Claudio Moreschini (Hrsg.): Boethius, De consolatione philosophiae, Opuscula theologica.  München/Leipzig:  K. G. Saur (Bibliotheca Teubneriana), 2000.  xxii, 263 S.  ISBN 3‑598‑71119‑0.  DM 128.--

 

1871 hatte Rudolf Peiper die erste wissenschaftliche Edition der Consolatio Philosophiae und der theologischen Schriften des Boethius in der Bibliotheca Teubneriana herausgegeben. Die weitere Arbeit am Text der Consolatio war, abgesehen von Einzeluntersuchungen, bestimmt durch die Editionen von Wilhelm Weinberger (CSEL 67, 1934) mit der wichtigen Rezension von Friedrich Klingner (Gnomon 16, 1940, 26–32 = Ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Zürich/Stuttgart 1964, 688–697), Ludwig Bieler (CSEL 94,1, 1957 und 1984) und Karl Büchner (Heidelberg 1947, 1960, 1977), die Opuscula sacra erfuhren durch E. K. Rand bei Loeb eine über Peiper hinausführende Textgestaltung.

 

Gegenüber Weinberger, Bieler und Rand hat M. die handschriftliche Grundlage für seine Edition erweitert. Seine Untersuchungen sind einer eigenen, noch nicht erschienenen Publikation vorbehalten (Studi sulla tradizione manoscritta della Consolatio Philosophiae e degli Opuscula Theologica di Boezio, angekündigt S. V Anm. 2). Der Benützer der neuen Ausgabe ist daher zunächst auf die in der Praefatio gegebenen Informationen angewiesen.

 

Für die theologischen Schriften hat M. die Einteilung in vier Familien (Floriacensis, Turonensis, Dionysiana und Corbeiensis) beibehalten, die Siglen für die einzelnen Hss. jedoch teilweise geändert. Über Rand hinaus konnte M. einige schon von früheren Editoren für die Consolatio herangezogenen Hss. auch für die Opuscula auswerten, so daß die Familie der Floriacenses jetzt durch zwei weitere Hss. des 9. Jh. vertreten ist, die Turonenses wurden durch einen Neapolitanus ergänzt, die Corbeienses teilweise neu bewertet. Der Text der Opuscula ist nach der Kapiteleinteilung von Peiper und Rand gegliedert, die Zeilenzählung entspricht allerdings weder der von Peiper noch von Rand. Eine Einteilung zusätzlich nach Paragraphen wäre vermutlich bei einer Neuedition, wie sie M. für die Opuscula vorlegt, sinnvoll gewesen.Die Zeilentitel nennen nur pauschal „Opuscula theologica“, was das Auffinden einer einzelnen Schrift nicht gerade erleichtert. Konjekturvorschläge des Herausgebers sind selten. S. 201 l. 156 wurde versucht, durch zwei alternative Änderungsvorschläge die Chronologie des Auszugs aus Ägypten in Ordnung zu bringen. Rez. gibt dabei der Änderung von postea in antea den Vorzug, da die Wendung des Folgesatzes ut dictum est eher auf etwas weiter oben Genanntes verweist als auf den unmittelbar vorhergehenden Satz.

 

Ungleich komplexer stellt sich die Überlieferung der Consolatio dar, nicht nur, weil sie in über 400 Hss. tradiert ist, deren vollständige Erfassung noch nicht abgeschlossen ist. Das von Margaret Gibson und L. Smith initiierte Unternehmen „Codices Boethiani“ (vgl. Lustrum 39, 1997, 334f.) steht erst am Anfang. Zwar haben nach den Forschungen von Rand und Troncarelli die Opuscula und die Consolatio schon vom 6. Jh. an eine gemeinsame Überlieferung, dennoch lassen sich auch die ältesten Hss. der Consolatio nicht so eindeutig bestimmten Familien zuordnen, da sie in viel größerem Maße kontaminiert sind. Über Bieler wesentlich hinausgehend hat M. für seine Neuedition eine ganze Reihe von Hss. neu herangezogen, die allerdings, wie M. selbst bekennt (S. XI), keine neuen und eigenständigen Beiträge zur Textkonstitution liefern können (ebenso wenig wie die mittelalterlichen Kommentare), sondern die gegenseitigen Abhängigkeiten weiter zu klären vermögen. Das gilt insbesondere für kontaminierte Codices vom 10. Jh. an. Bielers Auffassung, daß die Consolatio-Hss. von zwei Archetypi, einer Majuskelhandschrift des 6. Jh. und einer Minuskelhandschrift des 8. Jh. abstammten, folgt M. nicht. In Anschluß an die Forschungen Troncarellis (Boethiana Aetas, Alessandria 1987) rechnet M. mit einem Archetypus des 6. Jh.s. Dessen Abschrift, die im 7. oder 8. Jh. entstand, enthielt bereits Varianten und und bot die Gedichte in Majuskeln, die Prosastücke in Minuskeln. Alle Hss. des 9. Jh. gehen darauf zurück (XIII).

