G. Saur 2001. 414 S. Euro 70,-- ISBN 3-598-77693-4.
1. Thema:
Inhalt und Bedeutung
Das Buch
von Frank Wittchow (künftig W.), die überarbeitete Fassung seiner Dissertation,
beschäftigt sich mit den Res gestae des spätantiken Geschichtsschreibers Ammianus
Marcellinus (4. Jh. n. Chr.) unter literaturwissenschaftlich-narratologischer Perspektive.
Aus der Analyse kleinerer Formen des Erzählens innerhalb des Geschichtswerks, der
Episode, des Exemplums und der Anekdote, gewinnt W. Ergebnisse, die über die
Interpretation und Bewertung einzelner Stellen hinaus die Res gestae insgesamt neu
beleuchten und vielbehandelte Fragen der Ammian-Forschung unter neuem Blickwinkel
aufgreifen und diskutieren. Damit reiht er sich in die erst in jüngerer Zeit dichter
werdende Reihe derer ein, die die Historiographie Ammians nicht im Rahmen historischer
Fragestellungen, speziell im Hinblick auf ihren Wert als Quelle, betrachten, sondern sie
mit literaturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden als eigenständiges literarisches
Werk ihrer Zeit würdigen.
2.
Ergebnis: Quintessenz
W. kommt
bei seiner Analyse zu dem Ergebnis, daß die Erzähltechnik Ammians v.a. durch das
geprägt ist, was er als exemplarisches Erzählen bezeichnet, das bedeutet,
daß Ammian einer Darstellung in autonomen Einzelbildern den Vorzug vor einer
komplexen Dramaturgie gibt. Ammian preferiere kleinere Erzähleinheiten jedoch nicht aus
Unfähigkeit, größere Linien zu schaffen, sondern als besonders geeignetes
Ausdrucksmittel einer bestimmten, politischen Aussageabsicht. W. betrachtet nämlich als
das heimliche Thema der Res gestae das Problem der Kommunikation, das durch
kleinere Formen, die der Mündlichkeit sehr nahe stehen, am besten thematisiert werden
könne.
3. Methode
und Vorgehen
Methodik
und Vorgehensweise von W. basieren größtenteils auf modernen Literaturtheorien. Der
Vorteil liegt darin, daß die Arbeit stark methodenreflektierend und -dokumentierend ist.
Hinzu kommt, daß Ansätze dieser Art in der Klassischen Philologie (v.a. in Deutschland)
nach wie vor ein Stiefkind sind, jedoch durchaus bereichernd und aufschlußreich sein
können. Damit ist aber auch schon eine Schwierigkeit angesprochen: Gerade dem Anfangsteil
des Buches liegt eine Darstellung zugrunde, die beim Leser einen relativ
selbstverständlichen Umgang mit solchem offenkundig poststrukturalistischen und
dekonstruktivistischen Denken voraussetzt. Das ist m.E. nicht gerechtfertigt und
trägt eher zur Verwirrung bei. Das gilt auch für die Terminologie. Beispielsweise spielt
der Diskurs-Begriff bei W. eine große Rolle. Wenngleich er in der modernen
Literaturtheorie eine eingeführte Größe ist, hätte es nicht geschadet, diesen meiner
Meinung nach ohnehin nicht unproblematischen Begriff einmal zu erläutern. Hingegen ist
festzuhalten, daß die speziellen, v.a. narratologischen Theorien, die W. seiner
Untersuchung im einzelnen zugrunde legt, ausführlich vorgestellt werden. Dem Vorteil,
daß er dadurch ein terminologisch und methodisch klares Raster erhält, das ihm erlaubt,
die kleineren Erzählformen innerhalb des Werks abzugrenzen und als solche formal zu
beschreiben, steht der Nachteil gegenüber, daß sich eine manchmal sehr starr wirkende
Schematik ergibt und die spezielle Terminologie die Lektüre nicht unbedingt erleichtert.
Die überzeugendsten Passagen sind m.E. ohnehin die konkreten inhaltlichen
Interpretationen ausgewählter Passagen, die zu fundierten und neuen Ergebnissen führen.
4. Aufbau
und Gliederung
W.
untergliedert seine Untersuchung in sechs Großkapitel, beginnend mit einer sehr kurzen
Einleitung. (Etwas befremdlich, daß in seinem Inhaltsverzeichnis auch das
Inhaltsverzeichnis angeführt ist.)
