Jürgen Dummer, Meinolf Vielberg (Hgg.), Leitbilder der Spätantike — Eliten und Leitbilder, Stuttgart: Steiner 1999 (Altertumswissenschaftliches Kolloquium Bd.1), 133 S., ISBN: 3-515-07547-X

In der vorliegenden Publikation sind fünf Vorträge zusammengestellt, die neben anderen, nicht im vorliegenden Band veröffentlichten, im Sommersemester 1998 als Beiträge einerRingvorlesung die Eröffnungsphase des Graduiertenkollegs "Leitbilder der Spätantike", das von den Altertumswissenschaften, der Orientalistik, mediävistischen Fächern sowie den Rechtswissenschaften der Universität Jena getragen wird, begleiteten.

Albrecht Dihle, Literaturkanon und Schriftsprache, 9-30

Werner Eck, Elite und Leitbilder in der römischen Kaiserzeit, 31-55

Ekkehard Mühlenberg, Hiob in der altchristlichen Buchmalerei, 57-78 [+ 15 Abb.]

Heinz-Günther Nesselrath, Die Christen und die heidnische Bildung: Das Beispiel des Sokrates Scholastikos (hist. eccl. 3,16), 79-100

Adolf Martin Ritter, Zur "Realbilanz" der alten Kirchengeschichte: Das Beispiel "Christentum und Sklaverei", 101-122

Mit der Konzentration auf die Spätantike wird eine Epoche verstärkter kultureller Selbstorientierung in den Blick genommen, in der sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage nach Normen und Leitbildern stellt. Traditionelle Orientierung und Innovationsbedürfnis stehen einander gegenüber, zwei Aspekte, die man immer wieder in unterschiedlicher Akzentuierung als Charakteristikum der Epoche herausgestellt hat. [FN1] Der vorliegende Band bietet hier ein ausgewogenes Bild. Die beiden von Vertretern der Klassischen Philologie gehaltenen Vorträge nehmen mit dem Thema der Sprache und Bildung Bereiche in den Blick, in denen eher die beharrenden Tendenzen im Vordergrund stehen. So beschäftigt sich A. Dihle mit der Frage der griechischen Schriftsprache im Kaiserreich, H.-G. Nesselrath mit Problemen der allgemeinen Sozialisation von Christen in die literarische Kultur der Oberschichten. Nesselrath beschäftigt sich dabei mit dem Schuledikt Julians, in dem es christlichen Lehrern verboten wird, Unterricht zu halten, das heißt Grammatik und Rhetorik zu lehren. Dihle dagegen ordnet seine besondere Betrachtung in den größeren Kontext der Kaiserzeit ein. Einen weit gespannten, erst mit der Spätantike endenden Überblick über die Entwicklung der Selbstdarstellung der senatorischen Elite von der späten Republik bis zur Kaiserzeit bietet der Althistoriker W. Eck. Hier tritt die Frage des Wandels von Wertvorstellungen in den Vordergrund, den Eck luzide anhand ausgewählter Inschriften bis zur Spätantike darstellt. Soweit wurden die im Untertitel des Bandes angesprochenen Eliten und ihre Leitbilder untersucht, wobei der Begriff Leitbild eine weite Ausdehnung erfuhr. Dihle stellte eine kanonische Sprache, Nesselrath die mit der Schule verbundenen Vorgaben für Stoff- und Lehrerauswahl, Eck soziale Normen und Wertvorstellungen in den Vordergrund. Die letzten beiden theologischen, bzw. kirchengeschichtlichen Fragestellungen gewidmeten Beiträge führen dies einerseits fort, indem eine Verhaltensvorgabe wie die christliche Position gegenüber dem Sklavenproblem untersucht wird (A.-M. Ritter). Andererseits stellt der Beitrag von E. Mühlenberg am Beispiel der Figur des Hiob in der spätantiken Buchmalerei den Aufbau eines Leitbildes und damit den Komplex des Exemplums in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Zugleich verlassen beide die Eliten als sozialen Bezugsrahmen und bleiben sozial unbestimmt.

