James Howard-Johnston, Paul Antony Hayward (Hrsgg.): The Cult of Saints in Late Antiquity and the Middle Ages. Essays on the Contribution of Peter Brown. Oxford: Oxford University Press 1999. 308 S. £ 45.00. ISBN 0-19-826978-1

 

1971 veröffentlichte Peter Brown (P.B.) im Journal of Roman Studies den Aufsatz „The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity“ (Holy Man). Im Sommer 1996, als seit der Veröffentlichung 25 Jahre vergangen waren, fand in Oxford aus diesem Anlaß zu Ehren von P.B. ein vor allem von seinen dortigen Schülern getragenes After Rome Seminar zu dem Thema „holy men and saints“ statt (4). Die im vorliegenden Sammelband vereinigten Essays gehen mit Ausnahme der von R. Price, C. Rapp, I. N. Wood und P. Hollingsworth (5) auf diese Vortragsreihe zurück. Die Einführung von J. Howard-Johnston (1–24) unterrichtet über Absicht und Aufbau des Bands und die Umstände seiner Entstehung. In fünf Teilen werden verschiedene Aspekte des Heiligenkults behandelt. Der erste Teil „The cult of saints in Peter Brown“ ist mit Essays von A. Cameron (27–43) und P. Rousseau (45–59) von eher grundsätzlicher Natur und setzt sich mit P.B.’s Beitrag zur Erforschung des Heiligenkults auseinander. Der zweite und dritte Teil sind der Entwicklung des Heiligenkults im östlichen und westlichen Christentum gewidmet mit Aufsätzen von C. Rapp (63–81) und P. Magdalino (83–112) auf jener und von P. A. Hayward (115–142), P. Fouracre (143–165) und I. N. Wood (167–183) auf dieser Seite. Im vierten Teil wird der Gegenstand von P. A. Hollingsworth (187–213) und R. M. Price (215–238) an der orthodoxen Kirche des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rußlands behandelt und im fünften von Ch. Robinson (241–262) und J. W. Meri (263–286) für die Welt des Islams. Der Band schließt mit biographischen Übersichten zu den Autoren und einem Sach- und Personenindex (291–298).

 

Nach einführenden Bemerkungen zur Entwicklung von P.B. als Forscher und als Lehrer kommt J. Howard-Johnston (H.-J.) zu dem wegweisenden und daher als Brennpunkt des Sammelbandes gewählten Artikel von 1971. Es ist das Anliegen der Beiträger, nicht nur die wissenschaftliche Bedeutung dieses Artikels zu würdigen, sondern auch seine methodische und wissenschafts­theoretische Grundlage zu bestimmen und daraus praktische Konsequenzen für das weitere Fortschreiten der Forschung zu ziehen. Dabei gibt es freilich einen wesentlichen Unterschied: für P.B. stand der heilige Mann (holy man) im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses, in den Beiträgen des Sammelbandes der Kult der Heiligen (cult of the saints 5), beziehungsweise der Prozess des Übergangs vom einen zum andern. „It is the processes involved in the transformation of a selected minority of holy men and women and of some more worldly leaders into saints which preoccupy most of the contributors.“ (6) Dabei konzentriert sich die Aufmerksamkeit vor allem auf drei in diesen Transformationsprozessen wirksame Faktoren: die Entstehung hagiographischer Texte (I), ihre Rolle bei der Verbreitung des Kults (II) und die gesellschaftlichen Kräfte (III), welche von seiner Verbreitung profitierten (6, 15). Nach einer Vorstellung der Beiträge (7–14) befaßt sich  H.-J. eingehender mit  der Entstehung hagiographischer Texte: sie seien zwar von literarischen Konventionen und den jeweiligen Ansichten und Interessen ihrer Verfasser bzw. Auftraggeber stark geprägt (15–16), aber die Prägung gehe, wie jüngere Untersuchungen zeigten (16–19), nicht so weit, daß ein radikaler methodischer Zweifel an der historischen Zuverlässigkeit der Heiligenviten angebracht und damit ihre Erforschung für Historiker unergiebig geworden sei; vielmehr könne man auf dem von P.B. gewiesenen Weg, wenn man nur die nötige Vorsicht walten lasse, weiter fortschreiten (19, 20). Die von P.B. aufgestellten Thesen seien freilich angesichts der großen Vielfalt asketischer Praktiken in ver­schiedenen Regionen (und Zeiten) wie Byzanz oder Rußland im Mittelalter erheblich modifiziert worden oder noch zu modifizieren (20–23).

