F. Grewing (Hg.), Toto notus in orbe: Perspektiven der Martial-Interpretation. Stuttgart (Steiner) 1998. Palingenesia: 65. 366 S. DM 148.-.

Der Band enthält sechs deutsch– und zehn englischsprachige Orginalbeiträge von sechzehn Autoren aus neun Ländern: die titelgebende Selbstaretologie Martials findet so ihre posthume Bestätigung! Alle wesentlichen Aspekte der Martial-Forschung werden angesprochen: Frühwerk, Intertextualität, Komposition, Motivik und Sprachkunst. Ausführliche Bibliographien (!) erleichtern die Benutzung, doch bedauerlicherweise fehlt ein Stellenregister. Trotz der unterschiedlichen Qualität seiner Beiträge verdient der Band höchste Beachtung.

Die klassische Philologie ist lebendiger als mancher Pessimist wahrhaben will: kaum hat sich die Kunde von einem "neuen Ovidzeitalter" (N. Holzberg, Ovid, München 21998, 11) verbreitet, zeichnet sich bereits ein Machtwechsel zugunsten einer aetas Martialis ab. Diese für alle "martialists" begrüßenswerte Entwicklung verdankt sich nicht nur den triarii Holzberg und J.P. Sullivan – sie stellen mit ihren 1988 (Martial, Heidelberg) bzw. 1991 (Martial: The Unexpected Classic, Cambridge) erschienenen Monographien grundlegendes Rüst- und Handwerkszeug bereit – sondern auch den Bemühungen der neoteroi der Zunft.

Farouk Grewing ist einer von ihnen: Nach seinem bemerkenswerten, Bruno-Snell-Preis-gekrönten Kommentar zu Buch 6 (Göttingen 1997), dem ein Beitrag im Hermes ("Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs: Martials Diadoumenos und Catulls Lesbia", Hermes 124, 1996, 333–354) vorausging, veröffentlicht er nun einen Sammelband zu dem Epigrammatiker, den ersten seiner Art in Deutschland. Das Projekt demonstriert Ehrgeiz: der Band biete keinen historischen Überblick über die Martial-Forschung der letzten Jahrzehnte (in der Art der WdF- Bände der WBG) – "das brächte die Forschung ja auch nicht weiter" (13) – sondern vereinige ausnahmslos Originalbeiträge.

Dieses Verfahren zeugt von Mut und Risikobereitschaft, da es den sicheren Grund einer communis opinio verläßt, bietet aber auch unbestreitbare Vorteile. Aktualität ist die eine Stärke des Bandes (die Beiträge dürften in der Regel zwischen 1995 und 1998 entstanden sein), Methodenpluralität die zweite: beabsichtigt sei eine heterogene Sammlung, die sowohl literaturwissenschaftliche als auch sozialgeschichtlich orientierte Autoren zu Wort kommen läßt, ohne daß das Martialverständnis des Herausgebers als normierende Kraft Einfluß genommen hätte (13).

Jeder Beitrag weist ein eigenes Literaturverzeichnis auf, am Ende des Bandes findet sich zusätzlich eine knappe Auswahlbibliographie des Hg. (zu ergänzen in 3.1: H.C. Schnur, Martial, Epigramme. Ausgewählt, übersetzt und erläutert, Stuttgart 1966). So leserfreundlich diese Konzeption ist, sie ersetzt nicht einen Index locorum. Gerade weil die einzelnen Beiträger oftmals die gleichen Gedichte unter verschiedenen Aspekten interpretieren und, vom Hg. ausdrücklich begrüßt, auch zu unterschiedlichen, z.T. sogar gegensätzlichen Ergebnissen gelangen (13), ist ein Stellenregister unverzichtbar! Der Band ist sorgfältig ediert, lediglich zweimal haben sich Computerfehler eingeschlichen (186: Formatierung; 366: Ausrichtung der Seitenzahl): Druckfehler sind erfreulich selten (18, Z.3: Anth.; 91, Z.19; 112, Z.19; 195, Z. 23: very; 228, A.34 : III 42,3f.; 260, Z.6).

