Gregor Weber: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2000 (Historia-Einzelschrift 143). XIV, 585 S. DM 166,--.

 

Gregor Webers monumentale Studie zu den Träumen der römischen Kaiser ist im Kontext der vermehrten Zuwendung zu begreifen, welche die kulturwissenschaftlichen Disziplinen – nicht zuletzt angeregt durch das einhundertjährige Jubiläum von Freuds Traumdeutung (1900) – in neuester Zeit Traum und Traumdeutung zuteilwerden lassen. Während die meisten Studien des letzten Jahrzehnts konkret der Religionswissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Philosophie und Psychologie, der Kultur- oder der Mentalitätsgeschichte zugeordnet werden können, ist Webers Eichstätter Habilitationsschrift (Eichstätt 1998) als althistorischer Beitrag zur Mentalitätsgeschichte konzipiert. Weber hat sich auch in einigen anderen Artikeln mit der antiken Traumdeutung, vor allem mit Artemidors Oneirokritika befaßt und stellt auf dem Internet eine Bibliographie zu Traum und Träumen bereit (http://www.gnomon.ku-eichstaett.de/dreams/index.html). In der zu besprechenden Studie analysiert Weber Träume und Visionen eines bestimmten Personenkreises (Kaiser bzw. Kaiserhof) in einer bestimmten Epoche (römische Kaiserzeit).

 

In den Prolegomena (1–29) legt der Verf. seine Untersuchungsmethode und die von ihm herangezogenen Deutungskontexte dar. Den Auftakt bildet ein Zitat von R. Koselleck, der postuliert, daß der Historiker alles, also auch Träume, zur Quelle erheben dürfe. Weber wolle in eben diesem Sinne nun Träume und Visionen im Umfeld der römischen Kaiser untersuchen. Kernstück seiner Untersuchung sind die Träume/Visionen Konstantins des Grossen (312 n.Chr.), die in der Etablierung des Christentums eine entscheidende Rolle spielten. Um die Grundlage für das Verständnis eben dieser Legitimierung („Gewinnung von Akzeptanz“, S. 20) durch Träume zu legen, untersucht er die Träume und Visionen im zeitlichen Rahmen von Caesar (1. Jh. vor Chr.) bis zum Kaiser Maurikios (7. Jh. n. Chr.). Dies ergebe 175 Traumberichte meist aus Biographien oder der Geschichtsschreibung. Das Material ordnet Weber – außer in einem sehr nützlichen Register, das viel prominenter hätte plaziert werden müssen – jedoch nicht chronologisch nach den Kaisern oder – was auch möglich gewesen wäre - nach den Quellentypen, sondern nach äußeren Ereignissen: Geburt und Kindheit (4.3.1.), Verheissung der Herrschaft (4.3.2),  Erringung eines Sieges und das göttliche Eingreifen in der Schlacht (4.3.3.), Ausübung der Herrschaft (4.3.4), besondere Befähigung und die göttliche Begünstigung (4.3.5.), nahendes Ende (4.3.6.). Innerhalb dieser Rubriken verfährt Weber wiederum chronologisch nach den Kaisern. Möglich ist es also auch, eine Lektüre entlang dieser sekundären Chronologie zu unternehmen und etwa alle Traumberichte im Zusammenhang mit einzelnen Herrschern  zusammenzusuchen. Im Schlußteil (5. und 5.2) weist Weber einerseits noch einmal auf methodische Probleme hin und bietet andererseits ein Resümee seiner Ergebnisse. Zwei Appendices, ein umfängliches Literaturverzeichnis sowie verschiedene Register schließen das Werk ab.

 