 

Die Einführung schließt mit einem „Postscript“, in dem der Herausgeber auf ein paralleles Unternehmen hinweist: Im März 1997 sei in Berkeley eine viertägige Konferenz veranstaltet worden, die insofern dasselbe Ziel wie das Oxforder Seminar verfolgt habe, als sie gleichermaßen P.B.’s Artikel „Holy Man“ gewidmet gewesen sei. Die dabei gehaltenen acht Vorträge seien 1998 im sechsten Band des Journal of Early Christian Studies erschienen.[1]

 

A. Cameron (A.C.) zeichnet die Entstehungsumstände (27–28) und das ‚Nachleben‘ von „The Rise and Function of the Holy Man“ nach und stellt fest, daß P.B. damit zwar ein funktionales Modell für das Verständnis des sozial­historischen Phänomens bereitstellte (34), aber seine Untersuchung aufgrund zu großen Vertrauens auf die Quellen insofern nicht tief genug gründete, als er nicht erforschte, wie ein heiliger Mann in den Quellen konstruiert wurde (34), und sich auch nicht Rechenschaft darüber gab, in welchem Verhältnis heilige Männer und Asketismus grundsätzlich zueinander stehen. Klärungsbedarf sieht sie vor allem bei der nicht hinreichend erkannten Natur des Asketismus selbst (I), der Mimesis dieses Modells (II) und dem Bezug der Heiligenviten zur Gattung der spätantiken Biographie im allgemeinen (III). (I) Es sei zwar richtig, daß der christliche Asketismus eine heidnische Wurzel im spätantiken Platonismus und seiner Auffasung von Geist und Körpern habe, mit anderen Worten: in dem Phänomen der Hellenisierung christlichen Denkens. Aber asketische Anstrengung sei ein in allen Kulturen verbreitetes Phänomen und die eigentliche Frage daher, warum sich gerade Christen diese Haltung in solchem Maße zu eigen machten, und diese Frage sei zum Beispiel aus der kontextuellen Situierung von philosophischer und manicheischer Askese zu erklären (36). Während P.B. noch von dem traditionellen, vor allem von den Forschungen der Bollandisten geprägten Zugang zur Hagiographie ausging (36–37), stellten heutige Forscher unter dem Einfluß des Dekonstruktivismus mit narratologischen und literarkritischen Methoden eine solche Art des Zugangs in Frage (37). (III) Wie aus den Philosophenviten der Zweiten Sophistik erfahren wir aus den häufig enkomiastischen Heiligenviten wenig über das Privatleben der fraglichen Personen (38–39). (II) Das gelte insbesondere für die noch nicht hinreichend erforschten Viten heiliger Frauen, die sich aufgrund ihres modellhaften Charakters dem historischen Zugriff stärker entzögen als die heiliger Männer (40–41). Daher sei man inzwischen von einem sozio-anthropologischen zu einen struktural-literarischen Ansatz übergegangen (41). Das bedeute, daß die von P.B. und R. A. Markus angeführten Kennzeichen der spätantiken Christianisierung nicht aussagekräftig seien (42). Tasächlich sei die byzantinische Gesellschaft weit offener gewesen, als sie es nach ihrer Theorie sein dürfte. Man erkenne das an den dort eingesetzten rhetorischen Strategien, und es sei eben diese Diskursanalyse,[2] die man (d.i. A.C.) im Werk von P.B. am meisten vermisse (42–43). P. Rousseau beabsichtigt nicht, P.B’.s Thesen im Detail zu kritisieren, sondern sucht eine grundsätzliche Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen. Auf terminologischer Ebene entdeckt er Unschärfen in den Universalbegriffen „patronage“ (in dem weder die enthaltenen Unterschiede noch die Verbindungen ausgedrückt seien, 45–46), „holy man“ (was in den verschiedenen Regionen des Imperium Romanum durchaus etwas Verschiedenes bedeutet habe, 46) sowie „function“ (das ein nicht nur aus anthropologischer Sicht problematisches Wort sei, 47). Die terminologische Kritik führt zunächst zu der Schlußfolgerung, daß die historische Verknüpfung der von P.B. gewählten Beschreibungsmodelle unsicher sei, da sie womöglich ein Korrelat in den Texten, aber vielleicht nicht in der Wirklichkeit hätten (50): „Scepticism of some sort is unavoidable. Any judgement on the ‘function’ of the holy man must take into account the function of the texts. Successful analysis depends on assessing the role configured, not just within the anecdote, but by the very nature of the text itself.“ (51) Ins Prinzipielle gewendet führt dieser Gedanke in die Aporie, daß wir nicht wissen (51), „how to fit the holy man as described by the texts into the religious world of late antiquity as conceivable on other evidence.“Einen Ausweg scheint allerdings die Erkenntnis zu ermöglichen, daß Hagiographie das Unternehmen einer literarisch gebildeten gesellschaftlichen Elite gewesen und „Funktion“ damit primär als Funktion dieser literarischen Gattung zu fassen sei (52). Auch habe die Debatte um die Begriffe von „Führung“ und „Autorität“ gekreist, und beide seien am besten im Verhältnis von Lehrern und Schülern faßbar (54). Viele der von P.B. beschriebenen Asketen seien nun im weitesten Sinne Lehrer (in den sich um sie versammelnden spirituellen Zirkeln) gewesen, und die Erziehung (zur Askese und einem christlichen Leben) sei ihre durchaus mit paganen Traditionen vereinbare primäre soziale Rolle und Funktion in der Gesellschaft gewesen (55). P.B. habe solchen Fragen von Milieu und Sozialisierung zu wenig Beachtung geschenkt (55), doch liege gerade hier die zukünftige Aufgabe (59): „The agenda for scholars now, as for Christians then, is to distinguish adequately between the episcopal programme of homily and sacrament (worauf P.B. den Akzent gesetzt hätte) and the ascetic programme of wisdom, dialogue, and moral effort.“