 

Der Text ist, wie bei Weinberger und Bieler, nach Kapiteln und Paragraphen gegliedert; die Kapitel erhielten zusätzlich eine Zeilenzählung, die jedoch von der bei Bieler abweicht und auch mit der von Peiper nicht genau übereinstimmt; man hätte gut, wie der ThlL, darauf verzichten können. Auch im Seitentitel würde man eher die Zählung nach Kapiteln und Paragraphen als nach Zeilen erwarten.

 

Im folgenden seien einige Entscheidungen des Herausgebers diskutiert, für die wohl noch weiterer Gesprächsbedarf besteht:

1,1,1 signarem: Christine Ratkowitsch hat in ihrer Untersuchung zum Prosarhythmus der Consolatio (Wiener Studien N.F. 16, 1982, 309ff.; der Hinweis fehlt im Apparat) nachgewiesen, daß das Compositum designarem eindeutig vorzuziehen sei; sie bestätigt damit die schon von F. di Capua, Didaskaleion 3, 1914, 282 getroffene Entscheidung.

1,1,4 in utrasque: Aus sachlichen Gründen ist die Lesart inter utrasque mit Klingner und Tränkle vorzuziehen. Die Stufen befinden sich zwischen den beiden Buchstaben, sie laufen nicht von einem Punkt aus auf beide zu. Erst der folgende Relativsatz bezeichnet die Richtung.

1 carm. 3,3 cum praecipiti glomerantur nubila Coro: Die Naturschilderungen sind, wie vielfach in der Spätantike, stark von der vergilischen Dichtersprache geprägt; dazu kommt der Einfluß Senecas. Die Junktur von praeceps mit dem Namen eines Windes findet sich nicht nur häufig bei Ovid, sondern auch Verg. Aen. 7,411 (praecipiti...Noto). Besonders nahe steht aber, wie man schon lange gesehen hat, Sen. Phaedr. 737 (fugit) ocior nubes glomerante Coro. sidus in der Bedeutung „Unwetter“ ist wiederum gut vergilisch (Aen. 11,260; 12,451), so daß die Lesart aller Codices ut cum praecipiti glomerantur sidera Coro ohne Anstoß ist. Gerard O’Daly, The Poetry of Boethius, London 1991, 121 behält ebenfalls die überlieferte Lesart bei und verweist noch auf Verg. georg. 1,322ff.

1,4,32 maiestatis crimen in Albinum delatae: Für die Variante delatum hat sich bereits Tränkle, Vigiliae Christianae 22, 1968, 274 ausgesprochen. Er paraphrasiert: „Der König versucht, das dem Albinus angelastete Vergehen einer Majestätsverletzung (nicht: das Vergehen, das darin bestand, dem Albinus eine Majestätsverletzung angelastet zu haben) auf den ganzen Senat zu übertragen.“

2 carm. 1,1ff.: Der Gedankengang lautet: Wenn Fortuna sich zum Unglück ändert, dann stürmt sie daher wie der aufbrausende Euripus (der wegen seiner heftigen und wechselnden Strömung berüchtigt ist), wirft die Herrscher, vor denen man eben noch zittern mußte, nieder und richtet den Besiegten auf. Bereits Tränkle (op. cit. 276) hat auf den harten Moduswechsel, der in der Consolatio einzigartig wäre, hingewiesen. Der Hauptsatz beginnt mit dem gut bezeugten exaestuantis.

2 carm. 1,8, eine alte Korruptel, ist jetzt besser dokumentiert als bei Bieler und zeigt, daß die Heilungsversuche schon in der Überlieferung faßbar sind; vielleicht sollte man eine Crux setzen. Die von M. wieder aufgenommene Konjektur Engelbrechts war bereits von Klingner (Studien 694) zurückgewiesen worden. Eleganter ist Smolaks Vorschlag summis (Wiener Studien N.F. 16, 1982, 300ff.; der Hinweis fehlt im Apparat).

2,4,6 pudicitia [pudore]: Die asyndetische Zusammenstellung beider Begriffe, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge, findet sich schon Cic. Mil. 77, Sall. Catil. 12,2. Zu vergleichen wäre auch Cic. fin. 2,73; leg. 1,50.

2,8,1: Tränkle (op. cit. 281) hat das eingeschränkte Zugeständnis, das durch est aliquando eingeführt wird, beobachtet und sich daher für die Variante non nihil ausgesprochen. Diese eher vorsichtige Formulierung der Philosophie wird durch M.s Textgestaltung zu einer eindeutigen Aussage. Das Eindringen von nihil bleibt dabei aber unerklärt.

3,10,31: Quid igitur, haecine omnia, bonum, sufficientia, potentia ceteraque, veluti quaedam beatitudinis membra sunt an ad bonum veluti ad verticem cuncta referuntur. Der zweite Teil der Frage macht deutlich, daß die Einzelgüter sich auf das bonum beziehen, wie im folgenden Dialogteil bestätigt wird. Daher haben Gegenschatz-Gigon in ihrer Ausgabe (1969, 1990) bonum vor sufficientia getilgt, da es kein Einzelgut ist.

