Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt: Primus Verlag 1999 (bzw.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1999. 412 S. ISBN 3-89678-122-7.

Das vorliegende Werk führt auf ansprechende Weise in die aktuellen Fragestellungen der Mediävistik ein; diese haben in ihrer Hinwendung zu anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektivierungen Entsprechungen in den aktuellen Schwerpunktbildungen der Alten Geschichte. Auch den grundsätzlichen methodischen Erwägungen des Autors ist zuzustimmen, doch hätten sie, da sie als Allgemeingut der Geschichtswissenschaft gelten dürfen, auch weniger pathetisch vorgebracht werden können.

Das zu besprechende Werk ist kein ausgewogener Forschungsbericht, sondern eine Kampfschrift: Ihr Verfasser hat es sich nämlich zum Ziel gesetzt, die gesellschaftliche Relevanz des unter permanentem Antiquiertheitsverdacht stehenden und von der Eliminierung aus den Curricula bedrohten Fachs Mediävistik (besonders in seiner geschichtswissenschaftlichen Ausprägung) zu erweisen und dadurch dessen Existenzberechtigung zu sichern. Da sich die Alte Geschichte wissenschaftspolitisch in einer vergleichbaren Defensivposition befindet, scheint die Besprechung des genannten Werks in einem althistorischen Rezensionsorgan gerechtfertigt. Dies gilt um so mehr, als Goetz über sein zentrales Anliegen hinaus einen epochenübergreifenden Beitrag zum Stellenwert von Geschichtsforschung überhaupt zu leisten beabsichtigt. Herausgekommen ist dabei ein überdimensionierter "Essay" (S. 5), der teils aus der Beteiligung des Autors an Diskussionen innerhalb des Mediävistenverbands, teils aus Lehrveranstaltungen an der Universität Hamburg hervorgegangen ist. Aus diesem Grund enthält der Band auch Beiträge aus der Feder Dritter, nämlich der ehemaligen Assistentin des Verfassers (Hedwig Röckelein) sowie Seminararbeiten Hamburger Studierender (Steffen Patzold, Lorenz S. Benkmann, Jan-M. Sawilla, Anja Romeikat, Markus Späth und Elke Petter). Analysiert werden zum einen "Aufgaben, Entwicklung und Stand der Mediävistik", zum anderen "Neue Ansätze, Themen und Methoden in der Mediävistik".

Zentrales Anliegen des Verfassers ist es dabei, die "Aktualität" des Mittelalters zu erweisen und daraus die gesellschaftliche Relevanz der Mediävistik herzuleiten. Sein Credo lautet dabei, daß Geschichtsschreibung bzw. Geschichtswissenschaft immer zeitgebunden seien, weswegen sie in ihren Herangehensweisen, Perspektiven, Normen und Wertungen wie in ihrer Darstellungsweise gegenwartsspezifischen Interessen Rechnung tragen und zeitgemäße Fragen aufgreifen müßten: In einer solchen "Auseinandersetzung mit dem Problemen der eigenen Zeit und in der wissenschaftlichen Reaktion auf aktuelle Themen erweist sich erst die Relevanz der Mediävistik für die Gegenwart ..."(S. 386).

In concreto sieht Goetz das Aufgreifen gesellschaftlicher Informationsbedürfnisse besonders dort als gegeben an, wo sich die Mediävistik anthropologischen Perspektiven öffnet und kulturwissenschaftliche Probleme und Fragestellungen aufgreift, wenn sie also Tendenzen aufnimmt, die ähnlich auch in der Alten Geschichte festgestellt werden können. Daß Mentalitätsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Psychohistorie oder Alltagsforschung dabei ausführlich abgehandelt werden, verwundert nicht. Doch nennt Goetz auch Beispiele dafür, wie der von ihm geforderte Paradigmenwechsel auch auf den "klassischen" Feldern der Mittelalterforschung zu neuen Erkenntnissen führen könne: etwa, wenn die Verfassungsgeschichte das Funktionieren des politischen Systems bzw. die Verfassungswirklichkeit anstelle der Normen in den Mittelpunkt der Untersuchung rücke, wenn Konflikte als Teil "staatlicher" Ordnung und nicht nur als deren Störung verstanden würden, oder wenn die bekannte mittelalterliche Schenkungspraxis als Variante des aus der Ethnologie bekannten Verhaltensmusters des Gabentauschs interpretiert werde. Denn Goetz verficht die Ansicht, daß die Beschäftigung mit dem Mittelalter dann den meisten Gewinn für die Gegenwart verspreche, wenn man es weniger als eigene Vorgeschichte unter dem Gesichtspunkt von Kontinuität denn als andersartige Welt betrachte. Die Erfahrung von Kontrast und Alterität werden somit als Erkenntnisquelle betont. Bei alledem unterläßt es der Verfasser jedoch nicht, auf den Wert gründlicher und grundlegender Quellenforschung hinzuweisen bzw. deren Vernachlässigung als gefährliche Entwicklung zu brandmarken; auch warnt er vor einer Enthistorisierung eines Mittelalterbildes, das lediglich das Bedürfnis nach Nostalgik befriedige.