Die Studie ist – soweit ich das als Nicht-Historikerin sagen kann – sehr sorgfältig recherchiert und arbeitet eine ungeheure Menge an Material sowohl der Primärtexte als auch der Sekundärliteratur auf.  Insofern ist ihr ein Platz als wichtiges Referenzwerk für die Träume der römischen Kaiser sicher. Sie bietet in der Tat eine Fülle an Details und Einzelbeobachtungen, die in einer noch so langen Rezension kaum gewürdigt werden könnten. Darum möchte ich mich im folgenden eher auf Allgemeines, die Methode und Anlage der Studie, beschränken. Doch sei den kundigen Rezipienten nicht verschwiegen, daß ich dies aus meiner eigenen Forschungsperspektive auf die antiken Traumdiskurse unternehme. Denn Gregor Weber und ich haben ungefähr im selben Zeitraum an unseren Traumbüchern geschrieben. Unsere Studien sind in gewissen Sinne komplementär, weil Gregor Weber gerade die Traumdokumente analysiert, die ich wegen meiner anderen Zielsetzung ausgeschlossen habe: die Traumerzählungen in Geschichtsschreibung und Biographie. Denn ausgehend von meiner Forschungstätigkeit am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt, wo ich im Rahmen eines Projekts „Das antike Erbe in der psychoanalytischen Traumforschung Freuds“ gleichsam das antike Fundament legen sollte, habe ich, was meinen eigenen Forschungsansatz programmatisch zum Ausdruck bringt, zwei sehr verschiedene Studien verfaßt, die kurz nach Gregor Webers Habilitationsschrift im Frühjahr 2001 erschienen sind: In der ersten Studie „Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung“ ([=Habilitationsschrift Basel 1998], K.G. Saur-Verlag: München-Leipzig 2001, 478 S.) analysiere ich die Traumdarstellungen der Dichtung, die ich als eigenständigen Diskurs auffasse, auf ihre  Funktionen und Leistungen als literarische Darstellungsstrategie. In der anderen Studie „Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung“ (Artemis: Düsseldorf 2001, 240 S.) wende ich mich den heterogenen professionellen Traumdeutungs- und Nutzungsdiskursen, vor allem der mantischen Traumdeutung zu. Denn ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß man innerhalb des oft etwas zu summarisch verstandenen antiken Traumverständnisses doch einzelne Stimmen unterscheiden muß. Auch wenn die Diskurse in Mantik, Medizin, Philosophie, Alltagsverständnis und Dichtung und anderen Bereichen gewisse Gemeinsamkeiten zeigen, sollte man sie in einem ersten Schritt erst einmal voneinander getrennt betrachten, um eine differenzierte Sichtweise auf das Phänomen Traum und Traumdeutung in all seinen Facetten zu erreichen. Kurzum: ich bin weniger optimistisch als Gregor Weber hinsichtlich dessen, was wir zum momentanen Zeitpunkt über das antike Traumverständnis wissen und wissen können.

 

Webers Studie ist zweifellos ein wichtiger Baustein in der Rekonstruktion der antiken Traumdiskurse, aber er hat seine Darlegungen  mit allzu vielen und allzu großen Ansprüchen be- bzw. überfrachtet. Denn genau in dem bewundernswert enzyklopädischen Charakter, der sich in einer imponierenden Fülle von Fußnoten und Literaturangaben niederschlägt, liegt die Schwäche der Studie. Konkret bedeutet dies: Weber hätte sich auf sein eigentliches Untersuchungsziel, nämlich die Träume der Kaiser und ihre soziale Dimension, ihre politische Instrumentalisierung oder ihre Rolle in der Herstellung von Biographien beschränken sollen. In genau diesem Bereich ist auch die maßgebliche Leistung der Studie zu sehen. Doch wäre diese auch zustande gekommen, wenn er nicht mit all den Deutungsvorgaben, die er in den Kapiteln 1. bis 3. ausbreitet, an seine Fragestellung herangetreten wäre. Eine gezieltere Vorauswahl des untersuchten Materials einerseits und eine über bloße Zitation hinausgehende Auseinandersetzung mit der schon vorhandenen Sekundärliteratur zum Traum in der Antike andererseits hätte der Studie klarere Konturen verleihen können.

 