Im "Vorwort" (7–14) geht der Hg. kurz auf die Situation der Martial-Philologie ein: er verweist auf den enormen wissenschaftsgeschichtlichen Einfluß, den O. Seels negative Haltung in seinem "Ansatz" (A&A 10, 1961; ND 1969 und 1993) auf die Martial-Rezeption auch heute noch ausübt (trotz Holzberg, der mit seinem "Neuansatz" in WJA 12, 1986 deutlich andere Akzente setzte!). Man könnte geradezu von einem "Seel-Komplex" sprechen, dem auch der Hg. und manche seiner Beiträger zu erliegen scheinen, denn auf die moralische Verurteilung des Dichters folgt nun die moralische Rehabilitierung: der heutige Leser, so G. (9), sei in der Lage, "an den Gedichten sexueller Thematik eine moral-, d.h. gesellschaftskritische (...) Intention abzulesen" (so auch Holzberg 1988, 58: "moralkritisches Engagement"). Immer noch scheint es nicht opportun, die literarische Meisterschaft derartiger, nur vordergründig derb-obszöner Epigramme herauszuarbeiten, sie also als hochgelehrte, in ihrer polysemen Anlage raffiniert anzügliche Unterhaltungsliteratur zu rezipieren, die desto mehr Vergnügen birgt, je gebildeter der Leser ist.

Zu Recht distanziert sich G. von einer autobiographischen Lektüre der Epigramme, "eine heute immer noch anzutreffende, aber bekanntermaßen vollends sträfliche Methode" (10) – eine Einsicht, der sich nicht alle Beiträger des Sammelbandes verpflichtet fühlen. Abschließend verweist G. auf die vergleichsweise guten Bedingungen für die Martial-Philologie (11ff.): die seit Jahren vergriffene Übersetzung R. Helms ist jetzt ersetzt durch die vorzügliche Tusculum-Bilingue von P. Barié und W. Schindler, zu den Büchern 1, 5, 6, 11 und 14 liegen moderne Kommentare vor.

Zwei Aufsätze befassen sich mit dem Frühwerk Martials. K.M. Coleman untersucht den liber spectaculorum (ls) in vier Aspekten: Das Buch der Schauspiele als Bericht über die Einweihung des Colosseums, als Verewigung der Freigebigkeit des Stifters, die Stellung des Buches im Gesamtwerk Martials und die Bedeutung der Einweihung des Amphitheaters für Titus. Es sei bemerkenswert, so C., daß im ls eine Ekphrasis des miraculum Colosseum fehle: im Mittelpunkt der 33 Epigramme stehe die gloria des Stifters Titus. Im Einleitungszyklus c. 1–3 werde er als volksfreundlicher "Demokrat" (3,12 verus patriae pater) gepriesen, der das größte architektonische Weltwunder (c.1) an die Stelle der "absolutistischen" domus aurea des Tyrannen (dominus) Nero gesetzt habe, zum "Vergnügen des Volkes" (2,12). Martial nennt diesen programmatischen architektonischen Akt pathetisch reddita Roma sibi est (2,11), m.E. unverkennbar eine Anspielung auf die Rückgabe des res publica an den Senat 27 v. Chr. durch Octavian (Aug. Mon. Ancyr. 34). Ein Vergleich der Epigramme 4-33 mit der Seneca zugeschriebenen "laus Caesaris"-Sequenz (AL 417–24 SB) oder mit den Berichten über die Schauspiele in Augustus’ res gestae zeige die literarische Eigenart und Souveränität Martials: durch die Präsentation von ungewöhnlichen, überraschenden Situationen abseits vorgegebener literarischer Standards erweise der Dichter dem Raffinement des kaiserlichen Veranstalters seine Referenz. C. kann eine überzeugende Erklärung für eine separate Publikation des ls anführen: die Epigramme erfüllten zwei Funktionen: die Erhöhung des Ereignisses der Einweihungsfeierlichkeiten (gloria) sorgte zugleich für die Verbesserung der Stellung des Autors bei Hofe. Der ls sei, so die zentrale These von C. (30), Hofdichtung par excellence. 11 von 33 Epigrammen seien an den Kaiser adressiert, die Überreichung eines Gedichtes beim Kaiser, so schließt C. aus Statius praef. 28f. zu silv. 4, konnte bedeutsamer sein als die Veröffentlichung selbst. Der Hof sorgte dann für die offizielle Verbreitung unter den politischen Eliten des Reiches.

