David Amherdt: Sidoine Apollinaire. Le quatrième livre de la correspondance. Introduction et commentaire. Bern. u.a.: Peter Lang 2001 (Sapheneia. Beiträge zur Klassischen Philologie, 6). 592 S. DM 118,-- ISBN 3-906766-82-9.

 

Die philologisch-historische Forschung zu Sidonius Apollinaris, einem der bedeutendsten Vertreter des spätantiken gallo-römischen Adels, hat in den letzten Jahren besonders förderliche Arbeiten geliefert. 1994 erschien die Monographie von Jill Harries: Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome, 1995 veröffentlichte Helga Köhler einen Kommentar zum ersten Buch der Briefe (vgl. J. Gruber, Gymnasium 105, 1998, 158f.). Dazu tritt jetzt als gewichtiger Beitrag der Kommentar zum 4. Buch der Briefe, zuerst 1999 als Dissertation an der Universität Fribourg vorgelegt.

Die Wahl fiel auf dieses Buch der Korrespondenz, das umfang- und inhaltsreichste, da es Briefe vor und nach dem Antritt des Bischofsamtes enthält und somit einen Vergleich zwischen den beiden Schaffensperioden des Sidonius erlaubt. Ziel des Kommentars ist sowohl die Erläuterung historischer und soziokultureller Probleme als auch die im engeren Sinne sprachliche und literaturgeschichtliche Erklärung.

Die Einleitung gliedert sich in drei Abschnitte: Der erste ist der Person des Sidonius gewidmet, der zweite der Literaturgattung „Brief“, der dritte analysiert Sprache und Stil. Dabei skizziert der biographische Abschnitt zunächst die äußeren Daten seiner mit der politischen und kirchlichen Geschichte des spätantiken Gallien eng verknüpften Vita (deren Hauptquelle sein Werk selbst darstellt), würdigt ihn ferner als gallo-römischen Aristokraten und Verteidiger lateinischer Sprache und Kultur sowie als Mann der Kirche (der aber keine theologischen Schriften verfaßt hat) und als Bischof von Clermont und gibt eine knappen Überblick über sein Gesamtwerk. Die Briefe selbst, mit allen Charakteristika von Kunstbriefen, aber ohne Zweifel an die Adressaten verschickt, sind für die Publikation ausgewählt und überarbeitet; in Sprache und Satzbau ist Symmachus, im literarischen Genus Plinius Vorbild (S. 24 zu epist. 1,1,1; dazu die Erläuterungen von Köhler), ein Modellcharakter der Ambrosius-Briefe wird (gegen Zelzer) abgelehnt (26). Publiziert sind die Bücher 1B7 der Briefe im Jahre 477, das achte Buch 479 und das neunte, mit dem die Zahl der Plinius-Bücher erreicht wird, 482 (28). Die Briefe selbst sind in dem Zeitraum zwischen 455 und 482 entstanden, wobei sich Amherdt im allgemeinen der Datierung von Loyen anschließt. Die Anordnung der Briefe folgt jedoch nicht streng der Chronologie, sondern dem Prinzip der variatio; die Briefe des vierten Buches sind zwischen 465 und 477 vefaßt (29f.). Weitere Themen des Abschnitts über die Gattung des Briefes sind ein Überblick über die Empfänger und die Überbringer, eine knappe Darstellunge der Struktur, die Themen und Absichten und schließlich die Konventionen des Briefstils. Das leitet über zum dritten Abschnittt über die Sprache (Manierismus, Vokabular, Stilistik, Satzrhythmus, Imitation und Tradition, Bemerkungen über die eingefügten Gedichte sowie zum Einfluß des Sidonius, besonders auf Ennodius, Avitus und Venantius Fortunatus).

Auf dieser Basis werden die 25 Briefe kommentiert. Textgrundlage ist die Ausgabe von A. Loyen (Collection des Universités de France, 1970). Mit dem Verweis darauf bleiben Informationen zur Überlieferung und Textgeschichte, wie sie Köhler 25ff. gegeben hat, ausgeklammert. Jeder Briefkommentar wird eingeleitet mit einer prosopographischen Notiz zum Empfänger, mit einer Diskussion der Datierung und mit allgemeinen Bemerkungen zu Inhalt, Struktur, Thematik und literarischen Motiven (Généralités). Darauf folgt die ausführliche Einzelkommentierung.