Die umfänglichen Kapitel 2 und 3 (30–91), z.B., umreißen die Bereiche, in denen der Traum in der Antike eine Rolle spielte. Eine solche Darlegung ist prinzipiell  wünschenswert, doch sei die Frage erlaubt, ob sie im Rahmen dieser Studie zur Beantwortung der eigentlichen Fragestellung nötig ist. Das von Weber entworfene Bild ist darüber hinaus zu monochrom: Traumnutzung ist in der Antike nicht immer Zukunftsschau; zudem sollte man mit wertenden Urteilen über die Praxis der professionellen Traumdeutung, wie sie uns in Gestalt von Artemidors Oneirokritika kenntlich ist, vorsichtiger sein. Wir wissen z.B. wenig über die Motive der Klienten, den Deuter aufzusuchen, oder über den Einfluß der Erfolgsrate auf die Popularität der Traumdeutung. Weber stellt Zeugnisse heterogener Provenienz nebeneinander. Aber eine Inschrift, die berichtet, daß die Dedikation eines Gegenstands aufgrund eines Traums erfolgte, steht weder auf einer Ebene mit den Traumdarstellungen in Werken der Dichtung noch  mit Träumen, die in einem Geschichtswerk erzählt werden. Darum hätte es der Klärung einer prinzipiellen Frage bedurft, nämlich inwiefern all diese Texte und Kontexte überhaupt in toto wiederum zur Deutung einzelner Traumtexte meist literarischer Natur herangezogen werden können. Auch der Einfluß von Gattungsgepflogenheiten wird hier eine entscheidende Rolle spielen. Insofern ist es erstaunlich, daß Weber bei der Interpretation der einzelnen Träume selten genug die Quelle resp. die Zeit thematisiert, die zwischen den Lebzeiten der Kaiser und den Geschichtsquellen, in denen ihre Träume überliefert sind, liegt. Das Schlußkapitel 5 (497–523), das in Wirklichkeit die Funktion der Einleitung mit übernimmt, legt darum gleichsam erst nachträglich das methodische Fundament.

 

Ein weiteres methodisches Problem, das grosso modo weniger schwer ins Gewicht fällt, weil Weber es in seiner Zusammenfassung (498ff.) ‚textintern‘ selbst thematisiert, stellt die Tatsache dar, daß er die etwa in Artemidors Oneirokritika enthaltene Klassifizierung von Traumbildern in fünf Typen (drei bedeutungsvollen, zwei bedeutungslosen) übernimmt. Gerade zur ,Deutung‘ von antiken Traumerzählungen in literarischen Texten, die der Logik der Handlung und der Gattung folgen, kann diese Klassifizierung wohl kaum taugen. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß Weber, der jede Traumerzählung mit der Terminologie Artemidors etikettiert, am Ende doch zugeben muß (498), daß solch eine Zuordnung in vielen Fällen zu Unschärfen führt oder schlicht nicht möglich ist.  Da sich Dichter oder Biographen selten selbst auf den Kontext der professionellen Traumdeutung beziehen und etwa die entsprechende Terminologie prägnant benutzen, langt es bei der Interpretation literarischer Traumtexte m.E., sich einstweilen auf genau zwei Deutungskoordinaten zurückzuziehen:

(a) daß man in der Antike zwischen bedeutungsvollen und bedeutungslosen Träumen unterschied;

(b) daß jeder Traum, der erzählt wird, allein durch seine Erzählung eine Bedeutung bekommt, selbst wenn er nach der Terminologie Artemidors nur ein enhypnion wäre.

 

Abgesehen davon, daß wir heute zu wenig über die antike Traumdeutung wissen, um sie selbst anwenden zu können, wirft eine Anwendung ihrer Kriterien methodisch keine geringeren Schwierigkeiten auf als die Applikation psychoanalytischer Konzepte. Auch müßte die Frage, was nun die besondere Natur des Traums bzw. der Traumerzählung als (historische) Quelle ausmacht, klarer herausgearbeitet werden. Damit meine ich, daß Weber zwar diese Charakteristika en passant tatsächlich benennt, aber ihnen nicht die nötige Bedeutung beimißt. So kann er sich im Lauf seiner Studie nicht darauf verständigen, mit was er sich eigentlich beschäftigt: mit Träumen oder Traumerzählungen. Ausgangspunkt jeder Überlegung sollte jedoch die Tatsache darstellen, daß nicht einmal der aufgewachte Träumer die Authenzität und die genaue Wiedergabe seines Bildgehaltes verbürgen kann, und wir es demnach mit immer elaborierten, ,fiktiven‘ Texten zu tun haben, oder wie Weber S. 2 sagt: „Schließlich sind Träume und auch Visionen – meist ein Symbol oder eine Bildfolge –nur durch die Sprache vermittelt, die wiederum in ihrem individuellen und kulturellen Kontext linguistisch analysierbar ist.“ Richtig. Und mehr wird man auch nicht leisten können. Das heißt jede Frage danach, ob ein Traum authentisch oder erfunden ist, oder ob er vollständig oder unvollständig erzählt ist, muß sich gerade wegen der Natur des Traumes, der ein nicht durch Erzählung einholbares Erleben des Schlafs ist, erübrigen. Insofern wird man sich immer nur auf die Analyse einer Traumerzählung und ihrer Kontexte stützen können, was über eine einfache Dechriffrierung des Traumbildes hinausgeht.  Daß diese Kontexte gleichsam Multiplikatoren des Traumsinnes sind, macht die Interpretation eines Traumtextes insgesamt zu einem schwierigen Unterfangen. Dieses Besonderheit des Traumphänomens muß aber nicht minutiös auf mehreren hundert Seiten bewiesen werden, sondern hätte als Ausgangspunkt genommen von vornherein zu einer besseren Fokussierung auf die eigentliche Thematik führen.