 

Die einzelnen Beiträge umkreisen in höchst unterschiedlicher Weise den Leitbild-Begriff und beziehen mehr oder weniger explizit ihre Überlegungen auf das Oberthema. So geht Dihle vom Kanonbegriff aus, den er kurz zu Beginn (10) definiert: "Es geht im folgenden um die Entstehung und Wirkung eines Kanons. Dabei soll das Wort Kanon, wie seit dem 18. Jh. geläufig, ein abgeschlossenes Schriftenkorpus von autoritativer Geltung bezeichnen." Auch Eck betont, daß er von einem Zeichensystem sozialer Distinktionsmerkmale ausgeht, von dem er ein Segment herausnimmt. Die übrigen Beiträge überlassen es aber eher dem Leser, einen systematischen Bezug zum Thema herzustellen. Dies liegt in der Natur der Ringvorlesung, es wäre jedoch wünschenswert gewesen, wenn die Herausgeber eine grundsätzliche, systematisierende Einleitung zum Leitbildgedanken vorausgeschickt hätten, auf die man die Einzelvorträge dann hätte beziehen können. Fragen der Personifikation von Wertvorstellungen, der Konstruktion und Vermittlung von Normen und andere Probleme theoretischer Natur hätten hier behandelt werden können. Auch der Elitebegriff sollte eine genauere Definition erfahren dürfen.

Der Sprache als Norm, dem "eigentümlichen Phänomen der griechischen Zweisprachigkeit" (9) ist der Vortrag von Albrecht Dihle mit dem Titel "Literaturkanon und Schriftsprache" gewidmet. Er resümiert damit langjährige Forschungen und bietet einen souveränen Überblick über Fragen der Entwicklung des Kanons der griechischen Schriftsprache von der Zeit des Hellenismus bis in die Spätantike. Dihles Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Vorgeschichte, in der er die Entstehung des klassizistischen Autorenkanons im Hellenismus, des griechischen Klassizismus und des Phänomens des Attizismus in der römischen Republik und Kaiserzeit behandelt. Es entsteht ein sehr differenziertes Bild von einer Bildungssprache, die gleichsam neben der alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit ihre Bedeutung entfaltet: "Die literarische Prosa entfernte sich damit von der Sprache der alltäglichen Kommunikation."

Doch hatte diese Entwicklung auch inhaltliche Konsequenzen. Das mit ihr verbundene anachronistische Bild von der Welt, wie es sich z. B. in der Beschreibung Griechenlands durch Pausanias oder in der Differenz zwischen alltagspraktischem und bildungsmäßig-literarischem Indienbild niederschlägt, wird vorzüglich von Dihle skizziert. Illustrativ vergleicht Dihle letzteres mit einem Amerika-Bild, das sich ausschließlich auf die Lektüre des Lederstrumpf gründen würde. Damit werden die Wirkungen eines sprachlich-literarischen Leitbilds deutlich, die freilich ausschließlich ein Phänomen innerhalb des Bewußtseins der Gebildeten, d.h. der Eliten darstellen. Wenngleich Dihle mit einer auf Hans Lietzmann zurückgehenden Charakterisierung der Spätantike einsetzt, bleibt die Anbindung an den Bereich der Spätantike äußerlich. Gleichsam ausblickhaft kommt er im letzten Drittel auf diese Epoche zu sprechen. Hier berührt er (23, A. 26) z. B. das Verhältnis griechischer Kirchenväter zum literarischen Kanon und zur Bildungssprache. Sehr wertvoll sind die Beispiele, in welcher Weise Schulsprache und alltägliche Schriftsprache voneinander abweichen (24 ff.), zu den kurz berührten Unterschieden zwischen westlicher und östlicher Schulsprache (Seite 27 ff.) hätte man gerne mehr gehört. Insgesamt aber genießt man den eindrücklichen und anregenden Überblick, der in Kürze eine beeindruckende Synthese eines komplexen Problems darstellt.

