Niklas Holzberg: Die antike Fabel. Eine Einführung. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, 150 S., kart. DM 29,90. ISBN 3-534-15043-6

 

Die zuerst 1993 erschienene Einführung in die antike Fabel von N. Holzberg (H.) liegt nun in einer „2., verbesserten und erweiterten Auflage“ vor. Die von H. vorgenommenen Verbesse­rungen halten sich bezüglich Anzahl und Umfang in Grenzen und beziehen sich ausschließlich auf die Korrektur von Druckfehlern, falschen Zitaten u.ä. in der 1. Auflage.[1] Größere Ände­rungen am Text der 1. Auflage oder Erweiterungen dieses Textes wurden nicht vorgenommen, so dass der eigentliche Gewinn dieser 2. Auflage in den Hinzufügungen am Schluss besteht, nämlich denjenigen eines „Bibliographischen Nachtrages zur 2. Auflage“ (S. 133–143), eines „Personen- und Sachregisters“ (S. 145–148) und eines „Stellenindex“ (S. 149f.).

 

In dem „Bibliographischen Nachtrag“ werden die Forschungsberichte zu den einzelnen Kapiteln und Hauptabschnitten ergänzt, indem jeweils die seit 1993 erschienene Literatur kurz gewür­digt wird. Es schließt sich eine alphabetisch angeordnete Bibliographie aller berücksichtigten Beiträge an, die als so gut wie lückenlos angesehen werden kann.[2] Die mit Sicherheit wichtig­ste Neuerscheinung seit 1993 hat G.-J. van Dijk mit seiner Monographie „Ainoi, logoi, mythoi. Fables in Archaic, Classical and Hellenistic Greek literature. With a study of theory and terminology of the genre” vorgelegt.[3] Mit ihr weist — um die Worte von H. (S. 134) zu be­nutzen – „die Forschung zur antiken Fabel seit langer Zeit wieder ein Standardwerk auf“. Be­merkenswert ist auch, dass ein älteres Standardwerk, nämlich die monumentale, in drei Bänden erschienene „Historia de la fabula greco-latina“ (Madrid 1979–1987) des spanischen Ge­lehrten F.R. Adrados in Zukunft leichter benutzbar sein wird durch eine von F.R. Adrados selbst und G.-J. van Dijk revidierte und aktualisierte englische Fassung, von der der erste Band bereits vorliegt.[4]

 

Auf den weiteren Hauptfeldern der Fabelforschung dominiert die fortschreitende Auseinander­setzung mit Spezialproblemen, wie etwa bezüglich der poetischen Fabelsammlung des Phaedrus (S. 135), für die aber auch auf die Bemühungen von E. Oberg, sie einem breiten Publikum zu erschließen, und zwar mit Hilfe einer neuen zweispra­chigen Ausgabe[5] sowie mit Hilfe eines Kommentars[6], hinzuweisen ist.

 

Demgegenüber ist Babrios „nach wie vor das Stiefkind der Fabelforschung“ (H., S. 135).[7] Nicht viel anders verhält es sich mit Avian. Wenn H. (S. 135f.) bedauernd darauf hinweist, dass F. Gaide Avian erneut als „mittelmäßig“ beurteilt,[8] so weist das auf seine „Ehrenrettung“ Avians im Haupttext (S. 75f. 78f.) zurück. Hierzu ist zu bemerken, dass die neuere Forschung zu Avian ganz im Gegensatz zur älteren sehr wohl die poetische Fabelsammlung des Avian als Produkt spezifischer Autorintentionen vor dem Hintergrund eines bestimmten historischen und kulturgeschichtlichen Umfeldes beurteilt und außerdem die enorme Nachwir­kung des spätantiken Autors im Mittelalter im Auge hat. Dies verbietet jedoch nicht eine Wertung nach übergeordneten literaturwissenschaftlichen und ästhetischen Kriterien, bei der Avian dann auch im Kontext der gesamten antiken oder sogar europäischen Fabeldichtung gesehen werden muss.

 

Am produktivsten hat sich die Forschung in den letzten Jahren zum sogen. „Aesop-Roman“ bzw. zu dem „Buch: Leben und Fabeln Äsops“ entwickelt und zwar auf allen Problemfeldern, nämlich bei der Edition und Beurteilung der verschiedenen überlieferten Viten, der Frage nach dem Verhältnis des Aesop-Romans  zum Achikar-Roman, der Erzählstruktur und -technik u.a.m. Man kann sicherlich behaupten, dass H. mit seiner Behandlung des Aesop-Romans auf S. 84–93 sowie mit weiteren separaten Publikationen zu diesem Text diese Entwicklung selbst maßgeblich mitbestimmt hat.[9] Dabei gilt H.s Interesse vor allem der Erzählstruktur und dem Nachweis einer starken Affinität des „Aesop-Romans“ zu pikaresken Romanen. Die seinerzeit in der 1. Auflage der Einführung (a.O.) vorgestellten Thesen zum einheitlichen narrativen Kon­zept und zum Verhältnis von Rahmenhandlung und eingeschalteten logoi sind allerdings in der Zwischenzeit von den bei H. S. 136 genannten Autoren modifiziert oder auch korrigiert worden.[10] Dies gilt es bei der Lektüre des entsprechenden Kapitels in der 2. Auflage zu be­rücksichtigen, da es unverändert gegenüber der 1. Auflage abgedruckt ist.