 

In ihrem Artikel „‘For next to God, you are my salvation’: reflections on the rise of the holy man in late antiquity“ will C. Rapp (C.R.) das Wirken heiliger  Männer jenseits ihrer Viten in seiner lebensweltlichen Verankerung  erfassen (63,67). Daher untersucht sie die Briefkorrespondenz spiritueller Zirkel, die sich um heilige Männer gebildet hatten, um die darin bewahrten Reste bzw. Reflexe von Dialogen zwischen dem geistlichen Vater und den Angehörigen seiner „Familie“ zu ermitteln (66). In Papyrusbriefen aus dem Ägypten des vierten und sechsten Jahrhunderts (67–79) erscheint die Interzession, d.h. im Kern: das vermittelnde Eintreten im Gebet vor Gott, als wesentliche Aufgabe heiliger Männer im Umgang mit ihren Briefkorrespondenten (69,71,72,74) und folglich, so C.R., auch in der mündlichen Kommunikation beim Umgang mit den ihnen in inneren und äußeren Zirkeln anvertrauten Menschen. Damit gehe, bekannt­lich, im vierten und fünften Jahrhundert das rasche Wachstum der Briefliteratur, welche (als Dialog abwesender Freunde) die persönliche Begegnung  nach­empfinde, gerade auch im Kontext der Heiligenviten hervor (79–80): als Anhänger der Heiligen und Gewährsmänner ihres Publikums hätten Brief­schreiber auf dieser nachgeordneten Ebene die (Doppel-)Rolle von Vermittlern zwischen heiligen Männern und ihrer spirituellen (Zweit-)„Familie“ der sie bewundernden Mit- und Nachwelt übernommen (81). Im Gegensatz dazu konzentriert sich P. Magdalino in seinem Artikel „‘What we heard in the Lives of the saints we have seen with our own eyes’: the holy man as literary text in tenth-century Constantinople“ auf fiktionale Heiligenleben. Die im Byzanz des 10. Jahrhunderts entstandenen Viten von Andreas dem Narr und Basilius dem Jüngeren (87) stellen die Realität ihrer fiktiven Lebens- bzw. wirklichen Entstehungszeit (89) zwar in Brechungen dar, sind für Historiker aber dennoch als Medium indirekter religiöser Ermahnung und politischer Kritik von Bedeutung (110).