Ganz ähnlich ist der Beitrag W. Ecks mit dem Thema "Elite und Leitbilder in der römischen Kaiserzeit" gehalten. Auch hier bildet die Spätantike eher den Schlusspunkt einer dargestellten Entwicklung. Anhand äußerst instruktiver Inschriften zeichnet Eck nach, in welcher Weise "indirekt auch Leitbilder deutlich werden, Normen, die einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, vor allem der Elite eigen waren" (32). Eck zieht hierfür vor allem Grab-, aber auch Bau- und Ehreninschriften heran und vermag dabei zu zeigen, wie in der Republik und auch noch lange in der Kaiserzeit die stete Dokumentation des cursus honorum die Bedeutung des Engagements für die res publica als wichtigen Bestandtteil des Selbstverständnisses der Führungsschichten deutlich machen soll. Die grosse Bedeutung des Engagements für das Gemeinwesen wird unterstrichen durch Ecks Beobachtung, dass bei Frühverstorbenen das erreichte Alter mitgeteilt wird, um dadurch dem eventuellen Vorwurf mangelnder Einsatzbereitschaft zu begegnen. In republikanischer Zeit wurden auf Grabinschriften vollständig alle vom Verstorbenen bekleideten Ämter aufgeführt, zu Lebzeiten eines Geeehrten verfasste Inschriften boten nur den Verweis auf das jeweils zuletzt bekleidete Amt. Beispiele aus der unter Claudius gegründeten mauretanischen Stadt Volubilis zeigen, dass sich die Praxis des vollständigen cursus honorum in Grabinschriften auch in den Provinzen durchgesetzt hatte (37f.).

Allerdings ist festzustellen, dass sich im Bereich allgemeiner Ehreninschriften in augusteischer Zeit ein Wandel vollzieht. Man begnügte sich nämlich nicht mehr damit, das letztbekleidete Amt zu nennen, sondern übernahm die bei Grabinschriften geübte Praxis, alle Ämter aufzuzählen. Eck vermutet hier (44f.) zwei Ursachen für den Wandel. Einerseits sei es denkbar, dass mit der Aufzählung der Ämter die Nähe zum Kaiser als letztendlicher Quelle der Ehrung unterstrichen werden sollte. Andererseits vermutet Eck den Einfluss des Augustus. Dieser hatte auf dem forum Augusti statuae triumphales für einzelne Senatoren aufstellen lassen, auf deren Basis sich nicht nur ein elogium mit Nennung der zur Ehrung führenden Taten, sondern auch der vollständige cursus honorum befand. Diese Praxis setzte sich dann offenbar als Modell auch für Ehreninschriften, die noch Lebenden gewidmet waren, durch und ist auch bei Bauinschriften zu finden (48).

In jedem Fall wird deutlich, dass die damit unter Beweis gestellte Verbundenheit der Führungsschichten mit Kaiser und res publica ein Charakteristikum senatorischer Selbstauffassung waren. Dahinter mussten persönliche Eigenschaften und Besonderheiten wie private Tugenden, Bildung o. ä. zurücktreten.

Ein Wandel lässt sich erst im Laufe des 3. Jahrhunderts erkennen, als Senatoren in zunehmendem Maße von den lange ausgeübten militärischen Befugnissen ausgeschlossen werden. Die Beschränkung auf den zivilen Bereich führte zur Umorientierung in der Selbstdarstellung. Gerade literarisch-rhetorische Bildung begegnet jetzt als Attribut von inschriftlichen Personencharakterisierungen. [FN2] Neben Tugenden wie moderatio und iustitia konnte nun eine admirabilis eloquentia genannt werden (CIL VI 32051). "Die normierende und prägende Kraft der res publica als alleiniger Bezugspunkt eines Mitglieds der Elite hatte ihre Selbstverständlichkeit verloren" (55).

Eck bietet hier eine klare Einführung in den Bereich senatorischen Selbstverständnisses in der Kaiserzeit, wenngleich er sich – erklärtermaßen – auf ein Segment beschränkt. Er ergänzt damit Arbeiten, die speziell der Spätantike gewidmet sind.