Wie sehr Titus daran gelegen war, das Amphitheater als ausschließlich eigene Leistung gewürdigt zu sehen, beweise die Manipulation einer Bauinschrift: vermittels eines nachträglich eingefügten T in die Bauherrenangabe IMP[T]CAESVESP usurpiert Titus den Ruhm, der eigentlich seinem Vater als Initiator des Baus zustünde (31; nach G. Alföldy, ZPE 109, 1995, 195–226). Keine Frage, daß die memoria an das 100tägige Einweihungsspektakel nicht nur durch Münzen, Mosaiken und Freskomalereien, sondern auch durch loyale Dichter zuverlässig zu sichern war: das sei für Martial die Chance gewesen, als poeta laureatus seine Stellung an Titus’ Hof zu festigen. Hypothetisch, aber nicht abwegig erscheint C.’s weiterführender Gedanke, daß die frühe Fixierung auf Titus für Martials Karriere zunächst negative Konsequenzen gehabt habe. Sie sei der Grund dafür gewesen, daß Martial in der Folgezeit unter Domitian so lange ohne "imperial patronage" habe auskommen müsse: erst gegen Ende von Domitians Herrschaft komme es zu einer Annäherung, wie aus dem "marked increase in imperial content" (33) in Buch 9 zu schließen sei. Dieser interessante, kenntnisreiche Aufsatz, einer der besten des Sammelbandes, weckt die Neugier des Rez. auf C.’s Kommentar zum ls, der in Kürze erscheinen soll (Grewing 1997,15).

Enttäuschend hingegen der Beitrag von T.J. Leary zu den Büchern 13 (Xenia) und 14 (Apophoreta). Auch er ist zwar ein Kenner der Materie – 1996 erschien sein Kommentar zu Buch 14, eine von C. betreute PhD-Dissertation, ein Kommentar zu Buch 13 ist geplant – doch seine Ausführungen wirken veraltet und erfassen die einschlägige Literatur nicht vollständig. Mehrfach wird – in kryptisch unvollständiger Zitierweise – auf die erste (!) Auflage von Wight Duffs Literaturgeschichte (1930!) verwiesen (nicht in der Bibliographie!), wichtige deutschsprachige Saturnalia-Literatur wird übergangen: so K. Bringmann, "Der Triumph des Imperators und die Saturnalien der Sklaven in Rom", in: Das Fest, hg. v. U. Schultz, München 1988, 50–58 und M. Fuhrmann, "Fastnacht als Utopie. Vom Saturnalienfest im alten Rom", in: Narrenfreiheit, Tübingen 1980, 29–42; M. Lausberg, Das Einzeldistichon. Studien zum antiken Epigramm, München 1982, enthielte 29 (!) relevante Stellen zu Mart. 13 und 14; die ‘jüngste’ Literaturangabe "Leary 1996" (sein Kommentar zu Buch 14) spiegelt laut Vorwort den Forschungsstand von 1994 wieder: ein ‘update’ wäre dringend wünschenswert gewesen!

Nach kurzen Vorbemerkungen zum Charakter der Saturnalien und zur Datierung (hier fehlt der Verweis auf M. Citroni, Pubblicazione e dediche dei libri in Marziale, Maia 40, 1988, 3–38 und besonders unhöflich, da Co-Autor im Sammelband, auf R.A. Pitcher, "The Dating of Martial Books 13 and 14", Hermes 113, 1985, 330–339) folgen Ausführungen zu Struktur und Komposition. Die Gedichte in Buch 13 spiegeln die Speisefolge eines Festbanketts wieder (Hors d’oeuvres, Geflügel, Fisch, Wild, Wein ...), gerahmt von Schmeicheleien gegenüber Domitian (13,4 und 13,127). Auch innerhalb der Hauptgruppen seien Kompositionsprinzipien erkennbar wie z.B. stoffliche Zusammengehörigkeit (Getreide, Salat, Obst) oder paarweise bzw. alternierende Anordnung. Auch in Buch 14 gebe es strenge Gliederungsprinzipien erkennbar: Wechsel von wertvollen und einfachen Geschenken, paarweise Anordnung von Standard- und Luxusversion des gleichen Apophoretons, Ergänzung eines billigen durch ein teures Geschenk oder die Kombination zweier nicht zusammengehöriger Geschenke mittels Wortwiederholung (40f.). Intention dieser ausgeklügelten Komposition sei die Gewinnung des Leserinteresses, so L.: trotz der Strukturzwänge, die die literarische Form des Zweizeilers und die Monotonie des Themas mit sich bringe, solle der Leser in die Lage versetzt werden, ohne Ermüdungserscheinungen den ganzen liber zu lesen.

