Annette Hupfloher: Kulte im kaiserzeitlichen Sparta. Eine Rekonstruktion anhand der Priesterämter, Berlin: Akademie Verlag 2000, 245 S. DM 148. ISBN 3-05-003548-X

Daß sich die Alte Geschichte in letzter Zeit wieder verstärkt dem Götter-, Heroen- und Kaiserkult zuwendet (ich verweise nur auf die letzten Publikationen von M. Clauss, T. Scheer oder das aktuelle Forschungsprojekt zur Römischen Reichsreligion), hat zwei gute Gründe: 1. Die Quellen fließen (anders als für die politische Geschichte) kontinuierlich, denn sie sind größtenteils epigraphischer, archäologischer oder numismatischer Provenienz, und 2. bietet das weite Feld der Religion in der Antike eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten. Gerade im griechischen Osten steht dem Forscherdrang ein nahezu unerschöpfliches Reservoir lokaler Stadt- und Stammeskulte zur Verfügung, die alle ihre Bearbeiter suchen. Personell sind diese Kulte auch deshalb interessant, weil sie das öffentliche Betätigungsfeld für Frauen waren, und bekanntlich geben die literarischen Quellen allzu wenig Auskunft darüber, wie Frauen in der Öffentlichkeit auftraten und welche Aufgaben sie übernahmen. Von vielen Inschriften dagegen erfahren wir Genaueres und auch (zumindest nach der Lektüre literarischer Quellen) Überraschendes, zum Beispiel daß sie sehr aktiv als Priesterinnen waren, eigene kultische Aufgabenfelder hatten, als Wohltäterinnen, Spenderinnen, Wettkämpferinnen, Festspielveranstalterinnen auftreten konnten und sie deshalb in ebensolchem Ausmaße wie Männer geehrt wurden.

Dies alles mag auch die Arbeit von Annette Hupfloher inspiriert haben. Sie befaßt sich in dem hier anzuzeigenden Buch mit dem Sparta der römischen Kaiserzeit, genauer: mit den Kulten des kaiserzeitlichen Sparta. Das Buch ist hervorgegangen aus einer Dissertation mit dem Titel `Kultaktivität im kaiserzeitlichen Sparta. Männer und Frauen im PriesteramtA, ein Titel, der vielleicht noch klarer den Inhalt des Buches umschreibt. Betreut wurde die Arbeit von Hatto H. Schmitt, dem großen Althistoriker der Münchener Universität.

Die Autorin hat sich an ein schwieriges, wenig bearbeitetes Feld (wer außer A. Spawforth interessierte sich schon für das politisch bedeutungslose kaiserzeitliche Sparta?) herangewagt, und sie hat ihre Aufgabe mit Bravour gemeistert, in mehrfacher Hinsicht. Erstens wissen wir jetzt mehr von den spartanischen Kulten, die akribisch gesammelt und gedeutet wurden. Gleiches gilt für die inschriftlich überlieferten Personen (insgesamt 60), für Priester und Priesterinnen, für das durch Inschriften geehrte Personal dieser Kulte. Zweitens können wir ein wenig klarer den öffentlichen Raum bemessen, in dem Frauen in Sparta tätig waren. Immerhin sagt die aus dem erhaltenen Quellenbestand erarbeitete Personalstatistik, daß der von Frauen ausgestaltete Demeterkult im Eleusinion an zweiter Stelle hinter dem Kaiserkult liegt - insgesamt sind 14 Personen bezeugt (zum Vergleich: beim Kaiserkult sind es 16). Diese beachtliche Zahl beweist die hohe gesellschaftliche Bedeutung des Demeterkultes, dessen Personal ausschließlich Frauen waren, und damit auch den sozialen Status der Frauen im Sparta des Prinzipats. Dennoch scheint im kaiserzeitlichen Sparta die Rolle der Frauen geringer gewesen zu sein als in Kleinasien - gewiß überraschend, bedenkt man das klassische Sparta (vgl. dazu die Arbeiten von M. Dettenhofer und P. Cartledge). Die Autorin hat ihre Ergebnisse äußerst vorsichtig ermittelt. Damit ist auch der dritte Gewinn des Buches genannt, der methodischer Natur ist. Die Untersuchung ist nämlich der Gefahr entgangen, durch den Umgang mit bruchstückhaft überlieferten Quellen und Vergleiche allzu sehr in spekulative Gefilde abzudriften. Der Grundsatz, daß `bei kulthistorischer Analyse das lokalspezifische Umfeld Vorrang vor der überregionalen und gemeingriechischen Vergleichsebene haben mußA (81), gibt den Ergebnissen der Arbeit ein solides Fundament.