 

Zu den weiteren Hinzufügungen, die die 2. Auflage gegenüber der 1. aufweist, nämlich denjenigen eines „Personen- und Sachregisters“ und eines ‘Stellenindex“, ist zu bemerken, dass sie einen gravie­renden Mangel der 1. Auflage beheben und H.s Einführung leichter benutzbar machen. Bisher ließen sich Informationen etwa zu Wesen und Funktion der Fabel sowie zu anderen Sachfragen nur gewinnen, indem man das ganze Buch durchsah. Denn bezüglich der Behandlung derartiger Fragestellungen orientiert auch das Inhaltsverzeichnis nicht, da es nach den einzelnen Textarten bzw. -corpora gegliedert ist. Bei der Benutzung beider Register ist zu beachten, dass offen­sichtlich keine Vollständigkeit intendiert ist, und zwar weder bei den Lemmata, noch bei den Stellenangaben. Um ein Versehen scheint es sich zu handeln, wenn die Stellen auf Papyri nicht im Stellenindex, sondern im Personen- und Sachregister vermerkt werden. Bedauernswert ist das Fehlen eines Registers, in dem die in den behandelten Fabeln begegnenden Motive klassifi­ziert werden, da solche Motiv-Register in der Fabelforschung vor allem dann, wenn sie kompa­ratistisch vorgeht, unentbehrlich sind.

 

Eine ausführlichere Vorstellung des Inhalts von H.s Einführung sowie eine Würdigung ihrer hohen Qualität erübrigt sich an dieser Stelle, da beides bereits hinreichend von anderen Rezen­senten geleistet wurde.[11] Es sei hier nur noch auf einen grundsätzlichen Sachverhalt verwiesen, den es für den Benutzer dieses Buches zu berücksichtigen gilt: H. lässt selbst keinerlei Zweifel darüber aufkommen, dass er ausgehend von dem Textmaterial, das er selbst als ein Trümmer­feld bezeichnet (S. 1.116), dem Leser die Welt der antiken Fabel erschließen möchte. Insbe­sondere der philologisch interessierte Leser wird H. dieses danken. Denn er wird nicht nur mit allen Textarten und -genera, die es bezüglich der Fabel zu berücksichtigen gilt, umfassend ver­traut gemacht, sondern er erhält auch einen sicheren Führer durch alle philologischen, inter­pretatorischen und überlieferungsgeschichtlichen Probleme, die insbesondere die Fabelsamm­lungen in sehr mannigfaltiger und auch immer wieder unterschiedlicher Art stellen. Dabei lässt es H. aber häufig nicht bei der bloßen Präsentation der Forschungssituation bewenden, sondern er zeigt neue Lösungsansätze auf und gibt somit der philologischen Fabelforschung, die sich nicht selten vorrangig immer noch der traditionellen Quellenkritik verpflichtet fühlt, neue Im­pulse. In diesem Kontext sind auch die exemplarisch vorgeführten Textinterpretationen zu se­hen.

 

Der von H. eingeschlagene Weg der Behandlung der antiken Fabel schließt eine systematische Betrachtung aus. Die Fragen nach Ursprung und Wesen der Fabel werden nur ansatzweise innerhalb des ersten Hauptkapitels behandelt, das der Funktionalisierung der Fabel innerhalb heterogener Kontexte gewidmet ist. Er schließt aber auch eine vertiefende Betrachtung etwa der Morphologie der Fabel und ihres poetologischen Status aus sowie ihre nähere Bestimmung als eine wichtige Form der sog. „uneigentlichen Rede“, Problemstellungen also, die in der allgemeinen Literaturwissenschaft und in den neueren Philologien verstärkt untersucht wer­den.[12] Hierauf ist vor allem deshalb hinzuweisen, weil der Werbetext auf dem Einband sowohl in der ersten, als auch in der zweiten Auflage eine Untersuchung verspricht, die „einen Überblick über die Geschichte der Gattung in der Antike mit einer modernen literaturwissenschaftlichen Interpretation der Texte verbindet“, und hiermit möglicherweise falsche Erwartungen weckt. Denn mit der „modernen literaturwissenschaftlichen Interpretation“ ist in erster Linie lediglich die streng strukturalistische Analyse der Texte der recensio Augustana und der poetischen Fabelsammlungen des Phaedrus und Babrios durch Nøjgaard angesprochen,[13] der H. dort, wo er exemplarisch ausführlich Fabeln aus diesen Sammlungen interpretiert, eng verpflichtet ist.[14]

                                                                                   

 

Jochem Küppers, Düsseldorf

 

 



[1] Bei diesen Korrekturen schleichen sich dann wieder neue, allerdings durchweg unwesentliche Fehler ein, wie z.B. S. 3 oben: falscher Randausgleich bei der Korrektur von „31 Fabeln“ zu „32 Fabeln“, S. 66 Mitte: fehlende Klammer vor „prol. II 1-3“ bei Korrektur von „(II prol. 1-3)“, S. 82 unten: Fehler beim neu hinzugefügten Zitat „Aphth. prog. 1“.