 

Die Beschäftigung mit der antiken Traumdeutung/Traumauffassung wirft ähnliche Probleme auf, wie die Untersuchungsgegenstände der Ethnologie, bei der ebenfalls kulturelle Determiniertheit des Forschers und des Forschungsgegenstandes, häufig einer anderen Kultur, eingerechnet werden müssen. Konkret auf die antike Traumdeutung bezogen, bedeutet dies: Man muß trennen zwischen

(a) der Kohärenz einer Traumerzählung und ihrer Deutung innerhalb einer bestimmten Kultur oder eines bestimmten literarischen Werkes; und

(b) der Frage, wie es sich denn wirklich mit dem Sinn der Träume und der Möglichkeit einer Traumdeutung verhält, also der Frage nach der „Wahrheit“.

Weber allerdings schwankt häufig zwischen diesen beiden Positionen, z.B. wenn er S. 2 folgende Aussage macht: „Gerade ohne die systematische Rezeption des Phänomens in einem wissenschaftlichen Sinne war man (sc. In der Antike, C.W.) stets geneigt, für sich selbst oder für andere bedeutsame Träume und Visionen einer göttlichen Macht bzw. deren Offenbarung zuzuschreiben und sie radikal ernst zu nehmen.“ Hier wäre jedoch die Frage der Kohärenz innerhalb der Kultur höher anzusetzen: die antiken Menschen haben sich im Rahmen ihrer eigenen Kultur und Möglichkeiten sehr wohl ernsthaft und systematisch mit dem Traumphänomen auseinandergesetzt, wie etwa die gerade erst erschienene Studie von M.A. Holowchak, Ancient Science and Dreams. Oneirology in Greco-Roman Antiquity (Lanham 2002) dokumentiert. Ob ,Wissenschaft‘ in bezug auf Traum und Traumdeutung das hauptsächliche Kriterium für seriöse Auseinandersetzung ist, sei ohnehin dahingestellt. Hier irrte zugegebenermaßen aber selbst Sigmund Freud.

 

Die Appendix zum Forschungsstand (524–537) macht diese Unentschiedenheit des Verfassers, wo er sich selbst positionieren will, schlagend deutlich: Hier wäre der Ort gewesen einmal grundsätzlich über die Frage nachzudenken, wo bisher überhaupt die Leistungen oder Schwierigkeiten in der Erforschung mit Traum und Traumdeutung in der Antike lagen. Meine eigene Erfahrung mit der einschlägigen Sekundärliteratur ist, daß einerseits Abwertungen der antiken wie der modernen Traumdeutung zu beobachten sind, andererseits auch eine übertriebene Akribie, welche die Irrationalität und Unberechenbarkeit des Traums irgendwie weg-rationalisieren möchte.

 

Der zweite Teil der Appendix (531-536), „Träume, Visionen und moderne Psychoanalyse“ betitelt, bietet keine eigenständige Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie die Applikation psychoanalytischer Konzepte auf antike Traumtexte sinnreich oder problematisch ist, sondern beruft sich weitgehend auf Sekundärliteratur, die diese Frage mehr oder minder zu beantworten scheint (bei genauerem Hinsehen aber häufig genug auf anderes abzielt, nämlich die psychoanalytische Traumdeutung entweder zu diskreditieren oder ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen).