Die moderne Erforschung des kultischen Lebens im kaiserzeitlichen Sparta ließ lange auf sich warten. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts konzentrierte man sich zumeist auf das archaische, klassische und gelegentlich auch das hellenistische Sparta. Speziell mit den `lakonischen KultenA beschäftigte sich die (immer noch unverzichtbare) Arbeit von S. Wide aus dem Jahre 1893, auf die sich 1929 auch L. Ziehen in seinem RE-Artikel (`Sparta (Kulte)A) stützen konnte. Seitdem erschienen weitere Arbeiten zum kultischen Leben in Sparta. Zum Apollon-Kult und den mit ihm verbundenen Festspielen, den wichtigsten des archaischen und klassischen Sparta, hat etwa 1992 M. Pettersson eine große Untersuchung vorgelegt (Titel: Cults of Apollo at Sparta. The Hyakinthia, the Gymnopaidiai and the Karneia). Die wechselvolle spartanische Geschichte legt nahe, daß dieser Apollo-Kult und andere Kulte nicht ununterbrochen und unverändert über 1000 und mehr Jahre gepflegt wurden. Es ist vielmehr a priori zu erwarten, daß allein schon die veränderten Rahmenbedingungen in klassischer, hellenistischer und römischer Zeit sich auch auf lokale Kulte niedergeschlagen haben müssen. Für Sparta wurde diese Frage in der Forschung entweder mit allzu großem Optimismus hinsichtlich der Konstanz seines Kultes über die Zeiten (Pettersson) oder Resignation über den methodischen Zugriff (Wide) beiseite geschoben.

Speziell für die Erforschung des kaiserzeitlichen Sparta und seiner Kulte haben aber erst die Arbeiten von A. Spawforth seit Mitte der 80er Jahre Pionierdienste geleistet. Daß sich das kaiserzeitliche Kultwesen in Sparta gegenüber früheren Epochen veränderte, ist nicht nur politisch zu erwarten, sondern ergibt sich nahezu zwangsläufig aus der stetig zunehmenden und schließlich überbordenden Bedeutung des Kaiserkultes seit Augustus. Dieses gegen die ältere Forschung zu formulieren und zu belegen, ist ein Verdienst der hier besprochenen Arbeit.

Die Autorin verfolgte jedoch zwei Hauptziele: 1. die Erstellung eines `KultkatalogesA im kaiserzeitlichen Sparta, 2. das Kultpersonal auf sozialhistorisch relevante Fragen hin zu untersuchen. Von diesem zweiten Ziel her ist die Gliederung des ganzen Buches begründet. Es gibt (neben Einführung S. 13-29 und Auswertung S. 213-221) drei Hauptteile, in deren Mittelpunkt die Priesterämter stehen: Zunächst die `Priesterämter, die von Frauen besetzt wurdenA (S. 31-105), dann die `Priesterämter, die von Frauen und Männern besetzt werden konntenA (S. 107-146) und schließlich `Priesterämter, die von Männern besetzt wurdenA (S. 147-211).

Das Bild, das auf dieser Basis von den Kulten im kaiserzeitlichen Sparta gewonnen wird, ist in sich schlüssig. Es bestätigt etwa das auch sonst bekannte Bild, daß Frauen in der Kaiserzeit zunehmend in die Öffentlichkeit drängten. Der Demeter-Kult war nur Frauen vorbehalten - 14 Personen sind hier bezeugt. Aber es gab weitere Kulte, die Priesterinnen kannten, auch solche männlicher Gottheiten: Im 3. Jahrhundert etwa verwaltete Pomponia Kallistonike in Sparta allein sechs Priesterämter (S. 70ff.), u. a. auch der Dioskuren. Es könnte sogar sein, wie die Autorin scharfsinnig vermutet (S. 142f.), daß das Priesteramt der Dioskuren auch in weiblicher Linie vererbt werden konnte. Ohnehin spielten Mädchen offenkundig in den Kulten und damit letztlich wohl auch gesamtgesellschaftlich eine stärkere Rolle (S. 85ff.; S. 143f.); wieweit aber hier gesellschaftlicher `FortschrittA spürbar wird oder nicht vielmehr die spezifisch spartanische Ausprägung der Geschlechterbeziehungen nur ihre Fortsetzung findet, bleibt etwas unklar. `Der öffentliche Raum, grob gesagt alles, was außerhalb der Wohnhäuser liegtA, so stellt die Autorin S. 63 fest, `ist in der antiken griechischen Kultur Aktionsraum der Männer.A So pauschal kann das wohl nicht mehr gelten, zumal sich sonst die Autorin mit Recht gegen Verallgemeinerungen wendet.

