Galen, On my own opinions. Edition, translation and commentary by Vivian Nutton, Berlin 1999 [= Corpus Medicorum Graecorum V 3,2], 247 Seiten.

Vivian Nutton legt mit der kommentierten Ausgabe von "De propriis placitis" die editio princeps dieser autobiographischen Spätschrift Galens vor, in der dieser, sein Werk resümierend, zu grundsätzlichen naturphilosophischen Fragen Stellung bezieht. Nur ein kleiner Teil des Textes ist im griechischen Wortlaut überliefert; der Rest muß aus zwei lateinischen und einer hebräischen Übersetzung verlorener arabischer Versionen rekonstruiert werden. Diese ungewöhnlich komplizierte Überlieferungslage steht naturgemäß sowohl in der Einleitung als auch in der Kommentierung des Textes (in Form ausführlicher Diskussion von Textproblemen) im Vordergrund. In den umfangreichen Anmerkungen setzt N. die Schrift zudem in den Zusammenhang von Galens Gesamtwerk und in den weiteren medizin- und kulturgeschichtlichen Kontext. Indices der nomina und verba erleichtern den Zugriff auf den Text; ein Sach- und Stellenregister zur Orientierung im Kommentar ist – wie in der Reihe CMG üblich – leider nicht vorhanden.

Bereits 1987 gewährte N. im Festschriftbeitrag für Paul Moraux [1] Einblicke in seine Editionstätigkeit von Galens Schrift "De propriis placitis", die er darin als "fiendishly complex textual puzzle, whose fruits are rarely fresh" charakterisiert (1987: 51). Denn der Text sei, resümierte N. dort (ebd.), nicht durch die Präsentation neuer Inhalte von Bedeutung, sondern vielmehr als ein weiteres Zeugnis von Galens Bemühungen, für das Fortleben und die angemessene Interpretation seines Werkes zu sorgen, indem er es vor Fehldeutungen und Mißverständnissen durch Gegner wie Anhänger zu schützen suchte. Diese Einschätzung begründete N. 1987 durch einige Einblicke in die Editionsproblematik einerseits und in die inhaltlichen Themen und ihre Rezeption durch Alexander von Aphrodisias andererseits. Die editio princeps macht nun den ganzen Umfang der Bedeutung der Schrift und der Komplexität ihrer Überlieferunglage deutlich. Ein Einlick in letztere ist der notwendige Ausgangspunkt jeder Beschäftigung mit "De propriis placitis", und so nimmt die Darstellung der Überlieferungsgeschichte denn auch den größten Teil der Einleitung (14-45) in Anspruch; dementsprechend widmet der Kommentar den mit den Textquellen verbundenen Problemen den meisten Raum.

Von den 15 Kapiteln der Schrift sind nur die letzten beiden zusammenhängend im griechischen Wortlaut überliefert, und zwar unter dem Titel "peri ousias tôn physikôn dokountôn". Dieser Teil des Textes ist seit der Aldina 1525 ediert (IV, 757-765 Kühn) und wird von N. auf der Basis einer neuen Kollation der drei Codices vorgelegt (Laurentianus gr. 74,5, Marcianus gr. 281 und Parisinus suppl. gr. 35), die durch Theodore Goulstons Kollationen aus dem Codex Adelphi ergänzt werden (17-22) [2]. Diese beiden, als getrennter Traktat umlaufenden Kapitel wurden von Niccolò da Reggio (fl. 1308-1345) aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt und sind unter dem Titel "De substantia virtutum naturalium" in sieben Handschriften überliefert (33-37); sie wurden auch in der ersten lateinischen Gesamtausgabe der Werke Galens abgedruckt, die Diomedes Bonardus in Venedig 1490 für Philippus Pincius besorgte. Niccolòs gut dokumentierte Übersetzungstechnik läßt bisweilen Rückschlüsse auf den Wortlaut seiner für uns verlorenen griechischen Vorlage zu, die dem Überlieferungszweig des Laurentianus 74,5 zuzuordnen ist (36f.). Eine einzige Handschrift, Ambrosianus gr. 659, um 1400, bewahrt den griechischen Wortlaut von Kapitel 13,3–7 (16-18). Darüberhinaus sind auf Griechisch nur zehn kürzere verstreute Exzerpte erhalten, die sich in zwei Handschriften mit Extrakten aus Galens Schriften sowie in zwei Handschriften mit Scholien finden (14-16). Die Lokalisierung dieser Exzerpte in der Schrift ist durch eine fast durchgängige lateinische Übersetzung möglich, die aus einer verlorenen arabischen Übersetzung angefertigt wurde. Diese lateinische Version, die in fünf Handschriften überliefert ist, stellt über weite Teile der Schrift (bis auf das Ende des letzten Kapitels) den hauptsächlichen Textzeugen dar (22-31). Das zweite und der Beginn des dritten Kapitels liegen zudem in der hebräischen Übersetzung durch Sehm Tob ben Yosef Ibn Falaquera (ca. 1225 bis nach 1290) vor, die auf eine arabische Übersetzung zurückgeht, deren Text unabhängig von dem der Vorlage für die lateinische Übersetzung gewesen zu sein scheint (31-33). "De propriis placitis" ist demnach in mehreren Gruppen von Textzeugen überliefert, von denen keine allein die Schrift vollständig bewahrt; sie überschneiden sich jedoch derart, daß eine Rekonstruktion des gesamten Traktats möglich ist. Damit wird in der Textrekonstruktion von "De propriis placitis" die Überlieferungsgeschichte von Galens Gesamtwerk in nuce greifbar – auch darin, daß die beiden Stufen der syrischen Rezeption keine Spuren hinterlassen haben.[3]