Anschließend stellt L. Überlegungen zur literarischen Qualität der Bücher 13 und 14 an: "they were intended as a literary tour de force" (42): so sei Buch 14 als eine Art von Saturnalia-Geschenk-Katalog anzusehen, der die Saturnalia-Tradition an ihre Grenzen führe. Panegyrisch gefärbte Gedichte an Domitian dürfe man nicht als moralische Verfehlung kritisieren (z.B. 14,179; hierzu Lausberg 207!), sondern sie seien Bestandteil einer literarischen Tradition, die das Verhältnis patronus-cliens thematisiere. Immer wieder gebe es Gedichte, die deutlich als parodistische Anspielungen auf andere literarische Genres zu verstehen seien: Liebeselegie (14,8.9), Epos (14,66) und die Verbindung beider Gattungen im erotischen Mythos (14,175; hierzu Lausberg 208!). Humor und Witz gelte es noch vertieft zu untersuchen: hier verweist L. auf seinen noch unveröffentlichten Kommentar zu Buch 13. Trotz der Lizenzen, die der Saturnalia-Kontext gestatten würde, gebe es nur wenige wirklich obszöne Gedichte in den Büchern 13 und 14. L. untersucht zwei Beispiele, verharrt mit seiner Interpretation aber an der denotativen Oberfläche: in 13,65 räsonniert er über die Möglichkeit von "aquatic sex", ohne die einschlägigen englischen (!) Miszellen zu kennen (A. Cameron, "Sex in the Swimming Pool", BICS 20, 1973, 149f.; B. Baldwin, "Aquatic Sex", LCM 6, 1981, 25; zu 13,65 auch Grewing 1998 in seinem Beitrag 351f., ebenfalls ohne Literatur!); zu 13,26 jetzt ausführlich Rez., Martial und der Diskurs über ‘Homosexualität’, Tübingen 1998, 184 mit Literatur.

Drei Beiträge sind dem Phänomen Intertextualität gewidmet: Berücksichtigt wurden dabei Catull, Ovid und Statius, nicht aber die Epigramme des Corpus Priapeorum oder der Anthologia Graeca: "Freilich versteht es sich von selbst, daß nicht ‘alle’ Bereiche der Martial-Forschung abgedeckt werden konnten" (G. 13), aber im Falle Stratons (AG 12) ist dies doch bedauerlich, da der Kommentar von W. Steinbichler, Die Epigramme des Dichters Straton von Sardes. Ein Beitrag zum griechischen paiderotischen Epigramm, Frankfurt/M. 1997, in dieser Hinsicht versagt.

Bruce W. Swann liefert in seinem Catull-Beitrag eine Kurzfassung der ersten beiden Kapitel seiner Dissertation Martial’s Catullus. The Reception of an Epigrammatic Rival. Hildesheim 1994, 10–81. Anhand einer Reihe von Textbeispielen zeigt S. auf, wie der Epigrammatiker Catull, der meistgenannte Dichter in Martials Epigrammen, für Martial als wichtiges Modell für Motivik, Zyklen oder (poetologische) Schlüsselbegriffe diente. Eine recht allgemeine Beobachtung, die nur wenig über die kurzen Ausführungen Sullivans (1991, 95f.) hinausweist. Einschlägige Literatur wird nicht immer vollständig zitiert: zu 10,78 wäre H. Offermann, "Uno tibi sum minor Catullo", QUCC 5 ,1980, 107–139 zu nennen, in 50, Anm. 2 fehlen W. Burnikel, Untersuchungen zur Struktur des Witzepigramms bei Lukillios und Martial, Wiesbaden 1980 (Palingenesia [!] 15) Keydell, "Bemerkungen zu den griechischen Epigrammen", Hermes 80, 1952, 497–500, Lausberg, Das Einzeldistichon 1982 und A.K. Siems, Aischrologia. Das Sexuell-Häßliche im antiken Epigramm, Diss. Göttingen 1974.