 

Und so ist eins sicher:  Die mächtigste Barriere für unsere Erforschung der antiken Traumdeutung bildet Freuds Traumdeutung. Denn Freud suggeriert in diesem Gründungsdokument der Psychoanalyse derart überzeugend, daß er alle früheren Lösungsversuche ein für alle mal überwunden habe, daß sogar seine Kritiker ihm glaubten. Obwohl auch unsere Zeit sich – wie Ole Vedfelts ausgezeichnete Überblickstudie zeigt (Dimensionen der Träume. Ein Grundlagenwerk zu Wesen, Funktion und Interpretation, München 1999) – durch eine ungeahnte Pluralität von Traumdeutungs- und –nutzungsdiskursen auszeichnet, verabsolutieren die meisten Erforscher der antiken Traumdeutung – auch Weber – Freuds Zugang zum Traumphänomen. Häufig führt das dazu, daß man gerade die antiken Traumdiskurse vorschnell versteht/verstand als eine überwundene Vorstufen unseres eigenen, fortgeschritteneren Denkens. Und genau hier liegt eine weitere Crux der Studie: wenn man schon Freud und die antike Traumdeutung als Folie seiner eigenen Untersuchung nimmt (was für einen Menschen des 20. Jh. Fast unvermeidbar ist), sollte man sich auch mit Freud selbst und der späteren psychoanalytischen Forschung vertraut gemacht haben, weil man sonst zu merkwürdigen Zirkelschlüssen gelangt und letztlich beiden, der antiken und der modernen Traumdeutung, nicht gerecht wird. Auch Weber verweist immer wieder auf die moderne Traumforschung. In seinen Ausführungen gerade zur Psychoanalyse fällt auf, daß er von psychoanalytischer Traumdeutung, die nur im engeren Rahmen der psychoanalytischen Praxis zu verstehen ist und deren primäres Ziel gewiß nicht in Traumdeutung besteht, nur eine wenig konkrete Vorstellung hat. Kernaussagen Freuds werden etwa aus Sekundärquellen zitiert (S. 11, Fn. 13) oder in einer völlig entstellten Form wiedergegeben. Für die lapidare Aussage, daß  „die Ansätze von Freud und Jung – Traum als Zugang zu Schichten der eigenen Vergangenheit, vermittelt durch eine Art verschlüsselter Erinnerung im Traum – hinsichtlich der Deutung der Träume diametral von antiken, auf Zukunft ausgerichteten Deutungsmustern verschieden [sind]“ (S. 533), wird ausschließlich auf Sekundärliteratur verwiesen, der Nachweis in den Werken von Jung und Freud, die bei gewissen Grundannahmen (Existieren des Unbewussten) ein differentes Verständnis ihrer Traumdeutung entwickelten, aber nicht erbracht. Das dürfte auch schwierig sein. Oder es wird das übliche Vorurteil perpetuiert, daß Freuds Traumdeutung immer irgendetwas mit Sexualität zu tun habe (S. S. 533: „Darüber ist zu betonen, daß der Bereich der menschlichen Sexualität in den hier behandelten Träumen und Visionen eine marginale Rolle spielt.“) Interessanterweise fehlt im Forschungsüberblick (und in der Bibliographie) dann gerade der Autor, der die luzidesten Aussagen zum Verhältnis antike – moderne Traumdeutung gemacht hat, nämlich Michel Foucault (ich meine hier nicht nur M. Foucault, Die Sorge um sich, Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt 1989, 7–51, sondern auch besonders seine ,Einleitung‘ zu Ludwig Binswangers Traum und Existenz, Berlin-Bern 1992, 1–93).

 

Je weiter wir uns jedoch selbst zeitlich von Freuds Traumdeutung entfernen, desto mehr werden wir auch deren historische Dimension erfassen können. Allmählich, mehr als 100 Jahre nach diesem epochemachenden Werk und nach etlichen Jahren der experimentellen Traumforschung, wird immer deutlicher, daß Traum und Traumdeutung Phänomene sind, die gleichsam zwischen die Wissenschaften fallen und daß es sich durchaus lohnt, einen ethnologischem Blick auf Verständnisversuche anderer Kulturen und Epochen zu werfen, nicht zuletzt, um unser eigenes Umgehen mit diesen Phänomenen reflektieren zu können.

 

Christine Walde, Basel