Hartwin Brandt (Hg.), Gedeutete Realität. Krisen, Wirklichkeiten, Interpretationen (3.-6. Jh. n. Chr.), Stuttgart: Steiner 1999 [= Historia Einzelschriften 134]

Die Verfasser untersuchen die Formen der Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit bei spätantiken Autoren des 3. bis 6. Jh. n. Chr. Sie machen verschiedene "Fiktionalisierungstechniken" aus, die die Autoren verwenden, um die Komplexität ihrer als krisenhaft empfundenen Zeit zu reduzieren.

H. Brandt, Einführung, 9-11

M. Zimmermann, Der Verlust und die Neuerfindung von Wirklichkeiten: Zur Geschichtsdeutung und Darstellung bei Herodian, 13-46

B. Bleckmann, Die Schlacht von Mursa und die zeitgenössische Deutung eines spätantiken Bürgerkrieges, 47-101

H. Leppin, Steuern, Aufstand und Rhetoren. Der Antiochener Steueraufstand von 387 in christlicher und heidnischer Deutung, 103-123

H. Brandt, Gedeutete Realität? Spätantike Heiligenviten, heidnische Wirklichkeit und klassische Tradition, 125-140

H. Brandt, Epilog, 141f.

In der Einführung (9-11) stellt H. Brandt (B.) das Konzept der Untersuchung vor. Grundlegend ist danach die Überlegung, daß die spätantiken Autoren stets einen "intentionalen" Zugriff auf Geschehnisse nehmen und es ihnen damit keineswegs um "objektive" Darstellungen geht. Das zeigt sich nach B. u.a. darin, daß sie sich nicht mit der "Totalität" der Wirklichkeit beschäftigen, sondern sie selektiv wahrnehmen und jeweils in einer spezifischen Weise interpretieren. Sie geben damit nicht die Wirklichkeit wieder, sondern konstruieren eine ganze Reihe verschiedener Wirklichkeiten. Dadurch entsteht gemäß B. ein Spannungsverhältnis von res factae und res fictae, das die Verfasser in den Blick nehmen möchten. Ihr Untersuchungsgegenstand sind ausgewählte Schriften christlicher wie nichtchristlicher Autoren aus beiden Reichsteilen, die sich in ganz unterschiedlicher Manier mit ihrer Zeit, die sie sämtlich als krisenhaft begreifen, auseinandersetzen.

Zunächst fragt M. Zimmermann (Z.) in Der Verlust und die Neuerfindung von Wirklichkeiten: Zur Geschichtsdeutung und Darstellung bei Herodian (13-46), welche Darstellungsabsichten der Historiograph mit seinem Werk verfolgt und wie sich diese in seiner Geschichtsbetrachtung niederschlagen. Er arbeitet heraus, daß der Autor vornehmlich bestrebt ist, in der Tradition antiker Fürstenspiegel allgemeine Gesetzmäßigkeiten guter und schlechter Herrschaft aufzuzeigen und diese an den Beispielen römischer Kaiser zu explizieren. Seine Betrachtungsweise ist damit nach Z. im wesentlichen unhistorisch. Sie ist geprägt durch normative Kriterien und das Bedürfnis, die Kaiser der eigenen Zeit mit Hilfe dieser Exempla ethisch zu unterweisen, um sie so zu besseren Herrschern zu machen. Z. deutet dieses Vorgehen Herodians als Reaktion auf die häufigen Herrscherwechsel im 3. Jh. n. Chr. und einen Versuch, die Krise seiner Zeit zu überwinden.

Daraufhin beschäftigt sich B. Bleckmann (B.) in Die Schlacht von Mursa und die zeitgenössische Deutung eines spätantiken Bürgerkrieges (47-101) mit der Frage, wie der Konflikt zwischen Magnentius und Constantius II. von den Zeitgenossen wahrgenommen und interpretiert wurde. B. arbeitet hier verschiedene Deutungsformen heraus: die kaiserliche Interpretation, die v.a. in der ersten und dritten Rede Kaiser Julians zum Ausdruck kommt, die christliche Perzeption in arianischen wie in orthodox geprägten Quellen und die Sicht römischer Senatoren. Er zeigt auf, daß der Konflikt in der kaiserlichen Reflexion der römischen Tradition gemäß als bellum iustum - nicht als Bürgerkrieg - präsentiert und Constantius als rechtmäßiger Sieger verstanden wird. Die Christen gelangen nach B. zu einer sehr unterschiedlichen Sicht der Ereignisse, die durch ihren jeweiligen konfessionellen Standpunkt geprägt ist: Die arianischen Christen verstehen sie als Pendant zur Schlacht an der Milvischen Brücke, die orthodoxen hingegen sprechen dem Sieg des Constantius jeden wundersamen Charakter ab. In senatorischen Kreisen wird die Auseinandersetzung mit Rekurs auf die republikanische Bürgerkriegstopik dargestellt und entsprechend scharf verurteilt. Alle Gruppen, die sich mit der Thematik beschäftigen, wenden gemäß B. bekannte Interpretationsmuster an, um Begebenheiten, die sie als historisch bedeutsam begreifen, die sie aber (noch) nicht adäquat deuten können, in einer für sie befriedigenden Weise zu verarbeiten.