H.-G. Nesselrath beschäftigt sich in seinem Vortrag (Die Christen und die heidnische Bildung: Das Beispiel des Sokrates Scholastikos (hist. eccl.3,16) ausschließlich mit der Spätantike. Er geht aus von dem Schuledikt Julians aus dem Jahre 362, das mit seiner Forderung, Christen dürften nicht als Lehrer im von traditioneller Literatur bestimmten Schulbetrieb tätig sein, nicht nur Widerstand bei den Christen, sondern auch bei den Heiden (Ammianus Marcellinus) gefunden hat. Obwohl das Gesetz kurz nach dem baldigen Tod des Kaisers wiederaufgehoben wurde, hat es dennoch in der innerchristlichen Diskussion um christliche Identität und traditionelle Bildung seine Spuren hinterlassen, wenn ihm Nesselrath auch eine zu große Bedeutung einräumt. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht (87ff.) die von Sokrates Scholastikos in seiner Chronik überlieferte Kommentierung des Ereignisses, die dadurch eine besondere Bedeutung erhält, dass Sokrates sie zum Anlass nimmt, die Wichtigkeit traditioneller formaler Bildung für die christliche Elite zu erörtern. Die ablehnende, in apologetischer Tradition stehende Haltung wird einer bejahenden, von Sokrates geteilten gegenübergestellt. Zweifellos zielt gerade Nesselraths sorgfältige Analyse dieses Abschnitts auf das Rahmenthema der Ringvorlesung, die Frage des Leitbilds. Eine genauere und explizite Bezugnahme unterbleibt jedoch zugunsten einer sehr textnahen Nachzeichnung und Kritik des Gedankengangs sowie einer Nennung möglicher Quellen der Passage. Gerade am Beispiel der Apollinarioi – deren Versuch einer Bibeltransskription im Stil der Schulautoren Homer, Menander und Euripides, aber auch Platons und Pindars Nesselrath im Gegensatz zu Speck (80, A. 6) als historisch ansehen möchte – hätte sich die Leitbildfrage und das christliche Dilemma wie auch das des Julian erläutern lassen. Zweifellos wurde die formale Unterweisung von den meisten Christen als notwendig angesehen. Selbst Tertullian machte hier keine Ausnahme. Ein wesentliches Problem ergab sich allerdings durch die Tatsache, dass die Bindung eines bestimmten Inhalts wie der Mythologie, Philosophie, erotischer Motive o.ä. an die für die Vermittlung der formalen sprachlichen Norm wichtigen Kanonautoren die Christen mit nicht grundsätzlich legitimierten Sujets konfrontierte (hier z. B. Sokr. hist. eccl. 3,16,8). Angesichts dieser Situation wird seit dem Ende des 4. Jh.s erneut eine alte apologetische Fragestellung aufgegriffen, die Nesselrath mit vielen Beispielen belegt. [FN3] An ihr hatten sich im Sinne des Sokrates auch die beiden großen Kirchenväter Gregor von Nazianz und Basileios d. Gr. beteiligt, wobei sie im Gefolge des Origines heidnische Inhalte als notwendiges Wissen zu rechtfertigen versuchten. Jedoch wurde gegen Ende des 4. Jh.s die formale, nicht die inhaltliche Seite der traditionellen Literatursprache zum Diskussionsgegenstand. Wenn auch hier Ansätze in der älteren Apologetik erkennbar sind, handelt es sich eher um eine Diskussion aus dem Geiste der Askese, für die die Sprache der Fischer, nicht die rhetorisch ausgefeilte Kommunikationsweise der Elite verbindlich sein sollte. In diesen Zusammenhang des problematisierten sermo gehört im lateinischen Bereich der Traum des Hieronymus (epist. 22,30). [FN4] Das Christentum der Spätantike hatte also mit mehreren pädagogischen Fragen zu kämpfen, wobei es nie zur Konzeptionalisierung einer christlichen Schule kam. In diese Lehrplan- oder Normdiskussion führt Nesselrath seine Leser ein. Es fehlt allerdings eine stärkere Differenzierung zwischen der Situation an der Wende des 4. zum 5. Jh. gegenüber der älteren Apologetik. Leitbild- und Normenfrage hätten sich so in zwei grundsätzlich verschiedenen historischen Situationen schärfer fassen lassen können.