R.A. Pitchers Beitrag zu Ovid ist wesentlich ergiebiger. Er interpretiert die mannigfachen Bezüge zwischen Martial und Ovid und arbeitet ihre Differenzen heraus: in den ersten beiden Abschnitten (59–65; 65–72) wird gezeigt, wie Martial Grundtopoi der Exildichtung Ovids aufgreift: das Buch als Mittler zwischen "Exil"-Autor und Rom (Ov. trist. 3,7 – Mart. 3,4), Tränen bei der Lektüre auf den Wangen des jeweiligen Fürsprechers (Ov. trist. 1,1,27f. – Mart. 12,2,15f.). Auch die Domitian-Gedichte Martials versteht P. als produktive Imitatio der an Augustus gerichteten "unterwürfigen" Passagen in den Tristien Ovids: "By referring back to aspects of Ovid’s exile poetry Martial is able to present himself as the superior of Ovid, and acceptable to the emperor." (71f.). Mart. 7,5–8 stelle die Grundkonstellation Ovids sogar auf den Kopf: Nun ist der Kaiser "im Exil" (während des Feldzugs gegen die Sarmaten), und Rom sehnt sich nach Domitians Rückkehr, wie Ovid sich nach seiner eigenen Rückkehr gesehnt hat (69f.). Selbst Ovids Liebeselegien, die sich doch hinsichtlich der Thematisierung von Sexualität deutlich von Martials Epigrammen unterscheiden, seien mit Themen und Motiven bei Martial vertreten: Mart. 1,1 – Ov. am. 1,15 (Unsterblichkeit), Mart. 1,73 – Ov. am. 2,19 (Bewachung-Attraktivität), Mart. 11,104 als kurzgefaßte Ars amatoria und Mart. 5,46 – Ov. am. 1,7 (Schläge). Die Attraktivität Ovids für Martial erklärt P. treffend in seinem Schlußresümee: "Martial found in Ovid a writer who had to defend himself and his work and approach an emperor with respect and care."(75).

Drei kritische Hinweise seien gestattet: Ovids Impotenzelegie am. 3,7 wird von Martial ebenfalls aufgegriffen (Rez. 1998, 289f.). Methodisch überholt ist die Auffassung, daß Ovid – anders als Martial – autobiographisch zu deuten sei (74f.): hierzu Holzberg, Ovid 21998, 20ff., 31ff. und passim. P.’s Deutung von Mart. 5,46,4 "Diadoumenos spoils it by accepting M.’s violence" (74) geht fehl: hierzu P. Howell, Martial, Epigrams V, Warminster 1995, 131; Grewing 1996, 341; Rez. 1998, 66f.

Der materialreiche Beitrag von Christer Henriksen zu Martial und Statius wird dominiert von der Fragestellung, ob und inwieweit ein persönliches Rivalitäts- und Feindschaftsverhältnis zwischen beiden Autoren bestanden habe. Die Qualität der Beobachtungen leidet an einem beachtlichen Mangel an interpretatorischer Distanz: so glaubt H. tatsächlich (96), daß Mart. 6,42 und Stat. silv. 1,5 Resultate eines ‚poetry-slam‘ seien, der nach der Besichtigung des Bades des Claudius Etruscus während der cena stattgefunden habe, und daß die Texte in dieser improvisierten Form, gewissermaßen als ‚boot-leg‘, auch veröffentlicht worden seien!

In vier Abschnitten werden Biographie, intertextuelle Ähnlichkeiten, Gedichte an dieselben Adressaten über dasselbe Thema und die Verteidigungen gegen Angriffe namentlich ungenannter Widersacher vorgestellt und verglichen. Ergebnis dieses streckenweise höchst spekulativen Aufsatzes: Eine "gehässige Stimmung" (113,117) zwischen Martial und Statius habe erst in den Jahren 94/95 geherrscht, die apologetischen Texte Mart. 9,50, 9,81 und Stat. praef. zu silv. 4 seien Reaktionen auf die jeweilige Kritik des Rivalen.

Die beiden Beiträge zur Komposition sind vom Hg. gut plaziert und ergänzen einander: Johannes Scherf gibt im Anschluß an einen kurz gehaltenen, aber sehr informativen Forschungsbericht einen wohlstrukturierten allgemeinen Überblick über die Kompositionsstrategien Martials in den Büchern 1 bis 12 . Zu Recht stützt er sich dabei auf die soliden Vorarbeiten von K. Barwick, Philologus 87, 1932, 63–79 und 102, 1958, 284–318, N.M. Kay, Martial Book XI, London 1985, Holzberg 1988 und E. Merli, Maia 45, 1993, 229–256. Die Ausführungen zu Buch 9 (134f.) sind bibliographisch zu ergänzen mit J. Garthwaite, "The Panegyrics of Domitian in Martial, Book 9", Ramus 22, 1993, 78–102.