Einleitung
(13f.): Neben der grundsätzlichen Ausrichtung, Zielsetzung und Vorgehensweise nimmt die
Einleitung zu den Begriffen Exemplum, Anekdote und Episode Stellung. In der Art und Weise,
wie W. diese Begriffe einführt und dann verwendet, ist m.E. die größte Schwäche dieser
Arbeit zu sehen: Das Hauptproblem liegt für den Leser darin, daß W. weder hier noch
sonst im Anfangsteil der Arbeit eine klare Abgrenzung der drei Begriffe seines Untertitels
gibt. Ganz explizit erklärt er, Anekdote und Exemplum synonym verwenden zu wollen.
Verwirrenderweise tragen aber Kapitel 3 die Überschrift Exemplum und Kapitel
4 die Überschrift Anekdote. W. merkt dazu an, diese Unterteilung
korrespondiere nur mit gewissen Leseerwartungen, mit denen offensiv umgegangen werde. Was
damit eigentlich gemeint ist, bleibt unklar. Zugleich weist er darauf hin, daß sich im
Laufe der Arbeit doch mögliche Unterscheidungen zwischen Anekdote und Exemplum ergäben,
die eher als Vorschläge, denn feste Definitionsgrundlagen zu verstehen seien.
In der Tat wird mehrfach eine Abgrenzung versucht (115f., 352). Das Ergebnis ist, daß der
Leser die ganze Untersuchung hindurch eigentlich nie genau weiß, ob er es jetzt mit
getrennten Phänomenen oder Synonymen zu tun hat, zumal der Wechsel der Begriffe oft nicht
nachvollziehbar ist. Ähnliches gilt z.T. auch für die Episode. Eine klarere
terminologische Trennung und konsequente Handhabung wären trotz aller damit verbundener
Vereinfachung sehr hilfreich gewesen. Die Formel, die W. für den einzig brauchbaren
Terminus hält, der diese literarische Technik bei Ammian beschreiben
kann (52), das exemplarische Erzählen, wird begrifflich
nicht konsequent genutzt, sondern es wird statt dessen mit den z.T. austauschbaren,
facettenreichen und offenkundig schwer zu definierenden Begriffen Anekdote, Exemplum und
Episode operiert.
1.
Anekdote und Exemplum (15-71): Das erste Kapitel bietet sozusagen den theoretischen
Hintergrund zu Anekdote und Exemplum. W. sieht die Besonderheit des anekdotischen
Erzählens bei Ammian in bestimmten Textsorten, kleine Formen, die seinen Bericht
unterbrechen (44). Auf der Basis von Gattungsgeschichte, dem Vergleich antiker und
moderner Geschichtstheorie sowie dem antiken und modernen Begriffsverständnis von
exemplum und Anekdote sucht W. nach einem adäquaten poetologischen Beschreibungsmodell
des ammianschen Diskurses. Als konstitutiv für seine Exempeldefinition
betrachtet W. die Verbindung von exemplarischem Aussagestatus und narrativer Kleinform und
kommt dafür zu dem Begriff exemplarisches Erzählen. Da dasselbe für eine
weite Definition der Anekdote gilt, wird hiermit der synonyme Gebrauch von Exemplum und
Anekdote begründet. Leider ist die Argumentation und Zielsetzung in diesem Anfangskapitel
z.T. nur sehr schwer nachvollziehbar, die Gedankenführung keineswegs immer klar und m.E.
nicht ohne Widersprüche. Es ist sehr die Frage, ob es dieser breiten Theorie wirklich
bedurft hätte bzw. ob ein etwas knapperer und strafferer Unterbau der Verständlichkeit
nicht zuträglicher gewesen wäre.