 

In „Demystifying the role of sanctity in Western Christendom“ sucht P. A. Hayward den wissenschaftstheoretischen Standpunkt P.B’s zu bestimmen, indem er dessen Arbeiten wissenschaftsgeschichtlich einordnet. Während E. Gibbon den Heiligenkult, da er die Abkehr vom strengen Mono­theismus bedeute (116), als spätantike Dekadenzerscheinung betrachtet habe, sei er von P.B. unter Verwendung sozialanthropologischer Kategorien seiner Schülerin M. Douglas als fortschrittliches Glaubenssystem verstanden worden, das nicht nur dem Individuum Trost und Hilfe bot, sondern auch als innovative symbolische Ordnung die veränderten sozialen Strukturen spiegelte und insofern die Macht der gesellschaftlichen Elite legitimierte (116–118, 120–123). Diese Brownsche Sicht der Dinge sei jedoch zu modifizieren: Heiligenviten spiegelten nicht einfach die Verhältnisse einer homogenen Gesellschaft im gallischen Westen (127), sondern seien Propagandainstrumente in den religiösen (und politischen) Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Personen und gesellschaftlichen Gruppen (127). P.B.’s Kronzeuge Gregor von Tours zum Beispiel unterdrücke dadurch, daß er den Reliquienkult favorisiere, andere Formen der Heiligkeit (124–125). Der lombardische Stylit Wulfelaic sei in der Nähe Triers von seiner Säule geholt, und diese von den örtlichen Bischöfen zerstört worden (126–127). Auch sei es kein Zufall, daß Heiligenverehrung oft von aristokratischen Häusern ihren Ausgang genommen habe (127). Die Beziehun­gen zwischen den gesellschaftlichen Eliten, welche den grabzentrierten Kult förderten, und ihren Anhängern dürften insgesamt komplexer gewesen sein, als Gibbon oder Brown gemeint hätten (130). Insbesondere seien intellektuelle Anstrengungen zu beobachten, das christliche Glaubenssystem mit den gesellschaftlichen Realitäten zu versöhnen (132). Das erkenne man daran, daß die auf Befehl des Herodes in Bethlehem getöteten Kleinkinder allmählich zu „Märtyrern“ geworden seien (132–135 Unschuldige Kinder [28.12.]). Wie es sich nach Beda Venerabilis schon während der großen Christenverfolgung zugetragen habe (137), habe man, als der Erzbischof von York Wilfried im Jahre 709 starb, den Verlust des bedeutenden Kirchenführers in einer Krisensituation durch seine Verehrung als himmlischer Patron auszugleichen versucht (135–137). Am Ende steht ein ambivalentes Ergebnis: Das Brownsche Erklärungsmodell bedeute gewiß eine erheblichen wissenschaftlichen Fortschritt (140): „Brown’s pioneering attempt to provide a comprehensive explanation was an important breakthrough, above all for its perception that one of the cult’s primary functions was to legitimize the power of élites by manifesting evidence of divine approval for the persons and institutions through whom and for whom miracles were performed.“ Doch sei es problematisch, den Kult ausschließlich als Instrument zur Befreiung von Ängsten und zur Verbesserung der gesellschaft­lichen Verhältnisse darzustellen. Die ihm innewohnende Rationalität habe mit Trost und Selbstvergewisserung nicht nur helle, sondern in Gestalt eigennütziger Kontrolle einer gesellschaftlichen Klientel auch dunkle Seiten (141–142).