Freilich: die Leitung des Kaiserkultes blieb offenbar Männern vorbehalten (S. 147ff.). Und dieser Kult war der `aktivsteA aller spartanischen Kulte der Kaiserzeit. Das verwundert natürlich nicht, eher schon, daß Frauen in Sparta anders als in Kleinasien das Oberpriesteramt in diesem Kult nicht bekleidet zu haben scheinen. Allerdings: Von einer `Absenz der FrauenA, so eine etwas irreführende Kapitelüberschrift (S. 174), kann keine Rede sein. Denn abgesehen von immer in Rechnung zu stellenden Quellendefiziten kann die Autorin selbst Beispiele kultischer Aktivitäten von Frauen auch zur gebührenden Verehrung des Kaisers beibringen. Der Kaiserkult ist ja auch zur Zeit gerade wieder Gegenstand intensiver Forschungsdiskussion, und die Autorin selbst plant eine Untersuchung zum Kaiserkult in Athen - einer Arbeit, der man mit Spannung entgegen sehen darf. Sie umgeht übrigens für Sparta geschickt die heute gelegentlich vertretene Gleichsetzung von Kaiser und Gott; die überlieferten Nachrichten aus Sparta widersprechen einer solchen Gleichsetzung auch. Die Untersuchung der Inschriften erbrachte nämlich, daß `nur selten die Kaiser als Götter pauschal angesprochen wurden ... sondern meistens persönlich und individuellA (S. 155).

 Die Liste bemerkenswerter Ergebnisse der Arbeit ließe sich mühelos verlängern: über die Lage von Helos (gegen P. Marchetti, der meinte, daß Helos in den Inschriften wie IG V 602 gar nicht die Stadt im südlichen Lakonien ist, sondern ein Quartier am Fuße des Theaters in Sparta, S. 82), über das Aussehen der einzelnen Kulte, über die Interpretation einer 17 Ämter umfassenden Liste für eine Einzelperson. Weitere Ehrenrettung betreibt  sie zudem für Pausanias, den Periegeten, dessen Werk natürlich die Grundlage für alle kultischen und topographischen Fragen im kaiserzeitlichen Sparta bleiben muß. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde er als geistloser Kompilator (Wilamowitz, W. Immerwahr u. a.) bezeichnet. Erst die auf vermehrter Quellenbasis durchgeführten Überprüfungen seiner Angaben lassen seine Darstellung in ganz anderem Lichte erscheinen. Für Messenien in der Darstellung von Pausanias (Buch 4) liefert auch eine (leider noch unpublizierte) Magisterarbeit von Silke Müth-Herda (Titel: `Pausanias in Messene. Ein archäologischer Kommentar zu Pausanias IV 31, 4 - 33, 3A) eindrucksvolle Belege, die auf eigener Forschung vor Ort beruhen; für Sparta bietet jetzt Annette Hupfloher den besten Beweis (vgl. S. 136f.; 214: `Pausanias= Aussagen gehen präzise mit den kaiserzeitlichen Inschriften zusammenA). In einer nützlichen Appendix listet sie `Pausanias= spartanisches PantheonA auf (S. 225-229 aus Paus. III 11, 3 - III 18, 5), terminologisch und alphabetisch sortiert.

 Leichte Kritik ist an der Präsentation dieser wichtigen Ergebnisse zu üben. Die Autorin hat es dem Leser nicht leicht gemacht. Der große Erkenntnisfortschritt der Arbeit offenbart sich jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Gelegentlich kommt sie mit Erläuterungen sehr spät (z.B. erst S. 56f. zur Lage des Eleusinion), oder es fällt manche Beschreibung etwas umständlich aus (S. 78). Bei gründlicher Durchsicht der Druckfahnen wären vielleicht auch einige (Zitat-, Druck-)Fehler vermieden worden. Die Gleichsetzung von Doriern und Herakliden S. 144 (die sich nicht auf Paus. III 3, 13 berufen kann) ist zu verbessern, und die Vermutung, daß es `unter den Lebensbedingungen in vorindustriellen Gesellschaften nicht sehr wahrscheinlichA sein sollte, daß Erwachsene die `Qualität amphitalesA, also noch beide Eltern habend, besitzen können, erklärt sich nur aus der Ansetzung einer allzu niedrigen Lebenszeit der Menschen in der Antike (S. 47). Sprachlich ist die Darstellung der Sache angemessen und verständlich.

 Zusammenfassung: Das vorliegende Buch stellt nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Sparta-Forschung dar, sondern bedeutet auch in methodischer Hinsicht einen Fortschritt. Der Weg, zunächst einmal nicht a priori von kultischen Kontinuitäten durch alle Epochen hindurch auszugehen, sondern die Kaiserzeit für sich zu betrachten und lediglich das klar datierbare Material heranzuziehen und auszuwerten - keine leicht einzuhaltende Methode angesichts der Mythisierung Spartas -, führte zu neuen und gesicherten Erkenntnissen sowohl die Kulte als auch die soziale Zusammensetzung des Kultpersonals betreffend. Deshalb ist das Buch auch ein wesentlicher Beitrag zur römischen Reichsverwaltung. Es beantwortet für eine Stadt die Frage, wie sich Lokaltraditionen perpetuieren ließen und wie stark die römische Zentrale von Augustus an in die Lokalautonomie eingriff. Es belegt ferner das zunehmende, kontinuierliche Eindringen von Frauen in den öffentlichen Raum und auch in traditionelle Männerdomänen.

 Ernst Baltrusch, Berlin