Ebenfalls implizit behandelt der Beitrag des Patristikers A. M. Ritter (Zur "Realbilanz" der Alten Kirchengeschichte: Das Beispiel "Chistentum und Sklaverei") die Leitbildfrage. Es geht um die Frage, welche Position das Christentum gegenüber der Sklaverei beziehen sollte. Ritter unternimmt es, am Beispiel des Augustinus und des Johannes Chrysostomos zwei grundsätzlich verschiedene Standpunkte zu aufzuzeigen. Er bekräftigt dabei die Auffassung von einer stärker sozial engagierten Position des Johannes Chrysostomos, der die "Herrschaft des Menschen über Menschen ... als Sünde oder vielmehr als Sündenfolge" (115) kritisierte. Augustinus dagegen lehnte äußerst klar ab, "daß es von der ‘Freiheit in Christo’ her zu einer Sklavenemanzipation kommen müsse" (121). Ritter erörtert die Stellungnahme des Augustinus im Zusammenhang mit der in De civitate Dei formulierten Grundauffassung, dass der Gottesstaat eben innerhalb der civitas terrena seinen Weg machen müsse. Daraus ergebe sich keine Forderung nach der Gestaltung der irdischen Existenz in völliger Übereinstimmung mit den Idealen der himmlischen civitas. So akzeptierte Augustinus prinzipiell die weltliche Ordung (vgl. civ. 19,15: De libertate naturali et de servitute ...). Ritter zeigt damit zwei Pole einer kirchlichen Normendiskussion und kann zu Recht einer vereinfachenden Verurteilung des Verhaltens der Kirche als unterdrückerfreundlich o. ä. entgegentreten.

Zugleich führt Ritter zur Verdeutlichung den konkreten Fall des Callixtus an, der Ende des 2. Jh.s aus dem Dasein eines christlichen Sklaven im Besitz eines christlichen Herren zur Freiheit gelangte und schließlich sogar zum Papst gewählt wurde (Hippolytus ref. IX 12,1-13). [FN5] Hiermit läßt sich die Konfkliktlage hervorragend erläutern.

Ritters Beitrag besitzt allerdings noch eine weitere Stoßrichtung. Er ordnet die speziell der Spätantike gewidmeten Überlegungen in die generelle Fragestellung des Umgangs mit der polemischen Kritik am Christentum ein, wie sie z. B. durch K. Daschner (Kriminalgeschichte des Christentums Bd. 1-5, Reinbek 1988) geübt wird. Gerade hier werden an die christliche Kirche oft Maßstäbe angelegt, die (mit Augustinus gesprochen) der himmlischen civitas entstammen, deren Nichtbeachtung dann aber zur Demaskierung der oft brutalen weltlichen Seite der Kirche instrumentalisiert wird. Hier hebt Ritter – gerade am Beispiel der Sklavenfrage – hervor, dass man auch im frühen Christentum nicht von einer sozialrevolutionären, auf völlige Gleichheit der Menschen in der Welt gerichteten Stoßrichtung ausgehen darf. Ritter entwirft dagegen das differenzierte Bild einer Diskussion um Normen und Leitgedanken innerhalb der spätantiken Kirche bei der Behandlung der Sklavenfrage. Freilich verschweigt Ritter nicht die aggressiven Konsequenzen in der Zeit des Kolonialismus seit dem 16. Jh.