Soweit - so gut. Ohne Zweifel hat Goetz es verstanden, einem breiten Publikum die Neuorientierung der Mediävistik zu vermitteln, ja sogar aufzeigen, wie spannend die Beschäftigung mit dem Mittelalter dann sein kann, wenn man sie nicht, wie im Nachkriegsschulunterricht üblich, auf Herrscherjahre und Schlachten beschränkt. Das Mittelalter als faszinierende Epoche erscheinen zu lassen, ist ihm nicht zuletzt deswegen gelungen, weil er sein Buch in gut faßlicher Sprache und ohne professorale Attitüde geschrieben hat. In dieser Vermittlungstätigkeit liegt sein unbestreitbares (und nicht geringes) Verdienst.

Und dennoch hinterläßt sein Werk einen zwiespältigen Eindruck. Dies hat nichts mit den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und den methodischen Bekenntnissen des Verfassers zu tun, wohl aber mit der Art, in der er immer wieder Aufmerksamkeit für seine Person beansprucht (vgl. etwa S. 17, 149). Nun wird man die Tatsache, daß Goetz zu erheblicher Redundanz neigt und zahlreiche Wiederholungen nicht scheut, noch dem Bestreben zurechnen dürfen, in jedem Unterkapitel alle grundlegenden Informationen zu präsentieren und somit auch eine selektive Lektüre des Werks zu ermöglichen. Daß er jedoch bei seinen methodischen Erörterungen mit großer Emphase oft genug nur Selbstverständlichkeiten kundtut, wirkt schon ein wenig kurios. Befremdlich wird diese Attitüde dann, wenn Goetz sich selbst gleichsam zum Prediger in der Wüste stilisiert. Diese Rolle ist nämlich nur dann plausibel zu machen, wenn umgekehrt Teile der Mediävistik mit dem Vorwurf belegt werden, "Hort von Rückständigkeit und Konservatismus" (S. 8) zu sein, bzw. wenn geradezu gebetsmühlenartig die Traditionalität der deutschen Mediävistik beklagt wird, welche offenbar unablässig Gefahr läuft, den Anschluß an die internationale Forschung zu verlieren (S. 84, 89, 122, 125 und passim).

Nun sind solche Zuschreibungen leicht zu verorten, denn sie gehören seit vielen Jahren zur Topik "innovativer" Geschichtsschreibung. Gerade weil es sich aber nicht um eine Zustandsanalyse handelt, wird sich so schnell kein Leser finden, der Goetz den Gefallen tut, ihn für sein Bekenntnis zur Standortgebundenheit von Erkenntnis oder für ähnliche Selbstverständlichkeiten zu tadeln. Weit eher wird er in manchen Kreisen auf Kritik stoßen, wenn er die wissenschaftliche Leistung eines Otto Brunner oder eines Theodor Mayer trotz ihrer Nazivergangenheit würdigt (S. 82) oder wenn er - abgesichert durch die Autorität von Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt - den "Rückgang altsprachlicher Kenntnisse" und "die schwindenden Fähigkeiten im Umgang mit den Historischen Hilfswissenschaften" selbst innerhalb der scientific community zum Problem erklärt (S. 157). So sind es diese wenigen Stellen, an denen Goetz sich bewußt von den herrschenden Trends abkehrt, an denen sein Buch wirklich eigenständiges Format gewinnt.

Christine Reinle (Mannheim)