[2] Damit ist natürlich nicht gesagt, dass zu jedem Spezialproblem die Literatur erschöpfend mitgeteilt wird, da dies im Rahmen einer Einführung nicht zu leisten ist und auch nicht als sinnvoll erscheint. Unter dieser Prämisse erfolgt hier der Hinweis auf die Literaturergänzungen zum 1. Hauptkapitel, die G.-J. van Dijk in seiner Rezension bereits der 1. Auflage in Mnemosyne, Ser. 4, Bd. 50, 1997, 609 Anm. 15 mitteilt.

[3] erschienen: Leiden-New York-Köln 1997 (Mnemosyne, Suppl. 134).

[4] F.R. Adrados, History of Graeco-Roman fable. I: Introduction and from the origins to the Hellenistic age. Transl. by L.A. Ray, Leiden-Boston-Köln 1999 (Mnemosyne, Suppl. 201).

[5] erschienen: Sammlung Tusculum, Zürich-Düsseldorf 1996.

[6] erschienen: Stuttgart 2000.

[7] Das Zitat hier korrigiert den Fehler a.O.: „...des Forschungsstiefkindes“.

[8] F. Gaide, Avianus, ses ambitions, ses resultats, in: G. Gatanzaro/F. Santucci (Hrsgg.). La favolista latina in distici elegiaci: Atti del Convegno Internazionale, Assisi 26-28 ottobre 1990, Assisi 1991, 45–61.

[9] Vgl. N. Holzberg, Der Äsop-Roman. Eine strukturanalytische Interpretation, in : Ders. (Hrsg.), Der Äsop-Roman. Motivgeschichte und Erzählstruktur, Tübingen 1992 (Classica Monacensia Bd. 6), 33–75; Ders., A lesser known “picaresque” novel of Greek origin: The Aesop Romance and its influence, in: H. Hofmann (Hrsg.), Groningen Colloquia on the Novel, Groningen 1993, 1–16; ders., Fable: Aesop Life of Aesop, in: G. Schmeling (Hrsg.), The novel in the Ancient World, Leiden-New York- Köln 1996 (Mnemosyne, Suppl. 159), 633–639.

[10] Vgl. G.-J. van Dijk in seiner oben  Anm. 2 genannten Rezension; S. Merkle, Fable, „anecdote“ and „novella“ in the Vita Aesopi. The ingredients of a “popular novel”, in: O. Pecere/A. Stramaglia (Hrsgg.), La letteratura di consumo nel mondo greco-latino, Cassino 1996, 209–234 und W. Schiner, Creating plot in episodic narratives: The life of Aesop and the Gospel of Mark, in: R.F. Hock/J.B. Chance/J. Perkins (Hrsgg.), Ancient fiction and early Christian narrative, Atlanta 1998 (Society of Biblical Literature, Symposium Ser. 6), 155–176.

[11] Neben der genannten ausführlichen Rezension von G.-J. van Dijk a.O. (vgl. Anm. 2), 603–609 vgl. außerdem zur 1. Auflage folgende Kurzanzeigen: F. Wagner, Fabula 36, 1995, 3–4; H. Brumberger, Anregung 2, 1996, 2; J. R. Morgan, CR 46, 1996, 1; S. Goins, CW 90, 1996/7,5; N. Fick, Latomus 57, 1998, 3. Zur 2. Auflage liegt bereits die ausführliche und durchweg ebenfalls positive Rezension von V. Jennings (BMCR 2001.09.29) vor.

[12] Vgl. etwa E. Leibfried, Fabel, Stuttgart 4. Aufl.1982; W. Gebhard, Zum Mißverständnis zwischen der Fabel und ihrer Theorie, in: DVjs 48, 1974, 122–153; K. Grubmüller, Semantik der Fabel, in: J. Goossens/T. Sodmann (Hrsgg.) Third international beast epic, fable und fabliau colloquium, Köln-Wien 1981, 111–134; R. Zymer, Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn 1991; R. v. Heydebrand, Parabel, in: Archiv für Begriffsgeschichte 34, 1991, 27–122. Ganz knapp, aber zugleich sehr treffend charakterisiert K. Grubmüller die Forschungsgeschichte zur Fabel s.v. Fabel2, in: Reallex. d. dt. Lit.-wiss. Bd. I, 1997, 555–558.

[13] Vgl. M. Nøjgaard, La fable antique, Bd. I-II, Kopenhagen 1964-1967. H., 10-11, würdigt zurecht die Bedeutung und Qualität dieses Werkes.

[14] Dies betont H., 11, mit Nachdruck.