2. Die
Episode (72-153): Im zweiten Kapitel tritt der narrative Aspekt der besonderen
Erzähltechnik Ammians ins Zentrum. Hier wird die erzählerische Kleinform der Episode
näher betrachtet, die gegenüber dem antiken exemplum konstitutiv eine narrative
Komponente beinhaltet. So ist die Textsorte, in der die Anekdote sich manifestiert,
die Episode ..., wenngleich nicht jede Episode zur Anekdote wird (74). Auf der Basis
einer gründlichen Diskussion des Verhältnisses von Narrativität und Fiktionalität, das
ja für den Bereich der Geschichtsschreibung von höchster Bedeutung ist, gelangt W. zu
einer bestimmten Erzählform, die eine besondere Nähe zur Mündlichkeit besitzt, eben zur
Episode. Hierbei folgt er insbesondere der Theorie von Monika Fludernik1. Auf sie geht auch das Episodenschema zurück,
das er im folgenden darstellt und anhand von Amm. 18,6,11-23 exemplifiziert. Die Fragen
von Fiktionaliät und Authentizität bei Ammians Fluchterzählung erscheinen dabei in
neuem Licht. In einem äußerst überzeugenden Vergleich mit Tacitus zeigt W., daß Ammian
anstelle eines szenischen oder analytischen ein episodisches Erzählen bevorzugt, das mit
einer veränderten Auffassung von Wirklichkeit korrespondiert. Dafür ist, so W., v.a. die
veränderte Kommunikationssituation im Reich verantwortlich, die den Kaiser weniger als
konkrete Persönlichkeit greifbar macht, denn zu einer Idee für den Reichszusammenhalt
werden läßt: Tacitus interessiert sich für die spezifischen Reaktionen von
Charakteren in spezifischen Situationen, Ammian für typische Reaktionen in exemplarischen
Situationen (129). Durch die Nähe zur Mündlichkeit suggeriere die Episode ferner
ein schlichtes Erzählen dessen, was tatsächlich vorgefallen ist.
3.
Exemplum (154-226): Bei der Besprechung von einzelnen Beispielen dieses Erzähltyps wählt
W. zunächst das 23. Buch der Res gestae, da er hierin einen Schlüssel für Ammians
Weltanschauung und Erzählweise (154) sieht. Auf der Basis seiner Fragestellung
unternimmt er es, zentrale Forschungsprobleme zu diesem Buch neu zu beantworten (in
direkter Auseinandersetzung v.a. mit den Auffassungen von Rike2 und Rosen3). W.
erkennt in der auffallenden Reihe von Prodigien, die zu Episoden ausgestaltet sind, ein
Mittel der Kommunikation, einen Beitrag zum aktuellen politischen Diskurs: Für W. geht es
hier weniger um den historischen Julian, sondern um die zeitgenössische Debatte um das
kaiserliche Wissensmonopol. Das ganze 23. Buch sei als Exemplum für die Stellung des
Kaisers im Kosmos zu verstehen. Ammian lehne damit die Immunisierung und Allwissenheit des
spätantiken Kaisertums, das Gottesgnadentum, ab und befürworte statt dessen
ein charismatisches, das durch Nähe und Kommunikation gekennzeichnet sei, analog zum
princeps civilis früherer Zeiten, aber auf die aktuelle Situation bezogen. Für W. ist
bei Ammian der Kaiser im Sinne einer deterministischen Vorstellung dem fatum unterworfen,
der Lauf des Schicksals unabwendbar, stellt sich aber für den einzelnen, auch für den
Kaiser, als Kontingenz dar. Dennoch muß er politisch handeln mit der Möglichkeit,
Fehler zu machen. Als Nichtwissender ist er auf Kommunikation angewiesen, v.a. auf die mit
Menschen, die sich auf die Deutung von prodigia verstehen, die haruspices. Es geht, laut
W., hier weniger um einen Konflikt zwischen paganer und christlicher Auffassung als um
einen innerpaganen Streit. Inwieweit man dieser Deutung von W., die in sich konsistent
ist, folgt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob man die starke Bewertung von Amm. 23,5 und
damit die Bedeutung des haruspices-Problems teilt. Befremdlich innerhalb dieses Kapitels
wirken die plötzlichen theoretischen Reflexionen (162-166), die die Interpretation
auffällig unterbrechen. Vieles wurde schon zuvor angesprochen. Wenn überhaupt, dann
hätte diese Passage ihren Platz in den eher theoretischen Anfangskapiteln.
4.
Anekdote (227-317): Dasselbe gilt im wesentlichen für den Anfang des vierten Kapitels.
Zudem wird auf eine weitere Theorie mit wieder eigener Terminologie zurückgegriffen. W.
grenzt bei der Besprechung der vorausgehenden Julianbücher (Amm. 15-22) analeptische
exempla und Anekdoten voneinander ab: In den analeptischen exempla wird die Zeitgeschichte
in Bezug zur Tradition gestellt und dadurch bewertet. Aber der Bezug zur Vergangenheit
ist, laut W., für Ammian nicht genug. Er entwickelt eigene, neue exempla, die er narrativ
ausgestaltet. Julian wird durch analeptische exempla, die v.a. in den frühen
Julianbüchern vorherrschen, in die Reihe der principes civiles gestellt, aber er ist
keine reine Reproduktion eines der bekannten beispielhaften Kaiser des hohen Principats.
