Wolfgang Hübner (Hrsg.), Geographie und verwandte Wissenschaften. Stuttgart:Steiner 2000 (Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike 2). 258 S. kartoniert, DM 82,14 ISBN 3-515-07706-5

„Auch an der Geographie und ihrer Geschichte findet die moderne philologische und naturwissenschaftliche Forschung ein zunehmendes Interesse" stellt der Herausgeber des hier anzuzeigenden Sammelbandes in seinem Vorwort (S. 5) fest, und so ist es zu begrüßen, daß - nach der Biologie - nun auch dieses Fachgebiet in neuen Beiträgen erschlossen wird; Bände über Physik, Mathematik und Astronomie sollen in derselben Reihe noch folgen.

    Wolfgang Hübner stellt nach einer Einleitung zunächst die „Mythische Geographie" vor, insbesondere Homer und Hesiod; den „Anfängen der wissenschaftlichen Geographie" mit Anaximander und Hekataios sowie dem Wirken des Eudoxos von Knidos und des Pytheas von Massalia gelten dann zwei Beiträge von Stephan Heilen. Eratosthenes wird von Klaus Geus vorgestellt, Hipparch von Wolfgang Hübner, und mit „Strabon et son temps" befaßt sich (im einzigen fremdsprachigen Beitrag) Germaine Aujac. Unter der Überschrift „Geographie bei den Römern" stellt Gerhard Winkler die Werke des Pomponius Mela, des Seneca (Naturales Quaestiones) und des Plinius Maior vor, mit „geographischer Lehrdichtung" des Ps.-Skymnos, Dionysios (Sohn des Kalliphon) und Dionysios Periegetes befaßt sich Claudia Schindler. Dem geographischen Werk des Klaudios Ptolemaios widmet sich Alfred Stückelberger, und zwei abschließende Beiträge von Silke Diederich behandeln „Geographisches in Scholien und Kommentaren" und „Geographie in frühchristlicher Zeit". Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren der Beiträge und ein Register runden den Band ab.

    Die Auswahl der vorgestellten Autoren und Werke, denen zumindest der Teil eines Artikels gewidmet ist, scheint dabei eher „pragmatisch" als „systematisch" gewesen zu sein: Krates von Mallos etwa, der - wie es S. 197 heißt - lange vor Ptolemaios „einen Erdglobus konstruiert" hatte, erhält ebenso wenig einen eigenen Beitrag wie Dikaiarch, der laut S. 11 immerhin „an einer ersten Edmessung beteiligt" und laut S. 87 der „Vorgänger" des Eratosthenes war, Marinos (S. 92 spricht vom „kartographischen System" des Marinos als dem Ende des eratosthenischen) ebensowenig wie die die „berühmte" (S. 228) Tabula Peutingeriana, und während die Beschreibung Griechenlands des Dionysios (Sohn des Kalliphon) eigens vorgestellt wird (S. 171-173), bliebt die Beschreibung Griechenlands des Pausanias hingegen gänzlich unerwähnt. Doch ist eine Vollständigkeit oder auch nur Ausgewogenheit in einem solchen Band wohl ohnehin nicht zu erreichen, und wer immer einmal selbst einen Sammelband herausgegeben hat, weiß um die Grundproblematik eines solchen Unterfangens.

    Will man mehr als eine „Buchbindersynthese" mit einzelnen Beiträgen ganz unterschiedlichen Anspruchs vorlegen, gilt es zunächst, das „Zielpublikum" zu bestimmen (Spezialisten oder allgemein Interessierte? Altertumswissenschaftler oder Fachleute anderer Disziplinen?); sodann müssen Autoren gefunden (und zum Einhalten des vereinbarten Termins) motiviert werden; schließlich sollte man als Dienst am Leser die Formalia möglichst vereinheitlichen und die ärgsten Widersprüche zwischen einzelnen Beiträgen durch Rücksprache mit den Autoren aufhellen (etwa durch die Bitte um Einfügung von Hinweisen auf die Umstrittenheit einer im Manuskript noch apodiktisch vorgetragenen Aussage) oder zumindest in Form von Querverweisen („anders S ...") dem Leser gegenüber eingestehen.