Im letzten Abschnitt (D) der Einleitung behandelt N. die Stellung von Galens "De propriis placitis" in der griechischen Autobiographie. "Galen was", wie N. pointiert formuliert, "never reluctant to reveal details of his own life or his own opinions. It is a rare book indeed that does not contain some reminiscence of a past achievement or some comment on the society in which he found himself." (45) Anders jedoch als in diesen oft anekdotischen autobiographischen Berichten – von denen vor allem die Werbeschrift "De praecognitione" angefüllt ist – verfolgt Galen in zwei Schriften seiner letzten Schaffensphase ausdrücklich das Ziel, die Authentizität der von ihm veröffentlichten Werke zu besiegeln und damit unter seinem Namen verbreitete Fälschungen erkennbar zu machen. Die erste dieser Schriften ist "De libris propriis", eine Auflistung seiner Bücher mit einer Anweisung, in welcher Reihenfolge sie didaktisch sinnvoll zu lesen seien. Später – denn in Kap. 1 bezieht nimmt Galen ausdrücklich auf "De libris propriis" Bezug – fügte er "De propriis placitis" als sachlich-thematisch gegliederte Schrift gleicher Intention hinzu. Ungewöhnlich für Galen ist dabei zunächst der persönliche Stil, dessen nächste Parallele in den "Kyriai doxai" Epikurs zu sehen ist, ferner auch die große inhaltliche Toleranz gegenüber anderen Meinungen, von denen er einige in früheren Schriften widerlegt hatte (47f.). In ihrer Eigenart kann "De propriis placitis" besser als andere bio-bibliographische Schriften Galen in den Rahmen der spätantiken Gattungsentwicklung der Autobiographie gestellt werden, die in den "Confessiones" Augustins kulminiert: "On my own opinions fits neatly into this picture of a growing self-awareness, of an individual trying to define his own place within the universe, and, as his frequent return to the question of the soul shows, wrestling with his uncertainties even as he attempts to define the certainties of his own belief." (48).

Die Bedeutung der Schrift liegt demnach, wie N. bereits 1987 feststellte (s.o.), mehr in den Schlüssen, die sie über Galens Psychologie zuläßt, als in ihren inhaltlichen Thesen. Dennoch kann eine Rezension der editio princeps nicht darauf verzichten, einen kurzen Abriß über den Aufbau der hier edierten Schrift zu geben. [4]

