Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5-493 n. Chr., Stuttgart: Steiner 1999 [= Historia Einzelschriften 133]

Henning befaßt sich mit den politischen Umständen des Unterganges des Weströmischen Reiches. Er verbindet dabei eine ereignis- mit einer strukturgeschichtlichen Betrachtungsweise. Die entscheidende strukturelle Ursache für den Niedergang sieht er im Verlust des Konsenses zwischen den römischen Kaisern und den Eliten des Reiches. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn er neben dieser spezifisch römischen Problematik auch die komplexen Beziehungen zwischen römischen und germanischen Herrschaftsstrukturen stärker in seine Überlegungen einbezogen hätte.

Anders als viele Autoren, die die Diskussion um die Gründe für dieses Phänomen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, ist Henning (H.) bestrebt, die politischen Umstände des Untergangs des Weströmischen Reiches eingehend zu untersuchen, um so eine bessere Grundlage für die Bestimmung der Ursachen zu erhalten.

Zu diesem Zweck setzt er sich mit der politischen Geschichte des Westreiches vom Ende der theodosianischen Dynastie bis zur Errichtung des ostgotischen regnum unter Theoderich auseinander. H. versucht dabei, eine ereignis- mit einer strukturgeschichtlichen Betrachtung zu verknüpfen: Er untersucht den Verlauf der Geschehnisse und erforscht, wie das Verhältnis zwischen Kaisern und sozialen Eliten in dieser Zeit beschaffen und inwieweit Störungen in deren Beziehung an der Krise des Weströmischen Reiches und seinem schließlichen Untergang beteiligt sind.

Eine Untersuchung zu Herkunft, Laufbahn, Umständen der Machtübernahme und Regierungsende der einzelnen Kaiser veranlaßt ihn zu der These, daß die Augusti mehrheitlich eine geringe Akzeptanz bei den sozialen Eliten, insbesondere bei der weströmischen Aristokratie und dem Heer, erfahren, daß dieser Umstand die häufigen Herrscherwechsel fördert und letztendlich die Abschaffung des Kaisertums im Westen begünstigt. Die Gründe dafür sieht H. zum einen darin, daß den Kaisern eine dynastische Legitimation fehlt, und zum anderen in der Tatsache, daß sie aufgrund der prekären außenpolitischen wie fiskalischen Situation außerordentlich geringe Handlungsspielräume haben, was es ihnen vielfach unmöglich macht, die Erwartungen der sozialen Eliten - der Senatsaristokratie, des Heeres und der Kirche - zu erfüllen.

Die Schwäche des Kaisertums fördert nach H. außerdem eine "Fragmentierung" der Eliten, die die Reichskrise ihrerseits verschärft. Er macht sie zunächst im ordo senatorius in den verschiedenen Regionen des westlichen Reichsteiles aus: Mit dem Ende der theodosianischen Dynastie gehen die stabilen Bindungen der Senatsaristokratie an das Kaisertum verloren. Es kommt zu Rivalitäten und wechselnden Machtkonstellationen innerhalb der sozialen Oberschicht, die zu zahlreichen Usurpationsversuchen führt und damit das Kaisertum unterminiert. Zudem wird auf diese Weise nach H. die Homogenität innerhalb des ordo senatorius zerstört, was sich u.a. darin äußert, daß regionale Beziehungen hier zunehmend wichtiger werden als die Bindung an Rom.

Hinzu kommen fundamentale Probleme beim Heer. H. führt in diesem Zusammenhang insbesondere den Konflikt zwischen Kaisern und Heermeistern an, speziell die zunehmende Entfremdung der Soldaten von den Kaisern, die am militärischen Geschehen kaum mehr Anteil haben und immer weniger in der Lage sind, Sold zu zahlen und Donative zu geben. Infolge dessen kommt es zu einer starken Bindung der Soldaten an die Heermeister. Ähnlich wie in der Senatsaristokratie macht H. auch hier eine "Fragmentierung" aus, indem sich verschiedene Heeresverbände, insbesondere die buccellarii und Föderaten, verselbständigen und vielfach nicht mehr mit der Zentrale kooperieren.

Die Kirche ist die einzige der Institutionen, die H. der Elite zurechnet, bei der er keine krisenhaften Veränderungen infolge der politischen Entwicklung ausmacht. Sie profitiert im Gegenteil vom allgemeinen Niedergang staatlicher Strukturen, indem sie in die Lücke treten kann, die der Staat hinterläßt. Das Ende des westömischen Kaisertums und schließlich die weitgehende Unabhängigkeit von Konstantinopel erhöht ihren Handlungsspielraum sogar noch.

Die Reichskrise wird durch die Abschaffung des Kaisertums im Westen unter Odoaker gemindert und dann durch die Maßnahmen Theoderichs endgültig überwunden. Odoaker ist gemäß H. wieder in der Lage, die Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen der Elite zu erfüllen, indem er dem fundamentalen Konflikt zwischen Kaisern und Heermeistern die Basis entzieht sowie die fiskalische Situation des Reiches verbessert und damit vor allem den Interessen des Heeres wieder entsprechen kann. Durch Förderung des Senates und der großen Familien des ordo senatorius kann er auch diese für sich gewinnen. Seine einzige Schwäche sieht H. darin, daß es ihm nicht gelingt, seine Nachfolge erfolgreich zu regeln und damit sein "imperiales Königtum" zu perpetuieren. Theoderich vermag es schließlich, die pars Occidentis zu stabilisieren und den gesellschaftlichen Konsens wiederherzustellen.

Die Stärken dieser Arbeit liegen vor allem in der Ermittlung historischer Details, beispielsweise in den Untersuchungen zu den einzelnen Kaisern oder den führenden Magistraten. Sie kommt damit dem Ziel, die politischen Ereignisse in der Phase des Unterganges des Weströmisches Reiches möglichst detailliert zu erforschen, überzeugend nach.

Etwas problematischer verhält es sich hingegen mit den strukturgeschichtlichen Überlegungen. Viele Versuche, zur Erforschung der politischen Struktur des Römischen Kaiserreiches primär die Interaktion zwischen Kaisern und sozialen Eliten in den Blick zu nehmen, haben sich in den letzten Jahren als sehr erfolgreich erwiesen. Auch H. gelangt damit zu überzeugenden Teilergebnissen, wenn man sich auch wünschte, daß er den Elitenbegriff, mit dem er arbeitet, klarer definierte.

Allerdings ist zu überlegen, ob ein solcher Interpretationsansatz, der sich auf spezifisch römische Strukturelemente beschränkt, für die von H. untersuchte Phase nicht etwas zu kurz greift. Insbesondere ist zu überdenken, ob eine strukturgeschichtliche Betrachtung hier nicht stärker das komplexe Verhältnis zwischen den traditionell römischen und den germanischen Herrschaftsstrukturen berücksichtigen müßte. Es dürfte lohnen, in diese Richtung noch weiterzudenken.

 

Karen Piepenbrink (Mannheim)