 

In „The origins of the Carolingian attempt to regulate the cult of the saints“ geht P. Fouracre davon aus, daß das von P.B. entworfene Kontrastbild einer unterschiedlichen Entwicklung des Heiligen im östlichen und westlichen Christentum  sowohl in einzelnen Punkten als auch im Ganzen der Revision bedürfe. Im einzelnen, da der von P.B. als Kronzeuge bemühte Gregor von Tours kein guter Gewährsmann für die These sei, daß der Reliquienkult zur sozialen und politischen Kontrolle der gallischen Bevölkerung genutzt worden sei (146–147). Nach Untersuchungen Van Dams stelle es sich vielmehr so dar, daß der Bischof von Tours eher machtlos gewesen sei und mit Hilfe des Martinskultes um sein kirchenpolitisches Überleben kämpfte. Ingesamt betrachtet aber habe P.B. aufgrund einseitig-punktueller Orientierung am Werk  Gregors von Tours ein zu statisches Bild entworfen. Tasächlich habe sich im Westen eine dynamische Entwicklung des Heiligenkults in drei Stufen vollzogen: (I) Im gallorömischen Raum des 6. Jahrhunderts versuchte der fränkische Adel in Gestalt der Bischöfe den Reliquienkult zum Zweck politischen Machterhalts zu kontrollieren. (II) Unter den Merowingern vollzog sich eine Angleichung zwischen Ost und West, insofern während ihrer Herrschaft nach überkommenen Mustern führende Aristokraten als lebende Heilige zu (politischen) Märtyrern geworden seien (154; 156 „Conflict also had the effect of refreshing established models of sanctity with contemporary examples. In particular, the seventh century saw a reinvention of martyrdom, with five, possibly six, martyrs being created in the later Merovingian period.“). (III) Als die Merowinger 687 von den Karolingern  überwältigt worden waren, stützten sich die neuen Machthaber bei der Kontrolle ihres unterlegenen Gegners ebenfalls auf die Religion: brachten Bistümer unter ihren Einfluß, knüpften Verbindungen nach Rom und machten vor allem einen Neuanfang im Heiligenkult. Mit den Sachsenkriegen beginnt die missionarische Aktivität der Karolinger. Sie lag in der Hand von Außenseitern, die aus dem angelsächsichen Raum kamen, und vollzog sich abseits der traditionellen Zentren der Heiligkeit (164–165): „The development of Carolingian modes of sanctity was not simply the result of a long-term transfer of power from Peter Brown’s canny bishops of the sixth century to the theocratically inclined Frankish aristocrats in Charlemagne’s following. The intervening period, the seventh and early eighth centuries, was formative in that it was then that sanctity really came to terms with political power through the medium of active saints who were involved in struggles for the control of the Neustro-Burgundian regime.“

 