Elena Merli untersucht exemplarisch die kleinen Systeme in den Büchern 3 und 5. In kritischer Distanz zu Barwicks Methode, der das einzelne Gedichtbuch nach Symmetrien und Zyklen untersuchte, empfiehlt M. eine serielle Lektüre, d.h. "eine Lektüre der Gedichte in ihrer direkten Abfolge unter Berücksichtigung ihres heterogenen Charakters" mit dem "Vorteil, daß sie mit dem Hergang und Verfahren der Lektüre übereinstimmt, wie sie im Altertum erfolgte" (141) und führt diese exemplarisch vor. Besonders überzeugt die serielle Lektüre der ersten 20 Epigramme des Domitian gewidmeten fünften Buches.

Ganz in der Tradition eines hellenistischen Gedichtbuches folgt als nächster Beitrag John Garthwaites politische Interpretation von Buch 5. Auch er geht davon aus, daß die Epigramme 1-20 raffiniert angeordnet sind. G. unterzieht die Gedichte einer eingehenden "seriellen" Interpretation und kommt zu dem überraschenden, von Sullivan 1991 und Howell 1995 (171, Anm. 33) abweichenden Ergebnis, daß Buch 5 nicht als ernstgemeinte, rückhaltlose Domitianpanegyrik zu verstehen sei. Der Kaiser als intendierter, wiederholt um Unterstützung gebetener patronus zeige sich noch in 5,19,17 für die Werbung des Dichters unempfänglich: er gebe sich als Ahnungsloser, der sich zu keinerlei Gegenleistungen verpflichtet fühlt. So scheitern die "Werbegedichte" Martials, die unmittelbar anschließende epikureisch gefärbte Utopie eines Nicht-Klienten-Lebens in 5,20 spiegele die Verärgerung und die Enttäuschung des Dichters wieder, sie sei ein "postscript to the exploration of his (i.e. Martial’s) relationship with the emperor." (170).

Peter Howell untersucht in seinem Beitrag das "Spanienbuch" Martials (Mart. 12) in seiner Widersprüchlichkeit: In einer gelungenen vergleichenden Interpretation zeigt er, wie der Jubel in 12,18 über das geruhsame und doch alle sexuellen Möglichkeiten bietende Landleben der Enttäuschung in 12,68 weicht, wo der Sprecher einem lästigen Klienten entnervt mit der Rückkehr nach Rom droht. Auch die apologetische Praefatio zum 12. Buch, in der Martial seinen drei Jahre währenden "Schreibblock" zu erklären versucht, ist für H. ein Dokument der Ernüchterung.

Eugene O’Connor untersucht alle Priapeen Martials. In der Pose eines "moral jester", so OC.’s These, thematisiere Martial traditionelle Wertvorstellungen und Aberrationen. Nach einem sehr knapp gehaltenen Rückblick auf die Geschichte des Priapus als literarische Figur, in dem OC. die frühe Datierung des Corpus Priapeorum aufrechterhält (189), wendet er sich zunächst den programmatischen Epigrammen 1,35, 3,68, 12,43, 11,6, 11,15, 11,16, und 11,90 zu, wobei er wichtige Literatur unberücksichtigt läßt (zu 1,35 G. Erb, Zu Komposition und Aufbau im ersten Buch Martials, Frankfurt/M. 1981, 41–87; zu 1,35,und 3,68 J.P. Hallett, Nec castrare velis meos libellos. Sexual and Poetic Lusus in Catullus, Martial and the Carmina Priapea, in: C. Klodt (Hg.), Satura Lanx. FS W.A. Krenkel, Hildesheim 1996, 323f.). Scharfsinnig ist OC.’s Interpretation des polysemen mentula sapiat in 11,90,8: "... Martial, playing the Priapic role – appropriate here since Priapus can stand as a symbol of epigram – may invite Chrestillus figuratively to fellate him" (195). Zu deutsch: die sexuelle Aufforderung "leck mich" der mentula poetae entspricht poetologisch dem Befehl "lies mich" des carmen poetae.

In einem reichlich unsystematischen zweiten Teil untersucht OC. Gedichte des Martialis purus, in denen er die moralische Unreinheit anderer kritisiert: Bei der Interpretation von 6,49 fehlt ein Hinweis auf die Passage in Grewings Kommentar (1997, 342), der den ausführlichen "Feigendiskurs" der Forschung vorzüglich zusammenfaßt; ebenso ahnungslos kapituliert OC. mit L. Friedländer (1886!) vor 9,67, einem Epigramm, das seit A.E. Housman 1907 (The Classical Papers II, 725) vor allem die englische Forschung beschäftigt hat!