4,2,30 ut [idem] scelesti viribus omnibus videantur esse deserti: Wie der Apparat ausweist, bietet die Überlieferung fast einhellig ein doppeltes idem vor und hinter scelesti. Die Stelle ist zu heilen, wenn man das erste idem oder mit Merkelbach idem scelesti tilgt. M.s Textgestaltung dürfte dagegen zu stark in die Überlieferung eingreifen.

4,3,16 infra homines merito detrudat improbitas. Nach Ausweis des Apparats bieten alle Hss. (ausgelassen von H und W) meritum. Die schon in einigen Hss. durchgeführte Korrektur von homines in hominis ist dabei ein leichterer Eingriff als Bielers Änderung von meritum in merito, die eine lectio facilior herstellt. meritum bedeutet, wie 1,4,24 „das Wesen“. So versteht es auch der anonyme Kommentator des 9. Jh.s, wenn er humanum meritum schreibt.

4,4,37f.: Daß die Worte Hac igitur bis esse miseriam die Philosophie spricht, hat Büchner erkannt. Nach dem ganzen Gesprächsverlauf erwartet man jedoch vor dem Satz (38) Atqui nunc, ait, contra faciunt oratores eine Antwort des Boethius. Das sollte vielleicht auch im Text durch die Übernahme von Bielers Vorschlag <apparet, inquam> markiert werden.

4 carm. 5,3: Wenn jemand keine astronomischen Kenntnisse besitzt, kann er über die gesetzmäßigen Vorgänge am Himmel nur staunen. Ein solcher Vorgang ist der Untergang und Aufgang des Bootes. Sein Untergang vollzieht sich langsam (Arat 583: mehr als die Hälfte der Nacht) und erst spät (Hom. Od. 5,272; Catull. 66,68; Prop. 3,5,35), sein Aufgang dagegen rasch.

V. 3 behandelt das Phänomen der Langsamkeit; V. 4 den späten Untergang. Was heißt nun legat? Sicher nicht das, was einige Übersetzer, ihrer Phantasie folgend, darunter verstanden: „abschirrt“ Büchner 1940; „abspannt“ Gegenschatz-Gigon; „rüstet“ Neitzke 1959; „in Gang bringt“ Endres 1961. Auch der Hinweis von Helga Scheible, Die Gedichte in der Consolatio ... 1972, 144 Anm. 1 hilft nicht weiter. Sie schreibt: „Legere“ bedeutet hier: in der Nähe von etwas gehen, folgen (Georges s. v.).“ In der 9. Aufl. des Georges (II 607) finden sich jedoch die Interpretamente „eine Örtlichkeit usw. durchgehen, durchwandern, durchlaufen; in jmds. Fußstapfen treten; ein Gewässer durchsegeln; längs eines Ortes od. einen Ort entlang segeln oder wandeln“. Immer sind die Objekte Ortsangaben (ursprünglich wohl: die Landmarken „lesen“; diese Verwendung findet sich 5 carm. 4,21 alternum legens iter), niemals Gegenstände oder Personen. Das Richtige hat schon Sitzmann mit dem Hinweis auf Octavia 233f. gefunden (qua plaustra tardus noctis aeterna vice regit Bootes). Die Verwechslung mit regere in der Überlieferung auch Ov. fast 3,462 und sonst (ThlL VII,2,1124,3).

4,6,8 multiplicem regendis modum statuit: Die Variante gerendis verdient in Hinblick auf 4,6,13 immobilem simplicemque gerendarum formam rerum esse providentiam, fatum vero eorum quae divina simplicitas gerenda disposuit wohl den Vorzug.

5,4: Da es unwahrscheinlich ist, daß Boethius den langen Lehrvortrag der Philosophie unterbricht, hat M. mit vollem Recht  minime (8 und 19, ähnlich 16) der Philosophie zugewiesen.

5,6,16 itaque si praesentiam pensare velis: In diesem Satz wird die Art des Wissens Gottes erklärt. Es ist kein Vorauswissen (praescientia) der Zukunft, sondern das Wissen einer niemals entschwindenden Gegenwart (scientia numquam deficientis instantiae). Und so heißt es im folgenden Satz: Unde non praevidentia sed providentia potius dicitur. Damit wird der Begriff korrigiert, der am Anfang des vorhergehenden Satzes steht. Es ist also zu lesen itaque si praevidentiam pensare velis.

 

Errata sind selten: S. 4 (1,1,1) lies adstitisse statt adtitisse

 S. 66 app. cr. zu 11 lies Glotta 29, 1942 statt Glossa 1942.

 

Man vermißt eine Zusammenstellung der Sekundärliteratur zur Textkritik der Consolatio. Der Index fontium beschränkt sich auf die markierten Zitate; die Kriterien für den Index rerum hätten kurz genannt werden sollen.

 

M. hat eine Ausgabe vorgelegt, die in Einzelheiten sicherlich in einer zweiten Auflage verbessert werden kann, die aber gerade wegen ihrer breiteren handschriftlichen Grundlage entschieden über Bieler hinausgeht. Dafür gebührt ihm Dank.

 

Joachim Gruber, Erlangen-München