Auch I. N. Wood untersucht Einflüsse, die bei der Entstehung hagiographischer Texte in der westlichen Welt wirksam werden, beschränkt seine Untersuchung aber auf Viten von Heiligen, die in der Zeit von Bonifatius in der Mitte des achten Jahrhunderts bis zu Bruno von Querfurt um das Jahr 1000 an den nördlichen und östlichen Rändern des fränkischen Reiches missionierten[3] (168). Die Viten bilden eine kohärente Folge von Erzählungen (167–168), aus der sich freilich weniger eine Geschichte der Heidenmission rekonstruieren als wegen des sogenannten narrativen Aufschubs („delayed narrative“ 182), d.h. des zeitlichen Abstands zwischen dem gelebten Leben und seiner literarischen Aufzeichnung, eine Geschichte des Missions­gedankens nachzeichnen läßt (168–182). Die Vitenschreiber fassen den Missions­gedanken nach ihrer jeweiligen Interessenlage in verschiedener Weise, wobei familiäre Rücksichten (172), Rechtsansprüche von Bischofssitzen (172) und Kirchen­provinzen (174–175), politische Ansichten dazu, wie Heiden­mission, gewaltlos, zu betreiben sei (171) und persönliche Anliegen (172) eine Rolle spielen können. Die auto­biographische Färbung kann so weit gehen („displaced autobiography“ 183), daß die Viten Konfessionscharakter haben, der Rück­schlüsse auf die missionarischen Ziele, die Beweggründe und Befürchtungen ihrer Verfasser erlaubt (178). Zwar gab es in Heiligenleben seit dem vierten Jahrhundert missionarische Episoden (zum Beispiel die bedeutenden Kapitel 12–15 in der Martinsvita des Sulpicius Severus), missionarische Hagiographie im vollen Sinne entsteht aber erst um 750 in der Alcuinsvita des Willibrord (181) wohl unter dem Einfluß der in weiten Teilen als Missionsgeschichte konzipierten Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis (181) und bleibt aufgrund das literarischen Modells (182) auch später angelsächsisch geprägt.

 

Die folgenden Essays haben ihren Schwerpunkt zwar außerhalb des mediterranen Raums und nach der Zeit von Spätantike und Frühmittelalter, aber durch vielerlei Berührungspunkte und Parallelen doch Bedeutung für den an Rezeptionserscheinungen interessierten Altertumswissenschaftler. In „Holy men and the transformation of political  space in medieval Rus“ beschreibt P. A. Hollingsworth, wie sich die von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte politische Kultur Rußlands nach der Einführung des Christentums allmählich änderte (187-189). Als Volodimer I. von Kiev (980–1015) im Jahre 988 in Cherson den Schrein des heidnischen Gotts Perun zerstören und eine Kirche des Hl. Basilius errichten ließ, erhielt der neu formierte christliche Klerus eine Schlüsselrolle in der russischen Gesellschaft, zu der neben der Kontrolle des sakralen Raums (192–193) und der Christianisierung der russischen Gesellschaft (194–197) vor allem die Ausbildung von politischer Identität und Gemeinschafts­sinn gehörten (193–194). Zur Schaffung des innenpolitischen Ausgleichs dienten nicht nur öffentliche Rituale wie das Küssen des Kreuzes als bindender Ausdruck politischer Versöhnung (200), sondern vor allem auch der Kult der beiden ersten indigenen „Märtyrer“: Die Prinzen Boris von Morum und Gleb von Rostov waren als potentielle Kronprätendenten von ihrem weniger friedfertigen Halbbruder Sviatopolk gewaltsam getötet worden und konnten daher als Opfer brutaler Machtpolitik in späterer Zeit das christliche Herrscherideal inner­familiärer Versöhnung und politischen Ausgleichs verkörpern (202–204). Ob sich ihre kultische Verehrung selbständig „von unten“ durchsetzte  (203, 207) oder „von oben“ eingeführt wurde (207–208), ist ungeklärt und ihr Kult, der sich enorm entfaltete (209–210), bislang nicht nach Browns Methode untersucht worden  (206).