E. Mühlenberg steuerte für den vorliegenden Band den durch einen großen Abbildungsteil am umfänglichsten geratenen Beitrag bei. Er behandelt unter dem Titel Hiob in der altchristilichen Buchmalerei die bildliche Darstellung des Hiob in mittelalterlichen Handschriften. Der kunsthistorisch und kodikologisch ausgerichtete Vortrag widmet sich also im doppelten Sinne der Leitbildfrage, einerseits als materiell konkretem Bild, andererseits als Verdichtung moralischer Vorgaben im Exemplum. Hiob ist das Paradebeispiel des gerechten Dulders. Seine Geschichte muß in den christlichen Gemeinden durch Vorlesen und Nacherzählungen allgemein bekannt gewesen sein; dies belegen auch die vielen Darstellungen in den Katakomben. Doch haften dem Exemplum Hiobs Mehrdeutigkeiten an – Mühlenberg spricht (58) von "Doppelbödigkeit". Leiden und Gerechtigkeit widersprechen nämlich einander. So wurde gerade an der Figur Hiobs früh die Frage diskutiert, warum denn der Gerechte leiden muß. Es war vor allem wohl der Aspekt menschlichen Leides bei gleichzeitiger Tugendhaftigkeit, was die Verwendung der Hiobsgestalt auf Sarkophagen, z. B. dem des Junius Bassus (60), nahelegte.

Das besondere Interesse Mühlenbergs richtet sich allerdings auf die Buchmalerei (60-78). So bespricht er die verschiedene bildliche Gestaltungen der Hiobsgeschichte in Handschriften, die illustrierte Rand- bzw. Textkatenen enthalten. Die herangezogenen Zeugen entstammen dem Zeitraum vom 8. bis 12. Jh. und bieten jeweils eigene Akzentsetzungen. Zugleich beachten die Künstler eine gemeinsame Grundausrichtung, was Mühlenberg dazu veranlaßt, neben die philologische Rekonstruktion eines Archetyps durch U. und D. Hagedorn [FN6] Überlegungen zur Bildgestaltung einer Urhandschrift zu stellen. Doch bleiben diese recht schemenhaft, zumal die detailierte Bildbeschreibung und -analyse der Einzelhandschriften nicht adäquat durch die optische Qualität der beigegebenen Abbildungen unterstützt wird.

Man erfährt viel zur Organisation von Text und Bild in der Textsorte der illustrierten Randkatenen, gerade die kodikologischen Hinweise sind instruktiv. Allerdings hätte man sich eine zusammenfassende, klärende Würdigung der Einzelpunkte, gerade zur Bedeutung der Doppelbödigkeit und ihrer Aufnahme in der Bildgestaltung, gewünscht.

Ulrich Eigler (Trier)

 

[FN1] Man neigt in letzter Zeit dazu, nicht den Charakter der Spätantike als Spätzeit zu akzentuieren, sondern die innovative Bedeutung dieser Übergangsepoche zu betonen. Stellvertretend sei genannt: B. Brenk (Hg.), Innovation in der Spätantike, Wiesbaden 1996.

[FN2] Vgl dazu: P. Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der Kunst, München 1995, 253ff.

[FN3] Zur Frage des "rechten Gebrauchs" heidnischer Autoren grundsätzlich: Chr. Gnilka, "Chresis" Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur I.Der Begriff des "rechten Gebrauchs", Basel 1984.

[FN4] Zum gesamten Zusammenhang eines traditionellen und christlichen Diskurses vgl. z.B.: Av. Cameron, Christianity and the Rhetoric of Empire, Berkeley-Los Angeles-Oxford 1991; P. Brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike, München 1995; M. Banniard, Europa von der Spätantike zum frühen Mittelalter, München 1993, 80ff. ("Mönchtum und Latinität").

[FN5] Der gekürzte Text ist auf Griechisch und in deutscher Übersetzung leicht zugänglich bei: P. Guyot, R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen II: Die Christen in der heidnischen Gesellschaft, Darmstadt 1998, 132-137.

[FN6] U. und D. Hagedorn, Die älteren griechischen Katenen zum Buch Hiob, Berlin 1994 (=PTS 40).