Am Anschluß daran untersucht H. Leppin (L.) in Steuern, Aufstand und Rhetoren. Der Antiochener Steueraufstand von 387 in christlicher und heidnischer Deutung (103-123), wie Johannes Chrysostomos und Libanios dieses einschneidende Ereignis interpretieren. Er zeigt, daß der Bischof in seinen "Statuenpredigten" an den politischen Details keinerlei Interesse zeigt, daß er die Geschehnisse vielmehr einer umfassenden christlichen Deutung unterzieht. Die Darstellung des Libanios hingegen blendet nach L. alle christlichen Elemente aus. Er deutet die Ereignisse auf der Folie der kaiserzeitlichen Stadt mit ihren lokalen Eliten. Nach L. stoßen hier eine christliche Konzeption Antiochiens, die auf die Zukunft der Stadt deutet, und eine pagane, die noch an der Vergangenheit orientiert ist, aufeinander. Die beiden Autoren konstruieren damit grundlegend verschiedene Wirklichkeiten.

H. Brandt (B.) geht dann in Gedeutete Realität? Spätantike Heiligenviten, heidnische Wirklichkeit und klassische Tradition (125-140) der Frage nach, welche Rolle die Auseinandersetzung mit der paganen Religion in Heiligenviten im Westen des Reiches spielt. Er zeigt auf, daß die heidnische Religion, obwohl sie im Westen noch stark verbreitet ist, in diesem christlichen Genre weitestgehend ausgeblendet wird, und das trotz der Tatsache, daß die Autoren selbst offenkundig in der traditionellen antiken Bildung geschult sind.

Im Epilog (141f.) schlägt H. Brandt (B.) noch einmal einen Bogen zur Einleitung und verdeutlicht, wie die untersuchten Beispiele die eingangs formulierten Überlegungen verifizieren. Er weist überdies darauf hin, daß die Ergebnisse sich mit den Beobachtungen P. Browns decken, der in der Spätantike eine "Ideologie des Schweigens" ausgemacht hat, die u.a. darin zum Audruck komme, daß die noch vorhandenen paganen Elemente in christlichen Texten bewußt verdeckt werden (vgl. P. Brown, Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem "christlichen Imperium", München 1995, 166ff.). Neben diesem Phänomen ermitteln die Verfasser eine ganze Reihe weiterer "Fiktionalisierungstechniken" in den Texten, mit denen die spätantiken Autoren sehr unterschiedliche Wirklichkeiten konstruieren und die ihnen helfen, die Komplexität ihrer als krisenhaft erlebten Zeit zu reduzieren.

Das besondere Verdienst dieses außerordentlich anregenden Bandes besteht darin, daß die alte Frage nach Subjektivität, Intentionalität und Zeitgebundenheit der Autoren einmal nicht vorrangig unter quellenkritischen Gesichtspunkten diskutiert wird. Die Apperzeption von Wirklichkeit durch antike Autoren wird nicht zu dem Zweck untersucht, sie anschließend um so effektiver ausblenden und sich dann in objektivistischer Manier der "eigentlichen" Realität zuwenden zu können. Sie wird vielmehr für sich genommen als historisches Phänomen und damit als für die historische Forschung würdiges Sujet verstanden.

Vergleichbare Untersuchungen ließen sich zu vielen antiken Autoren der unterschiedlichsten Epochen der griechischen und römischen Geschichte mit Gewinn durchführen. Sie könnten dazu verhelfen, den Aussagewert literarischer Quellen besser zu bestimmen und ihre Bedeutung insbesondere für mentalitäts- und kulturgeschichtliche Untersuchungen adäquater einzuschätzen.

 

Karen Piepenbrink (Mannheim)