Schon der Einleitungsbrief thematisiert ein Grundanliegen der Korrespondenz, die Freundschaft, die in diesem Fall noch durch die verwandtschaftlichen Beziehungen verstärkt wird, mehr aber noch durch die gemeinsamen Bildungsinteressen (idem sentimus culpamus laudamus in litteris et aeque nobis qualibet dictio placet improbaturque), deren Kehrseite die Verachtung jeglichen Barbarentums ist. Sorgfältig von Lemma zu Lemma schreitend schließt Amherdt Sprache und Inhalt des Textes auf, wobei besonders die Querverweise innerhalb des sidonischen Werkes für die weitere Forschung hilfreich sein werden. So wird etwa zu der Wendung 4,1,2 sub ope Christi wesentlich mehr Material geboten als Köhler zu 1,6,1 Christo propitiante bereitgestellt hat. Wichtig sind die Ausblicke in das sozio-kulturelle und zeit­geschichtlich-politische Umfeld, denen natürlich in einem Kommentar gewisse Grenzen gezogen sind.

 

So werden anläßlich der Erwähnung des Lehrers Eusebius (4,1,3), der nur aus dieser Stelle bekannt ist (intra Eusebianos lares), Fragen des spätantiken Schulwesens in Gallien (Bestehen öffentlicher Schulen) diskutiert. Allerdings würde man gerne mehr darüber erfahren, auf welche Weise die mit der Formulierung inter Aristotelis categorias artifex dialecticus atticissabas angedeuteten Studien der Aristotelischen Logik vermittelt wurden (Griechisch­kenntnisse [man vergleiche die Ausführungen über Menander zu Brief 12 S. 307]? Übersetzungen?), oder ob damit nur elementare Kenntnisse innerhalb des Triviums (Dialetik) gemeint sind, die sich mit dem großen Namen schmücken. Der kleine Katalog der ungebildeten Barbaren (1,4) wird von Amherdt (S. 84) als `purement littéraireA gewertet, was für die Sygambrer und die Gelonen zutreffen mag, nicht jedoch für die Alanen, wie die angeführten Daten zeigen, aus denen für diesen Stamm die unmittelbare Beteiligung an den Zügen des frühen 5. Jahrhunderts hervorgeht, nicht jedoch ihre längere Anwesenheit in Gallien. Denn sie bekämpften die Bagauden, wurden 452 an den Ufern der Loire von den Westgoten besiegt und kämpften an der Seite der Burgunden, Westgoten und Römer unter Aetius gegen die Hunnen Attilas (Michel Rouche: L’Aquitaine des Wisigoths aux Arabes 418–781. Paris 1979,  548 Anm. 147 mit den Quellenangaben). Sidonius mischt offensichtlich literarische Topoi mit ganz konkreten zeitgenössischen Fakten. – Im übrigen ist der einzige Verweis zur Alanen-Literatur, der RE-Artikel von 1893, mehr als unzureichend; vgl. die Angaben bei Gerhard Wirth, Lexikon des Mittelalters I, 266f.

 

Von besonderer Bedeutung ist der 2. Brief, dessen Verfasser Claudianus Mamertus durch seine dem Sidonius gewidmete Schrift De statu animae bekannt ist, mit der er in die zeitgenössische Diskusssion um das Wesen der Seele eingreift (vgl. demnächst J. Gruber, HLL § 767). Es ist das einzige Stück der Sammlung, das nicht von Sidonius selbst stammt. Es wird im 3. Brief beantwortet mit einem Lob des Verfassers und des Werkes, dessen Inhalt allerdings von Sidonius  unberücksichtigt bleibt. Somit kann sich auch der Kommentator ganz auf die sprachliche Seite konzentrieren; er ordnet den Brief in die Gruppe, die dem literarischen Urteil über ein Werk gewidmet sind (111). Der 11. Brief, in dem das Epitaph für Claudianus mitgeteilt wird, rundet das Bild dieses Vertreters der christlichen gallischen Bildungsschicht ab.

Die Briefe 4 und 5 deuten vage die politischen Zeitumstände an, ebenso 6,2. Auf sie hätte im Kommentar etwas ausführlicher, die S. 167 und S. 185f. zitierte Literatur referierend, eingegangen werden sollen, gegebenenfalls in einem historischen Exkurs.