 

R. M. Price gibt einen historischen Überblick über Missionsdarstellungen, in dem mit Angriffen auf Wohnstätten von Dämonen und  Auseinandersetzungen mit übermächtigen Gegnern heikle Situationen aus dem Leben von Aposteln und späteren Heiligen im Mittelpunkt stehen (215–225), und ordnet die 1396 von Epiphanius dem Weisen verfaßte Vita des Stephan von Perm in diese Tradition ein. Der 1574 kanonisierte Heilige missionierte finnisch-ugrische Stämme im Ural (226). Übereinstimmungen mit klassischen Mustern sind trotzdem nicht von der  Hand zu weisen (235–236). Ob es sich um literarische (226–227, 230–231) oder „gelebte“ (235–236) Imitation der spätantiken und mittelalterlichen Texte handelt, ist im Einzelfall wohl schwer entscheidbar.

 

Nach einem Hiat von mehr als zweihundert Jahren werden Heilige auch im Islam verehrt. Denn daß es sich bei Mohammed um eine Erscheinung sui generis handelte, macht Ch. Robinson in „Prophecy and holy men in early Islam“ deutlich (242). Weit davon entfernt, nach Art heiliger Männer für Stabilität in der spätantiken Gesellschaft zu sorgen, habe er die arabische Welt vielmehr selbst destabilisiert: „Muhammad was certainly an exemplar and a hinge man, but one of a very different sort: whereas Brown’s holy men served to keep late Roman society in balance, Muhammad threw his into massive imbalance, creating a religious vortex into which the backward Arab pagans of Arabia and the Fertile Crescent tumbled, and out of which emerged Muslim Caliphs and armies who would rule much of the civilized world“ (248–249). Während sich der Prophet vor allem auf die Offenbarung und den heiligen Krieg als Beweis wahren Glaubens gestützt habe (249, 250–251, 252–256), seien diese elementaren Triebkräfte der neuen Religion erst unter den Kalifen, durch Unterordnung des jihad unter die allgemeinen Erfordernisse des Staates, kontrolliert und der Glaube selbst in der sunna systematisiert worden (260). Daher seien erst in der Zeit des klassischen Islam Heilige aus dem frühen Sufismus hervorgegangen (260–261).

 

Gegenstand der Ausführungen von J. W. Meri ist die Entwicklung und insbesondere die konkrete Praxis des Heiligenkults vom neunten bis zum sechszehnten Jahrhundert. Trotz fehlender kirchlicher Hierarchie sei die Heiligenverehrung nicht nur in Nord-Afrika und Ägypten, sondern in den meisten Teilen der islamischen Welt, nicht zuletzt in Palästina, Syrien, Irak und Persien weit verbreitet gewesen, so daß man statt von einer Rezeptions­erscheinung von einem die jüdische, christliche und islamische Welt über­spannenden und damit auch in der Entwicklung teilweise unabhängigen Phänomen auszugehen habe. Im Laufe des neunten Jahrhunderts seien einige Sufi-Mystiker zu Heiligen  geworden und zusammen mit den alttestamentlichen Propheten (268) und den Mitgliedern der Familie Mohammeds (266) verehrt worden. Im elften Jahrhundert habe sich die Heiligenverehrung in Form des Grabkults in der gesamten islamischen Welt verbreitet (271–273) und damit traditionelle Theologen auf den Plan gerufen (273–279), die durch das Pilgerwesen (ziyara unterschieden von der hajj, d.i. der obligatorischen Pilgerfahrt nach Mekka) die Einheit Gottes und die islamische Orthodoxie bedroht sahen (263, 275) und bestimmte Formen des Grabkults daher als häretisch einstuften (279). Unter Hinweis darauf, daß der Prophet selbst das Grab seiner Mutter besucht habe (280), versuchten andere dagegen bestimmte Formen der ziyara zu verteidigen. Durch Definition legitimer Kultpraktiken habe man zu einem Kompromiß gefunden, von dem zahlreiche Handbücher für Pilger und Texte über das richtige Benehmen an Heiligengräbern zeugten (280–286), für die es im christlichen Mittelalter kein Gegenstück gebe (280).