Der dritte Teil handelt vorwiegend von Priapus im Garten, seinem angestammten Platz. Interessant der Kontrast von 6,72 und 6,73: Der hilflose, gestohlene Priapus aus 6,72 wird abgelöst von einem kraftstrotzendem Kunstwerk (nobile opus) aus Zypressenholz (6,73). Ähnlich raffiniert die in ihrer Absurdität analogen Entsprechungen, die OC. für 11,18 und 11,51 aufspürt: Martials Landgut in 11,18 ist so klein, daß nur ein halber Priap ohne Sichel und mentula Platz findet; ähnlich eng ist’s dem mit einer abnorm großen columna ausgestatteten Titus in seinen großen Thermen beim Baden. Trotz dieser gelungenen Einzelbeobachtungen wird der Stellenwert der interpretierten Texte bzw. die Intention OC.’s nicht deutlich.

Auch das Schlußresümee vermag insgesamt nicht zu überzeugen: Die figurativ-poetologische Gleichsetzung der mentula Priapi mit mentula poetae bzw. carmen poetae leuchtet ein, doch Martial zum Verteidiger von Domitians "moral program" (202) zu erklären, nur weil er angeblich (wieder ohne Verwendung einschlägiger Literatur!) eine Abneigung gegen Masturbation (für OC. 202f. klar eine Form der Kastration!) zeigt, ist vollkommen unhaltbar.

Bestimmendes Kompositionsprinzip des Schlußdrittels des Sammelbandes ist paarweise Anordnung. Dabei kommt es in den Aufsätzen, die Wertvorstellungen und soziale Normen untersuchen, zu inhaltlichen Überschneidungen. Willibald Heilmann interpretiert eine Reihe von Gedichten zum Thema "Leben und Tod" und kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie in seinem Aufsatz "‘Wenn ich frei sein könnte für ein wirkliches Leben...’ Epikureisches bei Martial",. A&A 30, 1984, 47–61: Martial sei ein pragmatischer, undogmatischer Epikureer, der mitunter auch stoisch geprägtes Verhalten wie Selbstmord gutheiße (216–18).

Uwe Walter versteht die Epigramme Martials als "Diskurs über das ‘richtige’ Verhalten" (222) und sucht in den Gedichten nach einer "Grammatik des Sozialen" (223). Er zeigt dabei keine Sensibilität für den polysemen Witz der Texte und isoliert die ‘normativen Belegstellen’ aus ihren inhaltlichen und formalen Kontexten: so formuliert 9,63,2 kein "apodiktisches Urteil" über männliche Prostitution (233), sondern erschließt sich nur mit Blick auf 1,58, wo der Sprecher seiner eigenen mentula ein ähnlich geschäftstüchtiges Verhalten empfiehlt, wie es die mentula des Phoebus praktiziere: diese habe für ihren Besitzer schon 2 Millionen ‘angeschafft’. Die methodischen Nachteile einer derartig ‘isolationistischen’ Lektüre gegenüber einer seriellen werden deutlich, wenn man Merlis (151f.; s. S. 4) oder Garthwaites (169f.; s. S. 4f.) Interpretationen von 5,19 mit der oberflächlich wirkenden Walters vergleicht.

Patronage und Freundschaft stehen im Mittelpunkt der nächsten beiden Beiträge. A.L. Spisak formuliert die These, daß die "giftgiving poems" nicht als ernstgemeinte Bitte um materielle Unterstützung, sondern als "sophisticated moral dialogues on trust and friendship" (243; 254) zu verstehen seien. Die persona der Epigramme Martials vermeide nach Möglichkeit das hierarchische cliens-patronus-Verhältnis und bevorzuge "the language of amicitia" (244). Spisak folgt der Position P. Whites (JRS 68, 1978, 74–92), wenn er mutmaßt, daß die persona Martialis zu den wohlhabenden Adressaten der Epigramme in einer relativ gleichrangigen, freundschaftlichen Beziehung stehe, die beiderseitigen Nutzen gewährleiste. Die Interpretation einiger einschlägiger Epigramme wird m.E. unnötig mit einer "modern theory of social exchange" überfrachtet (248ff.). Dieser ‘Überbau’ verstellt den Blick auf den ironischen Witz, der so manchen "giftgiving poems" innewohnt. Bibliographisch nachzutragen wäre ein Hinweis auf die luzide Zusammenfassung der Saller-White-Kontroverse bei Holzberg 1988, 70f und auf M. Puelma, "Dichter und Gönner bei Martial", in: Labor et lima. Kleine Schriften, Basel 1995, 415–466.