    Daß kaum ein Sammelband diesem Idealbild gerecht wird, ist wohlbekannt, und so macht auch dieser keine Ausnahme, der zudem „weder inhaltlich noch formal eine Einheitlichkeit anstrebt" (S. 5). Die Formalia sind in der Tat uneinheitlich; Literaturangaben stehen teils in den Fußnoten, teils am Ende der Artikel, mit zahlreichen letztlich unnötigen Wiederholungen. Auch kleine Versehen wie die Tatsache, daß auf S. 146 die von H.M.Hine 1996 vorgelegte wichtige Teubneriana von Senecas Naturales Quaestiones („unlikely to have serious competitors for a long time": M.D.Reeve, JRS 90, 2000, 203) gar nicht genannt ist, oder daß das Register einen „Denys d'Alexandrie" neben einem „Dionysios Periegetes" nennt, ohne die Identität der beiden Autoren anzuzeigen, sind angesichts der Fülle des Materials wohl unvermeidlich. Schwerer wiegt jedoch, daß offenbar keine Klarheit über das Zielpublikum bestand: In manchen Beiträgen sind griechische Wörter transkribiert und übersetzt, in anderen nicht. Manche Autoren schreiben offenbar im Blick auf Nichtfachleute (S. 47: „daß die Karte des Hekataios in einer Weise von der Wirklichkeit abgewichen sein muß, die wir uns, mit hochpräzisen Satellitenaufnahmen wie selbstvertständlich vertraut, kaum vorstellen können"), andere für Experten (S. 96: „Unter Benutzung der Ekzenter-Theorie des Apollonios von Perge, die er mit der Epizykel-Theorie verband, berechnete er [Hipparch] die Anomalien der Sonn- und Mondbahn"). Manche Autoren begnügen sich weitestgehend mit hilfreichen, andernorts jedoch bequem(er) aufzufindenden Inhaltsangaben der vorgestellten Werke (etwa zur römischen Geographie), andere spannen den Bogen viel weiter und dringen zugleich tiefer in die Materie ein. Wie bei wohl jedem wissenschaftlichen Werk wird gerade bei letzteren nicht jede Aussage die Zustimmung des Rezensenten finden (etwa wenn S. 186 die Existenz einer Agrippakarte postuliert wird, ohne daß eine Auseinandersetzung mit den dagegen vorgetragenen Argumenten erfolgt, oder wenn S. 190 Planudes' Auffindungsbericht über die „uralten" Ptolemaios-Karten als Beleg für den tatsächlichen „sensationelle[n] Fund einer alten Handschrift mit Karten" gewertet wird, ohne daß auf die Problematik solcher Berichte - man denke nur an ähnliche „Auffindungsberichte" vom Alten Testament [2. Könige 22] über Euhemeros und Antonius Diogenes bis zum Buch Mormon - auch nur verwiesen würde).

    Irritierend wird diese Uneinheitlichkeit jedoch, wenn es sich um sachliche Aussagen handelt, die sich gegenseitig ausschließen, in den jeweiligen Beiträgen aber ohne Einschränkung als Tatsache hingestellt werden: So erfahren wir auf S. 92, daß mit Marinos von Tyros gegenüber Eratosthenes etwas Neues beginne (s.o.), auf S. 187 hingegen, daß sein Entwurf „noch auf dem seit Eratosthenes gebräuchlichen Konzept" beruhe. Auf S. 82 wird die Frage des von Eratosthenes bei der Berechnung des Erdumfangs zugrundegelegten Stadionmaßes umsichtig, gründlich und ausführlich diskutiert, S. 204 führt hingegen eines dieser Maße apodiktisch als „dazumal gebräuchlich" an. Der Artikel über Hipparch bietet nichts über dessen angebliche Messung von Längengraden (S. 98), diese wird aber in einem anderen Artikel ausdrücklich als „Verdienst des Hipparch" genannt (S. 196). Und Pytheas lebte laut S. 64 „in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr.", laut S. 92 Anm. 75 fand seine Expedition hingegen bereits „etwa im Zeitraum von 380-360 v.Chr. statt", laut S. 185 wiederum „um 330 v.Chr." - jeweils in apodiktischen Aussagen ohne jede Einschränkung oder den Hinweis, daß die gebotene Datierung umstritten sei (einzig zu einer Pytheas-Datierung gibt es eine knappe „A.d.H."). Wohlgemerkt: Es geht es bei diesen Fragen nicht um Wertungen, sondern um Sachaussagen, die von den Nutzern des Bandes wohl für korrekt gehalten werden sollen. Welches Vertrauen können angesichts solcher Probleme aber andere Aussagen in diesem Band dann gerade bei Lesern finden, deren intellektuelle Heimat nicht die Altertumswissenschaft ist, sondern etwa die in der Einleitung genannte „naturwissenschaftliche Forschung"?

    Man würde der Leistung des Herausgebers und der Beiträger jedoch nicht gerecht, wenn man mit Kritik endete. Während die „praktische" Geographie, etwa die Itinerare und die Routendiagramme, nicht zuletzt in der Folge neuer Entdeckungen und Funde (vgl. etwa Gymnasium 108, 2001, 137-148) letzthin viel Aufmerksamkeit gefunden haben, harrt die wissenschaftliche Geographie noch in vielen Bereichen einer neuen Bearbeitung: Anfänge reichen von der Neuedition des Klaudios Ptolemaios (Alfred Stückelberger und sein Team) über die Erforschung einzelner Werke, etwa des Eratosthenes (Klaus Geus) oder des Strabon (Katherine Clarke, Daniela Dueck, Sarah Pothecary und andere) bis hin zu den übergreifenden Fragen des Verhältnisses von Geographie und Astronomie. Es ist gut zu wissen, daß gerade für letzteres Thema ein weiterer Band in dieser Reihe geplant ist.

Kai Brodersen, z.Zt. University of St.Andrews