Da der 7. Brief keinerlei Bemerkungen über die christliche Religion enthält, datiert ihn Amherdt vor die Bischofszeit, muß aber einräumen, daß auch aus der Zeit des Episkopats Briefe existieren, die dieses Thema ausklammern. Ein weiteres Indiz sei das Schweigen über die politischen Zustände, die demnach, vor 469 und damit vor der westgotischen Eroberung der Auvergne, als befriedigend angesehen würden, außerdem auch vor 468, als Sidonius Stadtpräfekt von Rom war (209; die Präfektur wird ganz knapp S. 13 notiert). Im übrigen wirft des Brief ein bezeichnendes Licht auf den aus aristokratischer Sicht gravierenden Unterschied zwischen urbanus (man vergleiche auch die urbane Haltung im 10. Brief) und rusticus. Weiterführende und zusammenfassende Überlegungen zur spätantiken Gesellschaft (auf der Basis der S. 15 Anm. 17 genannten Arbeiten von Krause und Näf) unter diesem Gesichtspunkt, etwa in Form eines Exkurses, wären erwünscht, wozu sich gerade auch der folgende Brief anbietet oder die Schilderung des Vectius in 9. Brief und die des Maximus im 24. Die Schilderung der idealen Physiognomie des Germanicus als eines jugendlichen Greises (13,1f.) könnte in den größeren Kontext spätantiker Idealgestalten eingeordnet werden, der weiterführt zu der spätantiken Vorstellung des alten, aber doch immer wieder neuen Imperiums (dazu O. Seel, Weltdichtung Roms, Berlin 1965, 89). Alt-jung ist also nicht nur auf das menschliche Individuum beschränkt (vgl. die Schilderung der Roma bei  Rutil. Nam. 1,115f.; der Philosophie Boeth. cons. 1,1,1). Von besonderem Reiz ist die Schilderung der Kleidung und Bewaffnung des jungen Frankenprinzen Sigimer (Brief 20). Man wird sie sich ähnlich vorzustellen haben wie die rekonstruierte des Childerich (vgl. Kataloghandbuch „Die Franken – Wegbereiter Europas“, Mainz 1996, S. 879).

Als ein Zeugnis der im Freundeskreis geübten Gelegenheitspoesie kann Brief 8 gelten, in dem Sidonius dem nur aus diesem Brief bekannten Euodius eigene Verse übermittelt, die dieser auf eine für die Königin Ragnahild bestimmte Vase eingravieren lassen will. Damit stellt sich der Brief in die Reihe derer, die Amherdt in die Kategorie „Edition“ einordnet (ebenso 4,11 und 4,18 mit einem Gedicht für die Martinskirche in Tours; neuere Literatur zur Martinskirche bei B. Chevalier, Lexikon des Mittelalters VIII,925) und das Epigramm selbst, anknüpfend an Motive Claudians, wird zu einem Vorläufer der von Venantius Fortunatus ein Jahrhundert später geübten Hofpoesie (228). Über das eigentliche Gedicht hinaus bietet der Brief eine Fülle von Topoi und literarischen Reminiszenzen, die Amherdt umfassend erschließt; der Text wird so zu einem Modell für den Umgang des Sidonius mit der literarischen Tradition (wie etwa auch der 15. Brief in Anschluß an Plin. epist. 4,1, der 22. nach Plin. epist. 5,8, der 23. nach Plin. epist. 9,21) und wirft einen bezeichnenden Blick auf aristokratische Lebensformen, hier konkretisiert am Beispiel einer Reise.

An ein bedeutendes Mitglied der christlich-aristokratischen Gesellschaft ist der 16. Brief gerichtet: Ruricius wurde 485 Bischof von Limoges und findet sich in der Sidonius-Korrespondenz noch epist. 5,15 und 8,10. Von ihm selbst sind zwei Bücher Briefe erhalten. Dennoch bietet Brief 4,16 wenig mehr als die konventionellen Höflichkeitsfloskeln, die im 19. Brief auf das Minimum von zwei Textzeilen reduziert sind.

Politisch bedeutend ist der Empfänger des 17. Briefes, Arbogast, wahrscheinlich ein Nachkomme des gleichnamigen Magister militum Valentinians II. Er ist Comes Trevirorum, aber auch literarisch gebildet und an theologischen Fragen interessiert; später wurde er Bischof von Chartres (oder Straßburg).

Natur- und Landesbeschreibungen sind nicht selten in der spätantiken lateinischen Literatur Galliens (Beispiele S. 445). In diesen Zusammenhang gehören die ansprechenden Zeilen über die Auvergne im 21. Brief.

Das Buch schließt mit dem Bericht über die Wahl eines neuen Bischof in Cabillonum (Chalon-sur-Saône) und enthält gleichzeitig ein Lob der Bischöfe Patiens von Lyon und Euphronius von Autun wegen ihrer Auswahl des Kandidaten. Amherdt urteilt treffend: „On retrouve ici l’opposition chère à Sidoine entre les aristocrates cultivés, les urbani, et les gens du peuple, qui ne suivent que leurs sentiments, les rustici“ (508). So steht auch der letzte Brief im Kontext einer das ganze Buch bestimmenden Thematik.

Für die weitere philologische Arbeit am Werk des Sidonius Apollinaris ist der Kommentar von Amherdt, der durch eine Bibliographie sowie einen Wort-, Namen- und Stellenindex abgeschlossen wird, unverzichtbar.

 

Erlangen, Joachim Gruber

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