Marc Kleijwegt versteht seinen Essay als Vorstufe zu einer Studie über "Various Dimensions of Friendship in Martial". In einer bemerkenswert klaren und differenzierten Einleitung (256ff.), in der er sich auch gegen eine eindimensionale sozialhistorische Interpretation Martials ausspricht, gibt er Auskunft über sein Vorgehen. Zunächst versucht er in kritischer Distanz zu Sallers Position eine Unterscheidung zwischen Patronage und Freundschaft zu treffen (256–64); im zweiten Abschnitt werden typische Beschwerdegedichte analysiert; der Hauptteil ist der Untersuchung "exemplarischer Freundschaften" gewidmet: "Deep Friendship" zwischen Quintus Ovidius und Caesonius Maximus (267ff.), "Onesided Friendship" zwischen Quintus Ovidius und Martial (270ff.) und zuletzt "Friendship between Equals: Martial and Martialis"(273ff.). Ergebnis: "Friendship in Martial is obviously a social phenomenon which coexists with patronage" (276). Damit widerspricht K. energisch der These D. Konstans (Friendship in the Ancient World, Cambridge 1997), daß sich das antike Verständnis von Freundschaft nicht wesentlich von dem heutigen Konzept unterscheide (257; 276).

Die letzten Beiträge wenden sich einem komplexen, in den letzten Jahren eher vernachlässigten Feld der Martial-Philologie zu, der Sprachkunst und dem Wortwitz Martials. M.A.P. Greenwood erstellt ein "language of rumour"-Kompendium, das 37 dem Wortfeld "Klatsch-Gerücht" entnommene Begriffe auflistet und sie je nach Verwendung 6 thematischen Kategorien zuweist: "’General’, ‘Literary’, ‘Mischief-making’, ‘Mythological’, ‘Satirical’ and ‘Sexual’" (279). Es wird niemanden überraschen, daß die Kategorie "sexual" die meisten Einträge zu verzeichnen hat: 9 Gerüchte über sexuelle Abweichungen betreffen Männer, 8 Frauen. Diese wortstatistische Erhebung wird für so manche Miszelle nützlich sein, ansonsten muß sich der etwas ratlose Leser mit der reichhaltigen Bibliographie begnügen (zu ergänzen lediglich W. Goldberger, "Kraftausdrücke im Vulgärlatein", Glotta 18, 1930, 8–65 und 20, 1932, 101–150, und P.T. Eden, "Problems in Martial I-III", Mnemosyne 41-43 (1988-90). Das ist bedauerlich, da G. in so mancher Anmerkung (z.B. 279, Anm. 4!) und in den wenigen ‘narrativen’ Passagen seines Beitrags (309f.: "Narratorial Stance") ein hohes Maß an Methodenreflexion erkennen läßt.

Doch Farouk Grewings Beitrag entschädigt für so manche Irritation. Er untersucht Martials poetische Etymologien und erschließt damit für die Martial-Philologie wirklich Neues (316 mit Anm. 5). Nach einem kurzen Forschungsbericht (315–18) analysiert G. zunächst Epigramme zum Themenbereich "Grammatik und Schulunterricht" (318–22); Kernstück des Beitrags ist ein nach 7 formalen Kategorien gegliederter Katalog etymologischer Passagen (322–53). Doch anders als bei Greenwood wird die Mehrzahl dieser Passagen knapp, aber aufschlußreich kommentiert bzw. interpretiert. Die etymologische Lektüre sei, so G. in der Schlußbetrachtung, eine von vielen möglichen Deutungen der Polysemie der Epigramme. "Das Kommunikationsspektrum zwischen Text und Leser wird durch ‘etymologische Kontexte’ sozusagen um eine linguistische Komponente erweitert" (353). Ziel dieser Chiffrierung sei ein intellektuelles delectare, ein gelehrtes Spiel zwischen dem poeta etymologicus und dem lector doctus. Als lector doctissimus ‘outet’ sich G. spätestens mit der etymologischen Interpretation von 1,107,3-6, die seinen Beitrag abschließt

 

 

Hans Peter Obermayer (München)