 

Die Festschrift zu Ehren von Peter Brown ist durch ihre interdisziplinäre  Anlage und ihre informativen Beiträge für Altertumswissenschaftler nicht zuletzt deswegen ein nützliches Arbeitsinstrument, weil mit dem Raum des Mittelmeers und der Zeit von Spätantike und Frühmittelalter gewohnte Bereiche verlassen und neue Horizonte eröffnet werden. Die Autoren suchen  von ihrem Lehrer, der ihnen Wege gewiesen hatte, auszugehen, und sich zugleich von ihm zu lösen, um eigene Wege zu beschreiten. Sie historisieren das Werk des „Vorgängers“ und unterliegen dabei seinem Einfluß. In derselben Weise, wie Peter Brown das von ihm entwickelte Modell mehrfach modifiziert und statt von „holy man“ mit neuer Akzentuierung von „exemplar“[4] und „arbiter of the holy“[5] gesprochen hatte, versuchen sie das mit der Unterscheidung von „saint“ und „holy man“ unverkennbar angelsächsische Paradigma auf verschiedene Weise zu verändern: z.B. durch interne Verschiebung auf andere Quellen abzusichern oder durch Annäherung an andere Gruppen und Institutionen wie Lehrer und Schulen auszudehnen. Doch erneuern sie das bewährte Konzept nur, während sie es vermeintlich historisieren, statt entweder ein wirklich neues Paradigma zu entwickeln oder, weil das schwerer sein dürfte, als es zu sein scheint, darüber nachzudenken, ob nicht Begriffe mit größerer Extension als „holy man“ existieren, die dasselbe leisten können und in der Hinsicht vielleicht noch mehr, daß sie (wie zum Beispiel der Leitbildbegriff) erlauben auch jede Art von Heroen und außergewöhnlichen Menschen, heidnische Philosophen, kaiserliche und sonstige Machthaber, die ein heiligmäßiges Leben geführt haben oder als Heilige apostrophiert worden sind, sowie bildkünstlerische und literarische Darstellungen herausragender Individuen zu erfassen, ohne ihre Anwender in die in diesem Band dokumentierten begrifflichen Anstrengungen und  Widersprüche zu verwickeln – obschon es wohl gerade auch die dem Brownschen Modell inhärenten produktiven Widersprüche sind und waren, denen wir die vorliegende(n) Festschrift(en) verdanken.

 

Meinolf Vielberg, Friedrich-Schiller-Universität Jena

 



[1] Journal of Early Christian Studies 6, 343–539 mit einer Introduction von Susanna Elm (343–351) und dem wissenschaftsgeschichtlich aufschlußreichen Essay „The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity 1971–1997 von Peter Brown (353–376).

[2] Diese Herangehensweise ist freilich keine Erfindung der Postmoderne, sondern ein seit langem etablierter, aber offenbar in Vergessenheit geratener Zweig hagiographischer Forschungen, wie sie im Umkreis des Berliner Akademie und der Arbeitsstelle Griechischer Christlicher Schriftsteller etwa schon von Karl Holl durchgeführt worden sind. Vgl.: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens, Neue Jahrbücher 15, 1912, 406–427.

[3] Mission wird nicht verstanden als Evangelisierung einer vorgeblich christlichen Welt, sondern jenseits der Grenzen der Reiche der Merowinger, Karolinger oder Ottonen.

[4] P. Brown: The Saint as Exemplar in late Antiquity: Representations 2, 1983, 1–25.

[5] P. Brown: Authority and the Sacred. Aspects of the Christianisation of the Roman World, Cambridge 1995
(= The Tanner Lectures 1993), 55–78, wobei die Begriffe „holy man“ (z.B. 62 et passim) und „holy person“
 (z.B. 72 et passim) weiterhin gebraucht werden. Zu diesen Veränderungen auch S. Elm, 1998, 345; P.Brown, 1998, 368.