Im Proöm begründet Galen, ähnlich wie in "De libris propriis", mit einer Anekdote über Fehlinterpretation in Gegenwart und trotz Widerspruchs des Verfassers (hier am Beispiel von Parthenios illustriert) die Notwendigkeit, seine Lehren zusammenfassend darzulegen (Kap. 1,1). Dann geht er in mehr oder weniger assoziativer Reihung verschiedene zentrale Themen durch, die er in einer epistemologischen Dreiteilung behandelt (1,1): er unterscheidet 1. was er sicher weiß ("quod scivi de scientia virtuosa"), 2. was er für wahrscheinlich hält, obwohl es bisher unbewiesen ist ("quod scivi secundum viam sufficientie"), und 3. wozu er keine eigene Meinung hat ("quod est†in ipso† non habeo notitiam cum dixerim quod non sum firmus scientie sue "). In den ersten Kapiteln führt er vor allem einige der in die dritte, agnostische Kategorie fallenden Fragen auf: Ist das Universum geschaffen, gibt es etwas außerhalb davon, welche Eigenschaften hat sein Schöpfer (Kap. 2,1)? Von welcher Substanz sind die Götter, deren Existenz ja durch ihre Wirkungen, durch Träume und Wahrsagung nachweisbar ist (Kap. 2,2)? Welche Substanz hat die Seele (Kap. 3,1), ist sie sterblich oder unsterblich, körperlich oder unkörperlich (Kap. 3,2)? Diese Fragen ergeben sich aus dem thematischen Zusammenhang mit Aussagen der ersten Kategorie, denen Galen sich also sicher ist: Die Seele existiert (Kap. 3,1) und ist Ursache dreier Bewegungen, die aus dem Gehirn, dem Herzen und der Leber entspringen (Kap. 3,2–4; Kap. 7–8). Pflanzen hingegen werden von vier verschiedenen Bewegungen (Anziehung, Festhalten, Verdauung, Abstoßung) beherrscht (Kap. 3,5), ebenso Embryonen (Kap. 3,6). Die Überlegungen zur Bewegung (Kap. 3) leiten zur Betrachtung der Zusammensetzung der Körper aus den vier Grundqualitäten Feuer, Erde, Wasser und Luft über, in der Galen sich Hippokrates anschließt (4,1) und aus der er seine Lehre von drei Typen des Fiebers (Kap. 4,2–5) und neun Temperamenten (Kap. 5) entwickelte. Wärmeleitung durch die – an sich kalten – Nerven ist die Grundlage der Wahrnehmung (Kap. 6), womit wiederum die Frage nach der Seele gestellt ist (Kap. 7). Hier erläutert Galen genauer die bereits angesprochene, auf dem Seelenmodell Platons basierende Dreiteilung der Seelenbewegung mit den Ausgangspunkten Gehirn, Herz und Leber (Kap. 8 und 10). In diesem Zusammenhang grenzt sich Galen gegen andere Ärzte ab, die falschen Theorien anhängen und nicht genau genug beobachten (Kap. 8,1) und daher auch die Veränderungen am Körper, die beispielsweise Medikamente hervorrufen, nicht berücksichtigen (Kap. 9). Er selbst sei in seiner Jugend fremden Theorien zur Entwicklung des Embryos gefolgt, die er jetzt als falsch erkannt habe: seine anatomischen Untersuchungen haben vielmehr ergeben, daß die Leber vor dem Herzen entstehe (Kap. 11). Eine erneute, genauere Behandlung der vier Säfte und der Beeinflussung ihres Gleichgewichts durch Purgativa bei Krankheit (Kap. 12) führt abermals auf die innere Wärme und ihren Zusammenhang mit der Seele (Kap. 13). In der Diskussion von Theorien früherer Naturphilosophen über die Seele verliert sich der Traktat (Kap. 14–15), der in einer Erörterung von Platons Position im Timaios abbricht. N.s Anmerkung zu diesem abrupten Schluß sei in ganzer Länge zitiert - nicht zuletzt, um einen Eindruck von seiner profunden Kommentierung zu geben: "The ending of this book is for a student of Galen profoundly unsatisfactory; repetetive, rambling, uncertain, and concluding with what amounts to a footnote to a discussion in which he himself has apparently no or little interest. In explicating Plato, Galen seems to have lost the thread of his general argument, and to have moved from outlining his major theoriet as a guide to authenticity to defending another's paradox. There is no summing up, such as one finds at the end of De usu partium or De praecognitione, but, as in De placitis Hippocratis et Platonis, Galen simply comes to a stop, even if more might have been said. Galen's tendency, usually kept within bounds, to wander off the immediate point to offer brief observations on a related topic, finally triumphs. The old man's powers to control the overall structure of his investigations are noticeably weaker, his judgement less forceful, his criticisms less vigorous. Whether death, or simply reaching the end of his secretary's bookroll, caused Galen to break off here is a matter only for sad conjecture." (217f.).

[1] V. Nutton, "Galen's philosophical testament: 'On my own opinions'", in: Aristoteles – Werk und Wirkung. P. Moraux gewidmet, hg. v. J. Wiesner, Bd. 2: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben, Berlin u. New York 1987, 27–51.

[2] Zum sog. Codex Adelphi siehe V. Nutton, John Caius and the manuscripts of Galen, Cambridge 1987 (Proceedings of the Cambridge Philological Society, Suppl. 13) und ders., "The Galenic codices of Theodore Goulston", Revue d’Histoire des Textes 22, 1992, 260–268.

[3] Zur Rezeptionsgeschichte Galens im Syrischen, Arabischen, Hebräischen und in der Renaissance siehe die letzten fünf Beiträge in: V. Nutton (Hrsg.), Galen. Problems and Prospects. A Collection of Papers submitted at the 1979 Cambridge Conference, London 1981; vgl. auch G. Strohmaier, "Der syrische und der arabische Galen", ANRW II.37.2, 1994, 1987–2017. – Von den syrischen Versionen sind generell so kümmerliche Reste erhalten, daß sich darunter nichts befindet, das nicht auch auf griechisch vorhanden wäre (Strohmaier ebd. 2011).

[4] Ein ausführlicheres und kommentiertes Resümee gibt N. 1987: 39–44.

 

Sabine Vogt (München)