Im Rahmen von Anekdoten offenbart er selbst exemplarisches Handeln unter den Bedingungen
seiner Zeit. Ammian schafft über die Anekdote einen politischen Sonderdiskurs über
den Kaiser, seine Tugenden und die Regeln der Kommunikation mit der Macht (288). Die
Anekdote ist für Ammian damit ein bewußtes Ausdrucksmittel, das es ihm ermöglicht, in
Julian einen exemplarisch-idealen Kaiser für seine eigene Zeit zu schaffen, ohne darauf
verzichten zu müssen, im eigentlichen Geschehensbericht auch die negativeren Seiten des
historischen Julian aufzuzeigen. Beachtenswert und über die bisherigen Interpretationen
deutlich hinausgehend sind in diesem Kapitel insbesondere die Gegenüberstellungen von
Julian und Constantius.
5. Ammian
und Aurelius Victor (318-364): Bei der Frage, inwieweit die Res gestae in der Tradition
der senatorischen Geschichtsschreibung oder der Kaiserbiographie stehen, bestreitet W.
völlig zu Recht die lang vertretene Meinung, Ammians Werk kennzeichne ein enges
Abhängigkeitsverhältnis zu Tacitus, gerade auch, was die Charakterisierungskunst
betreffe. Tacitus spielt für Ammian eine äußerst geringe Rolle. In einem Vergleich mit
Aurelius Victor kommt W. zu dem Ergebnis, daß die Anekdote bei letzterem nicht in
gleicher Weise als gezieltes Darstellungsmittel mit persuasiver Kraft und argumentativer
Absicht ausgebildet ist wie bei Ammian, sondern mehr im Rahmen der moralischen
Charakteranekdote bleibt.
6. Das
Publikum der Res gestae (365-386): Im Schlußkapitel versucht W., aus den bisherigen
Überlegungen die Frage nach dem intendierten Leser der Res gestae zu beantworten. Das
gibt ihm zugleich Gelegenheit zu einer knappen und gut verständlichen Zusammenfassung
(372-377). Die Zielgruppe der Res gestae sind für W. die spätantiken Beamten. Das zeige
sich daran, daß in den Anekdoten sehr viel von Beamten und ihrer Kommunikation mit dem
Kaiser die Rede sei, ebenso wie an den zentralen Themen dieser Erzählform, nämlich
paideia, Kommunikation, Metaphysik der Macht, die für diese Gruppe besonderes Interesse
besäßen. Ob man wirklich so weitreichende Schlüsse aus dem Gesagten ziehen kann bzw. ob
der Aspekt der Kommunikation hier nicht überstrapaziert wird, sei dahingestellt, eine
diskussionsfähige Möglichkeit ist es allemal.
Auf das
Literaturverzeichnis, das die einschlägige Literatur umfassend berücksichtigt (387-407),
folgen abschließend ein Stellenindex (408-412) und ein sehr knapper Sach-
und Personenindex (413-414; im Inhaltsverzeichnis fälschlich mit S. 416 angegeben).
5.
Formales
Ganz
vereinzelte orthographische Fehler und ein unvollständiger Satz (75) sind im Rahmen einer
solchen Arbeit sicher verzeihbar. Grammatikalisch ist anzumerken, daß Nomina, wie Autor,
Senator, im Singular stark flektiert werden. Schade ist, daß sich der Verlag mit dem
Layout so wenig Mühe gegeben hat. Der Verzicht auf ein Trennprogramm führt zu teilweise
riesigen Löchern im Text, die den Lesefluß beeinträchtigen. Ferner wechselt zweimal
offenbar unmotiviert die Schriftgröße (13, 225).
6.
Zusammenfassung
Die
Untersuchung von W. ist ein wichtiger und beachtenswerter Beitrag auf dem Weg der
Ammian-Forschung zu einer angemessenen literaturwissenschaftlichen Würdigung der Res
gestae. Sowohl das Vorgehen als auch die Ergebnisse bieten fruchtbare Anstöße für die
weitere Diskussion. Wünschenswert gewesen wären im theoretischen Bereich, v.a. zu
Beginn, eine klarere Darstellung sowie generell eine größere begriffliche Konsequenz
bzw. Transparenz.
Petra Riedl